Farbe bekennen
Heute - angesichts der inszenierten Fernseh-Realität eines Dritten Weltkrieges, des Für und Wider großer Friedensdemonstrationen - einfach zur Tagesordnung überzugehen, gelingt sicherlich nur hartgesottenen Zeitgenossen. Zu diesen zählen Paul Uwe Dreyer und ich nicht. Entsprechend bezogen sich unsere Gespräche in den letzten Wochen auch weniger auf die Bilderwelt Paul Uwe Dreyers als vielmehr auf die Frage: Was rechtfertigt in einer solchen Situation die Produktion und die Präsentation einer Kunst, die explizit weder kritisch noch parteilich ist? Und es wurde uns ein kleiner Essay des Dadaisten Hans Arp wieder wichtig, der "Dadaland" überschrieben ist. Ich zitiere:
Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges [...], gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte. Wir spürten, daß Banditen aufstehen würden, denen in ihrer Machtbesessenheit selbst die Kunst dazu diene, Menschen zu verdummen.
Paul Uwe Dreyer hat mir ausdrücklich erlaubt, dieses Zitat an den Anfang meiner kurzen Einführung zu stellen, um mit ihm auch für seine Kunst und sein Kunstverständnis Farbe zu bekennen. Das mag unsinnig erscheinen. Und in der Tat: ist eine solche Position nicht unsinnig, wenn sie - in der Doppeldeutigkeit der Vorsilbe un - versucht, allgemein als sinnvoll Behauptetes zu unterlaufen? Wenn sie Fragen stellt, wo die vorgefertigten Antworten schon bereit liegen?
Konkrete Kunst
Ich darf hier noch einmal zu Arps Essay "Dadaland" zurückkehren, der sich nach dem bereits Zitierten der eigenen Kunstproduktion zuwendet und schreibt:
Sophie Taeuber und ich malten, stickten und klebten im Jahre 1915 Bilder, die wahrscheinlich die ersten Werke 'konkreter Kunst' sind. Diese Arbeiten sind selbständige, unabhängige 'Wirklichkeiten'. Sie haben keinen rationalen Sinn; sie entspringen nicht greifbaren Wirklichkeiten. Wir verwarfen alles, was Nachahmung oder Beschreibung sein könnte, um das Elementare und Spontane in uns frei wirken zu lassen. Weil die Verteilung der Flächen, ihre Verhältnisse und Farben auf diesen Arbeiten nicht ausgeklüegelt wirkten, erklärte ich, daß diese Werke 'nach den Gesetzen des Zufalls' geordnet seien, des Zufalls, der für mich nur ein Teil der unerklärbaren Vernunft ist, der unfaßbaren Ordnung, welche die Natur regiert.
Das ist so und in schlichter Analogie natürlich nicht auf die Bilderwelt der heutigen Ausstellung übertragbar. Aber es liefert wichtige Stichworte, darunter das Reizwort 'konkrete Kunst', der ja Paul Uwe Dreyers Werk immer wieder zugeschlagen wird, als sei es dadurch bereits im Wesentlichen erklärt. Nur - geht das so einfach? Wieweit deckt sich, was heute als konkrete Kunst gehandelt wird, noch mit dem Arpschen Ansatz? Würde sich eine Ausstellung mit Arbeiten Dreyers zum Beispiel dem Konzept der "Stiftung für konkrete Kunst" in der Reutlinger Ledergasse fügen? Ich meine: nein! und benenne als Kronzeugen zum Beispiel den großen Schweizer Konkreten Richard Paul Lohse, der Paul Uwe Dreyer in einem Gespräch erklärte: zwar könne er den Ansatz Dreyers nachvollziehen, auch verstehen. Aber dieser Ansatz habe mit seinem wie allgemein dem Schweizer Konzept konkreter Kunst kaum etwas gemeinsam.
Um jetzt konkret von der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers zu sprechen, greife ich als zweites Stichwort Arps Überzeugung auf: seine Arbeiten seien selbständige, unabhängige Wirklichkeiten. Und ich gehe aus von der These, daß die heute und hier ausgestellten Arbeiten ebenfalls keine wie auch immer geartete Abbildung von Welt, wohl aber Wirklichkeit sind, insofern sich die Bilder selbst als Bilder vorführen.
Bild im Bild
Wer sich auf die hier ausgestellten Arbeiten der letzten zehn Jahre ernsthaft einlassen will, muß sich auf das von Paul Uwe Dreyer sogenannte Bild-im-Bild-Prinzip einlassen. Was heißt: Den rechteckigen und zunehmend quadratischen Bildformaten sind Rechtecke oder Quadrate eingeschrieben, die sich wiederum aus Rechtecken oder Quadraten zusammensetzen (können). Dieses jeweilige 'Raster' ist in den farbigen Flächen, durch horizontale, vertikale und/oder diagonale farbige Bänder, schwarze Lineaturen oder weiße Linien sichtbar gemacht und wird im Malakt zugleich stets aufgehoben. So daß sich hier von einem dreifachen Infragestellen des Bildes sprechen läßt, 1. durch das dem gewählten Bildformat eingeschriebene Bild, das 2. im Malakt selbst infrage gestellt wird, einem Akt, der 3. seinerseits durch das vorgedachte Bildraster infrage gestellt bleibt.
Diese Skepsis, mit der Paul Uwe Dreyer seine bildkünstlerischen Lösungen besetzt, unterscheidet sie zum Beispiel von jenen konkret-konstruktivistischen Versuchsreihen, die ein Thema oft eher schulmeisterlich durchvariieren und damit ästhetische Spannung zumeist schon zu Tode geritten haben, bevor das Ziel überhaupt erreicht ist.
Ganz anders die Sequenzenfolgen dieser Ausstellung, die jede für sich natürlich ein Thema hat, die sorgfältig gewählten Titel sind hier interpretatorisch sehr wohl zu bedenken -
Ganz anders, sage ich, die Sequenzenfolgen dieser Ausstellung, die ihre Themen nicht sklavisch durchspielen, sondern mit irgendeiner Bildlösung unvermittelt einsetzen und oft, meist nach der vierten Arbeit, eher abrupt abbrechen. Damit bieten sie dem Betrachter andere denkbare Lösungen allenfalls als Leerstellen an. Als Leerstellen, die den Betrachter provozieren, Dreyers "visualisierte Denksysteme" (Dreyer) selbst zu komplettieren oder infrage zu stellen. Die in den einzelnen Bildlösungen und Sezquenzen vom Maler bewußt begangenen Regelverstöße bekommen in diesem Zusammenhang auch für den Betrachter eine Funktion.
Bildumraum Bild
Daß Paul Uwe Dreyer bei der dialektischen Anlage seiner Bilderwelt das Bild-im-Bild-Prinzip durch ein Bildumraum-Bild-Prinzip erweitern würde, war zu erwarten. Dies geschah in der "Sterne"Sequenz, die mit ihren sechs Bildern bereits quantitativ auffällt. Anders als bei den bisherigen Sequenzen ist das dem Quadrat imaginierte Quadrat jetzt nicht mehr analog eingeschrieben, sondern kann auf die Spitze gestellt. Man kann dies schnell erkennen bei "Sterne 4" (hinter meinem Rücken), "Sterne 5" (zu meiner Rechten) und "Sterne 6" (zu meiner Linken).
Diese drei Bilder zeigen
in der genannten Abfolge einmal, wie das eingeschriebene Quadrat immer
mehr Kontur verliert, zunächst noch vierfach, dann wenigstens noch
dreifach, schließlich nur noch durch zwei parallele Farbbänder
konturiert ist.
Gleichzeitig erwecken die
Diagonalen des Ausgangsquadrats den Eindruck, als sei die Begrenzung durch
das Bildformat nur scheinbar. Als stießen im Mittelpunkt des Bildes
gleichsam vier auf der Spitze stehende Quadrate zusammen, die - vollständig
gedacht - wiederum zu einem auf der Spitze stehenden Quadrat zusammentreten
würden, in das dann das ursprüngliche Bildquadrat eingeschrieben
wäre.
Mit anderen Worten: das Thema Bild wird in der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers nicht nur diskutiert in einer Bild-im-Bild-Dialektik, sondern auch in der Dialektik von Bild und Bildumraum. Wobei in beiden Fällen gilt, daß über die im Bild zugrounde gelegte Ordnung im Malakt eine andere Ordnung tritt, die die zugrunde liegende Ordnung unterläuft, wobei diese Metaordnung umgekehrt durch die Grundordnung infrage gestellt bleibt.
Farbe und Form
Aber noch auf einer weiteren Ebene diskutiert Paul Uwe Dreyer sein Thema Bild. Im Wechselspiel von Form und Farbe. Hatte die Entwicklung der Malerei sich in der Nachfolge Kandinskys meist mehr dem einen oder anderen Aspekt zugewandt; Malerei entweder unter dem Primat der Farbe oder dem Primat der Form bevorzugt, versucht Paul Uwe Dreyer beides miteinander zu verbinden, indem er - ich zitiere eine Beobachtung Willy Rotzlers - die Rationalität der Form mit der Irrationalität der Farbwahl verbindet. Allerdings stimmt diese Beobachtung Rotzlers nur dann, wenn sie auch in ihrer Umkehrung gilt, in der sich der spontane formale Regelverstoß mit einem oft systematischen Ausmischen der schrillen oder fragilen Farben, in der sich Farbkalkül und überraschendes Foul zum Gegenspiel verbinden.
Bildraum
Auf einer vierten Ebene der Dreyerschen Diskussion des Themas Bild kommt schließlich der Betrachter ins Spiel, der im Nachvollzug der Bilder Begrenzung und Entgrenzung des Bildraumb (= Bild-im-Bild; Bildumraum-Bild) ebenso als Botschaft empfangen wird wie eine scheinbare Erweiterung der Zweidimensionalität in den Raum. Das ist nicht im Sinne klassischer Perspektive gemeint, sondern im Sinne eines typisch Dreyerschen Sinnenspiels mit Täuschung und Enttäuschung. Konkret meine ich die Farbbände und Linien, die im ansatzweisen Nachvollzug, in der angesetzten Umschrift des Bildes im Bild, eines Rasterfeldes überraschend in eine ganz andere Richtung umspringen, von der Horizontalen oder Vertikalen in die Diagonale wechseln und derart den Bildraum auf den Betrachter hin zu öffnen scheinen, Spannungen aufbauen, die, zusammen mit der auffälligen Farbigkeit, zunehmend die ästhetische Botschaft der Bilder und neuerdings auch der gleichwertigen Zeichnungen ausmachen.
Spielfelder
Kann man - wie ich im Katalog ausführlicher begründet habe - die Bilder Paul Uwe Dreyers als Spielfelder begreifen, wäre dies in meiner Reihenfolge zugleich die letzte Ebene, auf der das Thema Bild diskutiert wird. Auf dieser Ebene ist der Maler Regisseur und Spieler in einer Person, der seine eigenen Regeln aufstellt und zugleich gegen sie verstößt. Diese Regelverstöße wird der Betrachter als unersetzbarer Mitspieler des Malers wahrnehmen. Er wird die Grenzverletzungen, die zunehmende Aggressivität des Spiels und die Fragilität der Farben registrieren. Er wird sich fragen, was das Infragestellen des Bildes, die Regelverstöße, gestörte Ordnung, Aggressivität und Fragilität über ihren ästhetischen Reiz hinaus bedeuten wollen. Und er wird vielleicht begreifen, daß es kein Bild gibt, zu dem es nicht ein Gegenbild gäbe, daß keine Regel ohne Ausnahme gilt. daß es die Verletzungen sind. die den Wert einer Regel erst erkennen lassen.
Idee und Wirklichkeit
Als Entwurf und gleichzeitiges Infragestellen möglicher Bildwelten besagen die in der heutigen Ausstellung versammelten Arbeiten nämlich auch etwas über unsere Wirklichkeit. Allerdings entspricht das, was sie hier besagen, so gar nicht einer hinter ihren Variationsreihen im Grunde verborgenen naiven Fortschrittsgläubigkeit populärer Konkretisten. In Paul Uwe Dreyers Bilderwelt ist vielmehr der utopische Aspekt ironisch gebrochen. Wobei ich unter Utopie jenen Ort verstehe, den wir alle träumen, ohne ihn real je erreichen zu können, und den Begriff Ironie im Sinne der Solgerschen Ästhetik benutze.
Kunst, war Karl Wilhelm Ferdinand Solger überzeugt, sei jener Ort, an dem ein Austausch von Idee und Wirklichkeit stattfinden könne, sie sei die Form, die Realität erst voll sichtbar mache. Das unveränderliche Wesen der Kunst, schrieb er, sei nur dort möglich, wo zugleich die Nichtigkeit des menschlichen Daseins sei. Dort könne die Kunst, schon indem sie das Dasein bildet und nicht abbildet! füge ich hinzu, also
Dort könne die Kunst, schon indem sie das Dasein bildet, es mit begleitender Ironie beständig auflösen und zugleich in das Wesen der Idee zurückführen. Nichts anderes aber wollen, in meiner Lesart, die Bilder Paul Uwe Dreyers. Wie sonst würde es Sinn machen, von ihnen einerseits als von visualisierten Denksystemen zu sprechen und gleichzeitig andererseits in den Bildern das Bild infrage zu stellen und damit als Problem und als Idee erst eigentlich bewußt zu machen.
[Villa Merkel, Esslingen,1.2.1991]