Ich habe mir oft gedacht, daß die sichtbare Welt eine vergessene Sprache sei, ein Kode, zu dem wir den Schlüssel verloren haben.Die Bilderwelt Paul Uwe Dreyers ist konkret und vielfältig, offen und verschlossen, in ihrer Entwicklung und ursprünglichen Herleitung von architektonischen Grundformen konsequent und konstant. Ausgegangen von sichtbarer Wirklichkeit, macht sie heute ästhetische Wirklichkeit einsehbar und verschließt sie zugleich. Sie ist world in progress und hat mit der Serie der "Sterne" und der "Afrikanischen Serie", eingeschlossen die nicht nur werkgenetisch wichtigen "Zeilenzeichnungen", eine entscheidende Wende genommen dadurch,daß sich Dreyers Bildwelt zunehmend als Werk aus Bildern darstellt, daß seine Bilder BildBilder sind in der Weise, in der sie das Bild-im-Bild-Prinzip (Dreyer) nicht nur formal praktizieren, sondern immer konsequenter thematisieren.
Jean Tardieu
Es ist in der inzwischen umfänglicheren Literatur über Paul Uwe Dreyer vieles bereits festgeschrieben, auch wiederholt worden, insbesondere über sein Arbeiten in Serien, die stets zugrunde gelegten, von Serie zu Serie wechselnden Raster, eine spezielle Anverwandlung und unverwechselbare Fortführung konkreter Bildvorstellungen, die zunehmende Intensität und Spannung seiner Malerei, sein fast analytisches Entwerfen möglicher Bildwelten in einem Wechselspiel von Fläche, Form und Farbe. Es scheint aber übersehen worden zu sein, daß es seit Anfang an in diesem sich scheinbar gradlinig fortentwickelnden Werk immer wieder kleinere Zäsuren gibt dort, wo Dreyer seine ästhetischen Fragen gleichsam auf einer Metaebene erneut stellt, wobei seine präzisen Serienbezeichnungen bereits Hinweise geben. Wenn den "Zeichenvariationen" z.B. die "Teilungen" und denen wiederum die "Flächensegmente", die "Abschnitte". die "Verschränkungen", die "Zonenbilder" und "Segmentabfolgen" folgen. In dieser Chronologie schließen nicht die Serie der "Sterne" und die "Afrikanische Serie", sondern de "Zeilenzeichnungen" an, sind "Sterne und "Afrikanische Serie" wie die Serien der "Landschaftslinien" und "Honzonte", die Serie "Ganga" entscheidende Varianten und zugleich Höhepunkte des sich fortschreibenden Werks.
Das aufregend Neue in den
Bildern Dreyers seit 1987 ist für mich jetzt die doppelte Funktion
des Rasters, einmal und wie bisher als dem Bild zugrunde gelegte Ordnung,
mit der das Bild selber dann immer wieder spielt, zum anderen als Konturierung
eines dem Bilde eingeschlossenen Bildes, in der "Sterne"-Serie etwa als
ein dem Quadrat eingeschnebenes, auf der Spitze stehendes Quadrat, das
bei dem zugrundegelegten
Viererraster sich zugleich
aus vier Diagonalen der durch waagerechte und senkrechte Mittelachse gebildeten
Quadrate zusammensetzt.
Aber das ist nur das eine. Das zweite ist, daß es Dreyer auf diese Weise gelingt das "Bild-im-Bild-Prinzip" auf doppelte Weise durchzuspielen. Einmal, indem Dreyer mit seinen Farbflächen und Farbsstreifen Quadrat und eingeschriebenes Quadrat, Bild gegen Bild ausspielen und dialektisch miteinander spielen lassen kann, zum anderen, indem die Diagonalen des Ausgangsquadrats den Eindruck erwecken, als sei die Begrenzung durch das Bildformat nur scheinbar, als träfen im Mittelpunkt des Bildes gleichermaßen vier auf der Spitze stehende Quadrate zusammen, die, vollständig gedacht, wiederum ein auf der Spitze stehendes Quadrat bilden würden, in das das sichtbare Quadrat seinerseits eingeschrieben wäre. Es ist also nicht nur das "Bild-im-Bild-Prinzip", das die "Sterne"-Serie so spannend macht, die sechs Einzelbilder dieser Serie gewinnen ihre Spannung zusätzlich dadurch, daß sie imaginierbaren Bildern eingeschrieben scheinen. der Bildumraum also eine mitentscheidende Rolle spielt.
Wenn Dreyer in den folgenden "Zeilenzeichnungen" und der im Raster entsprechenden "Afrikanischen Serie" das eingeschriebene Ouadrat dreht, so daß es nun parallel zur quadratischen Bildform steht, ist eine solch imaginäre Bildentgrenzung nicht mehr möglich. Er mußte also - wollte er das Spannungsniveau halten - anders ansetzen und tut dies auch. Gingen seinen bisherigen Serien grobe Skizzierungen der Bildidee und dann bereits eine sehr exakt durchgeführte Skizze voraus (siehe die entsprechenden Abbildungen in den Katalogen), hat Dreyer seine neue Bild- und Serienidee erstmals, wenn ich es recht sehe. in einer Folge von selbständigen Zeichnungen, eben den "Zeilenzeichnungen" durchgespielt. Diese bereits von ihrer Titulatur her programmatischen "Zeilenzeichnungen" füllen mit ihren farbigen Linien und reduzierten Flächen nicht mehr den ganzen Bildgrund sondern sind in ihm, im Wechselspiel mit den zwei Ouadraten und dem zugrundegelegten Raster, einkompontert in einer Weise, die jetzt das Spiel der Linien dominant macht (eben: Zeilenkomposition), ein Spiel von Vertikalen, Horizontalen und vor aIlem Diagonalen. Dieses grafische Verfahren wird nun in der "Afrikanischen Serie" auf das Bild übertragen, in einer dem grafischen Moment dieser Serie entsprechenden grauen Fläche, die, wo sie das Weiß der Grundierung sichtbar läßt, die Grundierung als weiße Linie ins Spiel der Linien und der ein Raster andeutenden oder vortäuschenden schwarzen Striche einbezieht ("Afrikanische Serie. 2).
Wähle ich aus Dreyers
"Afrikanischer Seije" für mein Imaginäres Museum jetzt
das erste Bild, geschieht dies, weil es den neuen Ansatz am deutlichsten
und konsequentesten zeigt. Das kompositorisch auch hier angewandte "Bild-im~Bild-Prinzip"
ist weniger ins Auge fallend als bei den anderen Bildern der Serie, angedeutet
durch eine mittelgraue Farbfläche rechts oben, durch eine Rahmenhalbierung
(gelb) rechts
oberhalb und eine versetzte
Rahmenhalbierung (dunkelgrau/hellblau) links ober- und unterhalb der waagerechten
Mittelachse. Da der Rahmen unten ausgespart bleibt bzw. - anders gesagt
- nur als Leerstelle wahrgenommen werden kann, bekommt das zentral eingeschriebene
Lineament mit seinen spitzen und stumpfen Winkeln etwas Schwebendes, das
der Statik des angedeuteten Rahmens ebenso kontrastiert wie dem angedeuteten
Raster (das im Binnenbild mit seinen 2mal 3 Feldern ober- und unterhalb
der Mittelachse dem Raster der "Segmentabfolgen" entspricht). Die Zeilenzeichnung
der Diagonalen durchkreuzt dabei ein, zwei oder drei Rasterfelder und wird
zugleich zusammengehalten durch eine breite grüne Mitteldiagonale
von rechts oben nach links unten. Dieser neuen Dialektik von Grafik und
Biid entsprechen formal die in der
Werkentwicklung von Dreyer
erarbeiteten Wechselbezüge von Farbe und Form, von Lineament und Fläche,
von Bild und Rahmen, jetzt aber in einem dem Quadrat kontrastierenden Dreikang
von Raster, Rahmen und Bild. von Fläche, Linie und Strich, der sich
auch in der Farbmodulation und -setzung wiederholt (hell-, mittel-, dunkelgrau;
blau, grün, gelb; rot, orange, gelb). Im Wechselspiel von fertig zu
denkendem aber nicht durchgemaltem Bild (= nur angedeuteter Rahmen), von
klarer Form und stets abgetönter Farbe, von Linie und Fläche
spannen sich die einzelnen Bildelemente gegeneinander, halten sich in Spannung
und Gleichgewicht, wobei in der Bildwelt Dreyers alles auch Bildelement
ist: das Ausgangsformat wie das eingeschriebene Bildformat wie das Raster,
die Andeutung wie die Durchführung, die Linie wie die Fläche,
die Farbe wie die Form. Weniger nüchterne Mathematik (wenn es auch
manchmal so scheinen will) als kalkuliertes Spiel, weniger die Mittel als
die spielerische Art, sie zu setzen, sind das Unverwechselbare und für
mich Bedeutende an der künstlerischen Entwicklung Paul Uwe Dreyers
und dem Neuansatz seiner "Afrikanischen Serie", die die BildBild-Dialektik
um eine GrafikBild-Dialektik erweitert.
Der Sinn der Buchstaben, die ich hinschreibe, sagt Jean Tardieu in seinem Imaginären Museum, ist durch Millionen Hände gegangen, aber das, was jedem von uns allein gehört, ist die Art, in der wir das Zeichen hinsetzen, so als hätten wir es gerade erfunden.
[Das imaginäre Museum der Gegenwart XVII. In: Das Kunstwerk XLIII, 2, 1990]