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Reinhard Döhl | Ein Versuch über die Bilderwelt Paul Uwe Dreyers

Sollte ich denn mit Worten malen können, diesen Worten, die mir nicht gehören, die ich nur für einen Augenblick borgen kann? Ich wollte, ich könnte dieses Blatt Papier in mehrere klar begrenzte Flächen aufteilen: zwei ungleiche Dreiecke, das eine schwarz, das andere rot, ein graues Quadrat, ein blaßgelbes Rechteck, und dort oben in einer Ecke, gleichsam schon aus der Welt, ein einzelnes blaues Rechteck - nur um die ganze Last dieser Worte loszuwerden, unter denen kein einziges ist, das genau dem entspräche, was ich ausdrücken will.

Diese Passage aus Jean Tardieus "Imaginärem Museum" spricht direkt von den Schwierigkeiten des Dichters in einer Wörterwelt aus zweiter Hand, und indirekt von den Schwierigkeiten, Bilder zu beschreiben, sich der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers sprachlich zu nähern. Eine kleine Textbegradigung sei zugegeben: das zweimalige Ersetzen des Kreises durch Rechtecke. Aber erstens kommen in Paul Uwe Dreyers Bildern Kreise nicht vor. Zweitens sind Kreis wie Quadrat gleichermaßen zentrale ungerichtete Form, ideal deshalb für eine hierarchielose Malerei.

Damit, mit Paul Uwe Dreyers zunehmend quadratischen Bildformaten beginnen aber schon die Schwierigkeiten. Denn anders als die Konkret-Konstruktiven, denen er in zahlreichen Katalogtexten gerne zugeschlagen wird, ist das Quadrat bei ihm stets durch Rechtecke und ungleiche Dreiecke infrage gestellt, sind seine ferner durch Farbflächen, farbige Bänder und Lineaturen unterlaufenen Quadrate keineswegs hierarchielos, im Gegenteil. Denn keines seiner Bilder ließe sich anders hängen als es konzipiert und gebaut ist. Keine seiner Bildsequenzen ließe sich anders verstehen, als sie gedacht ist. Aber wie sind sie gedacht und sind sie zu verstehen?

Keine Regel. ohne Ausnahmen

Die Esslinger Ausstellung umfaßt die Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 1990, so ist es angekündigt. Sie müßte also mit den "Horizonten" beginnen und mit den "Phasenschnitten" bzw. "Diagrammen" enden. Die Ausstellung beginnt aber mit der Sequenz "2 X 3" aus dem Jahre 1979, und das mit gutem Grund, sind doch in dieser Sequenz Kategorien der Dreyerschen Malerei vielleicht am leichtesten einsehbar, und sei es bereits diese, daß es für ihn - anders als für seine konkret-konstruktiven oder konstruktivistischen Kollegen - keine Regel ohne Ausnahme gibt. Zwischen den Sequenzen "Landschaftslinien" (1978) und "Horizonte" (1980) gemalt, läßt ihr Titel "2 X 3" keinerlei falsche Assoziation zu, bezeichnet vielmehr das dem Bild im Bild zugrunde gelegte Raster. Dem rechteckigen Hochformat ist nämlich ein kleines, ebenfalls hochformatiges Rechteck imaginiert, das sich seinerseits aus 2 X 3 querformatigen Rechteken zusammensetzt.

Wenn ich imaginiert sage, so deshalb, weil Paul Uwe Dreyer hier nicht, wie in späteren Sequenzen, das Bild im Bild, wenigstens zu Teilen, konturiert. Es muß vom Betrachter vielmehr erschlossen werden, in dem er sich von den die sechs liegenden Rechtecke horizontal, vertikal und/oder diogonal begrenzenden und verbindenden farbigen Bändern, den schwarzen Lineaturen oder weißen Linien nicht bemalter Grundierung führen läßt. Von Bändern, Linien und Lineaturen, die stets so verlaufen, daß keines der durch das Raster dem Bild imaginär eingeschriebenen Rechtecke als Rechteck sichtbar wird. Über die dem Bilde zugrunde gelegte Ordnung tritt im Malakt eine andere Ordnung, die die zugrunde liegende Ordnung aufhebt, wie umgekehrt diese neue Ordnung durch die Grundordnung in Frage gestellt bleibt.

Bild im Bild

Dieses Bild-im-Bild-Prinzip, das man auch als ein Wechselspiel von Ordnung und Metaordnung des Bildraums umschreiben könnte, findet seine Entsprechung im Wechselspiel der Farben nicht nur dort, wo Farbflächen und -formen des einzelnen Bildes miteinander korrespondieren oder einander kontrastieren, sondern innerhalb der ganzen Sequenz. So entsprechen der grünen Grundfläche in "2 X 3 A" die grünen Bänder bzw. Umformen in "B" und "C", dem rosafarbenen Band in "A" die Grundfläche in "D", dem blauen Band in "B" die Grundfläche in "C", wobei die Farben gegeneinander abgestuft sein können.

Bei einem derartigen Spiel von Ordnung mit Metaordnung, in dem die Farben zugleich als Form wie als Umriß von Form, als Form und als Fond erscheinen können, umfaßt die Sequenz mit den Bildern zugleich ihre Gegenbilder. Dem so-ist-es steht ein so-könnte-es-auch-sein zur Seite, der Setzung folgt ihre Infragestellung. Entsprechend schöpft eine Sequenz die formalen Möglichkeiten eines Bildansatzes nie aus, spielt Paul Uwe Dreyer die denkbaren Varianten nie zur Gänze durch, und er hält damit seine Sequenzen offen sogar für Verstöße gegen das Regelspiel. Das unterscheidet ihn so entschieden von den holländischen oder Schweizer konkretkonstruktiven Kollegen, daß jeder Hinweis auf sie allenfalls als Ausgrenzung sinnvoll ist, im Vergleich dagegen allenfalls die Hilflosigkeit und Unfähigkeit def Interpreten verrät, den Bildern, der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers hinter den Sinn zu kommen. Dazu aber böte bereits die Tatsache, daß Paul Uwe Dreyer seine meist vier oder sechs, selten weniger oder mehr Arbeiten umfassenden Bilderfolgen nicht als Serien oder Reihen, sondern als Sequenzen ausweist, einen ersten Hinweis.

Sequenzen

Man muß diesen Ausweis wie die Titel der einzelnen Sequenzen durchaus beim Wort nehmen. Und das bezeichnet beim Kartenspiel - Paul Uwe Dreyer ist übrigens leidenschaftlicher Skatspieler - die Folge von mehreren Karten gleicher Farbe, in der Biochemie die Aufeinanderfolge gleichartiger Bausteine in Makromolekülen, in der Musik die Auf- und Abfolge einer Tonfolge auf verschiedenen Tonstufen und schließlich eine Gattung mittelalterlicher liturgischer Chorgesänge, was sich - alles mehr oder weniger modifiziert - zur Erklärung des Dreyerschen Sequenzenverständnisses durchaus heranziehen ließe, wenn man nicht übersieht, daß der Bilderfolge innerhalb einer Sequenz auf einer anderen Ebene die Sequenzenfolge entspricht dergestalt, daß wie innerhalb einer Sequenz zum Bild sein Gegenbild, innerhalb der Abfolge der Sequenzen zur Sequenz die Gegensequenz treten kann. Zugleich gibt die lexikalische Auskunft einen ersten Hinweis auf Musik, wovon noch zu reden sein wird.

Läßt man die Titel der in Esslingen ausgestellten Sequenzen chronologisch Revue passieren - "2 X 3", "Horizonte", "Teilung", "Flächensegmente", "Ganga", "Movements", "Abschnitte", "Verschränkungen", "Zonenbilder", "Segmentabfolgen", "Sterne", "Afrikanische Serie", "Phasenschnitte" - läßt man die Titel dieser Bildersequenzen Revue passieren und ordnet ihnen die grafischen Sequenzen der "Zeilenzeichnungen", der "Diagramme" und "Klapplaute" als gleichberechtigt zu, deuten sich bereits größere Zusammenhänge an, wenn man in einem ersten Ansatz zwischen eher technischen und eher metaphorischen Titeln unterscheidet. Daß es sich dabei keinesfalls um zwei unverbundene Entwicklungsstränge handelt, wird schnell deutlich, wenn man die eher technisch ausgewiesene Sequenz der "Zeilenzeichnungen" dorthin stellt, wohin sie innerhalb der Werkentwicklung gehört, nämlich zur "Afrikanischen Serie", für deren grafische Qualität sie eine entscheidende Voraussetzung bildet (vgl. Das Kunstwerk 2, XLIII, 1990, S. 54 ff.). Nicht auf verschiedene Entwicklungslinien verweisen also die Titel der Sequenzen, sondern sie markieren eher kleine Zäsuren dort, wo Paul Uwe Dreyer seine ästhetischen Fragen jeweils neu und oft im Gegenzug oder auf einer Metaebene artikuliert, seine gefundenen Antworten durch erneutes Fragen zur Disposition stellt.

Titel

Dabei ist den Titeln durchaus Aufmerksamkeit zu schenken, sind sie doch mehr als Werkstatzterminologie oder poetische Zutat. Vielmehr haben sie - jeder für sich, aber auch in Beziehung zu einander - in Abwandlung der Peirceschen Zeichenrelation stets eine indexikalische, eine ikonische und eine symbolische Funktion. Indexikalisch verweist zum Beispiel ein Titel wie "Horizonte" auf das gemeinsame Thema der Sequenz, ikonisch gelesen stellt der Horizont ein altes bildnerisches Problem dar, das jetzt von Paul Uwe Dreyer unter seinen Voraussetzungen neu angegangen wird. Symbolisch schließlich verweist der Titel darauf, daß es in den Bildern dieser Sequenz um mehr als nur formale Probleme geht, was eine kleine Sprachspielerei verdeutlichen kann. Denn Horizont bezeichnet ja nicht nur einen begrenzten Gesichtskreis, an dem die Sonne verschwindet oder ein Schiff auftaucht, es gibt auch den politischen (bevorzugt bewölkten) oder einen ästhetischen Horizont, es gibt den engen beschränkten Horizont aber auch die Möglichkeit, ihn zu erweitern, und natürlich gibt es Dinge, die über jemandes Horizont gehen, was man keinesfalls den Dingen anlasten darf. Und es gibt Paul Dreyers Sequenz der "Horizonte", die mit alledem durchaus zu tun haben kann, und sei es auch nur dadurch, daß dies über den Horizont von Interpreten geht.

Bildraum

Ein Oeuvre, dessen Entwicklung sich durch Konstanz und Konsequenz auszeichnet, gewinnt automatisch an Komplexität, sein Hersteller an Souveränität, mit der er über seine Mittel verfügt. So nimmt es auch nicht wunder, wenn spätestens bei der "Sterne"-Sequenz nicht mehr nur vom Bild-im-Bild-Prinzip, sondern (gleichsam in einer Horizontüberschreitung) vom Überspielen des vorgegebenen Bildraums zu reden ist. Das in der "Sterne"-Sequenz dem Bildquadrat eingeschriebene, auf der Spitze stehende Quadrat spielt sich nicht nur gegen das Ausgangsquadrat aus, vielmehr erwecken die Diagonalen des Ausgangsquadrats den Eindruck, als sei die Begrenzung durch das gewählte Bildformat nur scheinbar, als stießen im Mittelpunkt des Bildes gleichsam vier auf der Spitze stehende Quadrate zusammen, die, vollständig gedacht, wiederum zu einem auf der Spitze stehenden Quadrat zusammentreten würden, in das dann das sichtbare Bild eingeschrieben wäre.
So sind spätestens seit der Sequenz der "Sterne" in Paul Uwe Dreyers Bilderwelt nicht nur Bilder Bildern imaginiert, sondern das reale Bild erscheint in einem imaginierten Bild eingeschlossen - ein Wechselspiel, daß man mit Begrenzung und Entgrenzung vielleicht am zutreffendsten umschreiben kann, wobei der Bildraum im Bildraum wie der Bildumraum eine entscheidende Rolle spielen.

Interaktion

Ein solches Spiel bedarf aber des Betrachters als eines Mitspielers. Will man dieses Einbeziehen des Betrachters, und es gibt gute Gründe dafür, als Interaktion zwischen Maler/Bild und Betrachter verstehen, ist darauf zu achten, daß auch im Falle dieser Interaktion keine Eindeutigkeit herrscht, von Interaktion in zweifacher Hinsicht zu sprechen ist. Da wäre zunächst die Interaktion auf den einzelnen Bildern, zwischen Bild und Gegenbild innerhalb einer Sequenz wie zwischen einzelnen Sequenzen. Sie findet etwa statt im Wechselspiel von Umriß und Form, von Fläche und Lineament, von Verdecken und Entdecken. Und sie findet statt t im Wechselspiel der Farben.

Da wäre zweitens die Interaktion zwischen Bild und Betrachter, der im spielerischen Nachvollzug der Bilder die Begrenzung und Entgrenzung des Bildraums ebenso als Botschaft empfangen wird, wie eine scheinbare Erweiterung der Zweidimensionalität in den Raum. Das ist nicht im Sinne klassischer Perspektive gemeint sondern im Sinne eines typisch Dreyerschen Sinnenspiels mit Täuschung und Enttäuschung seit spätestens den "Movements", die ja von ihrem Titel her bereits den Raum nicht ausschließen, offen lassen, ob sie ausschließlich die Bewegung der Farbbänder und Linien auf der Leinwand oder nicht auch schon den Nachvollzug dieser Bewegung durch den Betrachter bezeichnen. Konkret meine ich die Farbbänder und Linien, die im ansatzweisen Nachvollzug, in der angesetzten Umschrift des Bildes im Bild, eines Rasterfeldes plötzlich in eine ganz andere Richtung umspringen, von der Horizontalen oder Vertikalen in die Diagonale wechseln und derart den Bildraum auf den Betrachter hin zu öffnen scheinen, Spannungen aufbauen, die, zusammen mit der auffälligen Farbigkeit der Dreyerschen Bilder zunehmend ihre ästhetische Botschaft artikulieren.

Farben

Weit entfernt von der Betulichkeit und einer dahinter verborgenen Fortschrittgläubigkeit konkreter Malerei und ihrer dekenden Farben, ist das Farbenspiel in der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers fragil und virulent zugleich, schrill und in den seltensten Fällen entgegenkommend. Es schließt ein Ausspielen der Nichtfarbe Grau gegen eine starke Farbigkeit ebenso ein wie ein fast psychologisches Ausmischen, bei dem es einen entscheidenden Unterschied macht, ob ein rosa Farbton von Krapplack, Englisch Rot oder einem Violettrot ausgehend gewonnen wird. Auch ein überzogenes Türkis, bonbonfarbene Töne haben durchaus psychologische Qualität, sprechen von der Befindlichkeit des Malers selbst dort, wo sie reale Entsprechungen haben. Denn viele dieser Farben sind durchaus gesehen, bilden (auch dies wiederum anders als bei den Konkret-Konstruktiven) also einen, wenn auch nicht erkennbaren Realitätsbezug. Besonderes Augennerk sollte der Betrachter ferner richten auf Weißausmischungen, da sie die Fragilität der Dreyerschen Bilderwelt ähnlich deutlich signalisieren wie ein häufig begegnendes Zinkgelb, das, von seinem Charakter her aggressiv, gläsern, beim Malen einen oft wiederholten lasierenden Auftrag verlangt und bereits von daher den optimistischen Farbtönen deutlich Paroli bietet.

Farbtöne

Spricht man von Farbtönen, benutzt man - oft gedankenlos und fast schon umgangssprachlich - eine Metaphorik, die auf Musik und kunstgeschichtlich zurück auf Kandinskys "Klänge", die Musikalität seiner Malerei unter dem Primat der Farbe verweist. Will man überhaupt eine Tradition für die Kunst Paul Uwe Dreyers benennen, wäre in diese Richtung am ehesten zu denken. Dreyer, der selten, dann jedoch recht pointiert über seine Malerei spricht, hat 1984 beide Aspekte wie folgt verbunden: Ich erarbeite die Struktur von der Farbe her, um den Bildgrund durch ihre verschiedenen Tonwerte in Schwingungen (Hervorhebungen von mir, R.D.) zu versetzen, die nicht abbildhaft, sondern faktisch real sind.

Berücksichtigt man, daß Töne im Ohr ebenso wie Farben im Auge durch elektromagnetische Schwingungen hervorgerufen, daß Oberschwingungen (Schnarren, Klirren; Knall) mit Hilfe der Braunschen Röhre nicht als Sinuskurve sondern als eine Abfolge von Dreiecken sichtbar werden, scheint es durchaus legitim, bei Paul Uwe Dreyers umspringenden Linien und Farbbändern, bei seinen angedeuten Dreiecken und ihrer gelegentlich aggressiven Farbigkeit eine musikasche Metaphorik zu verwenden, ja sogar von einer ansatzweise musikalischen Malerei zu sprechen, die allerdings nur bedingt wohlklingend, in ihren Spiel- und Winkelzügen oft dissonant ist.

Dem Argument, ein Bild sei statisch, Musik dagegen eine Abfolge in der Zeit, ließe sich entgegnen, daß sich das Moment der Bewegung in den Bildern durchaus der Tonfolge vergleichen läßt.

Spielfelder

Darf man, ausgehend von den "Movements", die Kategorie der Bewegung für die Bilderwelt Paul Uwe Dreyers geltend machen und faßt man darunter das Farben- und Formspiel ebenso wie das spielerische Begrenzen und Entgrenzen, Täuschen und Enttäuschen, könnte man von den Bildern auch als von Spielfeldern sprechen. Wie ein Spielfeld mit seinen zwei Toren, Torräumen, Torauslinien, Seitenlinien und seiner Mittellinie, weisen die Bilder Dreyers oft paarige Entsprechungen auf, wiederholen oder spiegeln sich Farbflächen, farbige Bänder (in Variation oder kontrastiv) und Linien. Der Spieler und Regisseur dieses Spiels wäre der Maler. Und wie jedes reale Spiel erfolgt auch dieses nach festgelegten Regeln, schließt aber auch Regelverstöße nicht aus. Regelverstöße, die anders als im realen Spiel, nicht geahndet werden. Sieht man im Betrachter der Bilder den Mitspieler des Malers, wird dieser die Regelverstöße, die Aggressivität des Spiels, die Verletzungen als einen Teil der Botschaft der Bilder verstehen und sich fragen müssen, was Regelverstoß, Aggressivität, Fragilität über ihren ästhetischen Reiz hinaus bedeuten wollen. Und er wird vielleicht begreifen, daß kein Bild, das man sich von etwas macht, ohne Gegenbild existiert, daß es die Verletzungen sind, die den Wert einer Regel erst erkennen lassen, und daß es keine Regel ohne Ausnahmen gibt.

Ironie

Natürlich sind Paul Uwe Dreyers Bilder keine Abbildungen realer Spielfelder, keine wie auch immer geartete kritische Abbildung oder Widerspiegelung von Welt. Aber als Entwürfe möglicher Welten, in der Metapher wollen sie durchaus etwas über diese Welt sagen. Und das ist, bei allem Optimismus, bei aller Vitalität, die auch aus ihnen spricht, nicht gerade die frohe Botschaft. Sie sprechen vielmehr die ironische Sprache des Utopisten. Nicht im umgangssprachlichen Gebrauch der beiden Begriffe, sondern in einem wörtlichen Sinne im Fall der Utopie, die wir mit "Keinort, nirgends" übersetzen müssen, und aus dem Ironieverständnis Karl Wilhelm Ferdinand Solgers. Der hatte bei seinem Versuch, einen Zusammenhang von Idee und Wirklichkeit herzustellen, ein Durchdringen von Bewußtem und Unbewußtem zu ermöglichen, Kunst als den Ort begriffen, an dem ein Austausch von Idee und Wirklichkeit stattfinden könne, als eine Form, die Realität erst voll sichtbar werden lasse. Das unveränderliche Wesen der Kunst, sagte er, sei nur dort möglich, wo zugleich die Nichtigkeit des wirklichen Daseins ist. Denn dort könne die Kunst, schon indem sie das Dasein bildet (nicht abbildet! R.D.), es mit begleitender Ironie beständig auflösen und zugleich in das Wesen der Idee zurückführen. Nichts anderes versucht, in meiner Lesart, die Malerei Paul Uwe Dreyers.

[Ausstellungskatalog, Villa Merkel, Esslingen 1991, S. 9 ff.]