Es sei mir gestattet, mit etwas Persönlichem zu beginnen. Als Paul Uwe Dreyer mich fragte, ob ich diese Ausstellung eröffnen könne, fiel mir ein, daß ich schon einmal in Dresden war, d.h. genauer gesagt: es fiel mir ein, daß sich in einem Fotoalbum einige Bilder befinden, deren Unterschriften ich entnehme, 1936 in Dresden gewesen zu sein, ein Jahr bevor national-sozialistischer Ikonoklasmus das kunstgeschichtlich wichtige erste MERZbild von Kurt Schwitters neben anderen unersetzbaren Arbeiten aus dem Dresdner Stadtmuseum entfernte. Arbeiten, die nach Entmachtung ihres Ankäufers Paul F. Schmidt noch in der Weimarer Republik, in der sogenannten Schreckenskammer der Städtischen Sammlungen zunächst überlebt hatten.
Ich bin seither aus vielerlei Gründen nicht wieder in Dresden gewesen, und fragte mich natürlich nach meinen Erwartungen und Vorkenntnissen über das hinaus, was man von Christstollen bis Frauenkirche, von Raffaels Sixtinischer Madonna bis zur Brühlschen Terrasse so herzuzählen weiß. Und dabei erinnerte ich mich an Andreas Georg Friedrich Rebmanns "Empfindsame Reise nach Schilda", ein Kabinettstückchen jakobischer Erzählprosa, die, wenn auch in Leipzig anonym verlegt, 1793 am Ufer der Elbe geschrieben wurde, aber erst zwischen dem zweiten und dritten Kapitel ihre Vorrede in Hieroglyphen enthält.
Mir kamen die Dresdner Jahre Ludwig Tiecks (1819-1842) in den Sinn, seine berühmten Leseabende, seine Dramaturgentätigkeit am Hoftheater und seine in ihrer Hinwendung zum Realismus bis heute nicht hinreichend gewürdigte Novellenproduktion. Gleich in der ersten, "Die Gemälde" überschriebenen Novelle charakterisiert Tieck die Kunstenthusiasten als Menschen, für [die] nur die Kunst das Fenster [sei], durch welches sie die Natur und die Welt erblicken; sie können beide nur erkennen, indem sie sie mit den Nachahmungen derselben vergleichen. Direkt auf Dresden gemünzt ist dann die 1835 erschienene Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen, "Die Vogelscheuche", eine von der Verspottung der Dresdner Wasserpoeten ausgehende böse Satire auf die deutschen Philister der Biedermeierzeit, das Bürgerbündnis der Vogelscheuchen, die vogelscheuchende Gesellschaft der Humanität.
Schließlich waren mir nicht nur die Maler der Brücke, Otto Dix' doppelte Ausbildung in Dresden und Kurt Schwitters Dresdner Akademiezeit präsent, sondern auch die Treue, die Schwitters Zeit seines Lebens der Stadt seiner künstlerischen Ausbildung bewahrt hat, was man umgekehrt wohl weniger behaupten darf. Die Dresdner Spuren in Schwitters' Werk sind bisher nur zu Teilen erkannt und sie aufzuspüren meine heutige Aufgabe nicht. Aber eine der hier einschlägigen Collagen führt mich auf einem kleinen Umweg zum Thema. Sie ist wie die meisten Arbeiten Schwitters' mehrschichtig, verweist durch die Verpackungspapiere der Hansi-Schokolade auf Dresden, durch ihre Unterschrift aber - Zeichnung A2 / Hans - und die Anordnung ihrer geometrischen Teile zugleich auf den mit Schwitters befreundeten Hans Arp. Dabei spielt die für Schwitters damals eher untypische Collage Arbeiten an, über deren Entstehung und Bedingung Arp rückblickend festhielt:
Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges [...], gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte. Wir spürten, daß Banditen aufstehen würden, denen in ihrer Machtbesessenheit selbst Kunst dazu diene, Menschen zu verdummen.
Auf die eigene Produktion bezogen, fährt Arp dann fort:
Sophie Taeuber und ich malten, stickten und klebten im Jahre 1915 Bilder, die wahrscheinlich die ersten Werke konkreter Kunst sind. Diese Arbeiten sind selbständige, unabhängige Wirklichkeiten. Sie haben keinen rationalen Sinn; sie entspringen nicht greifbaren Wirklichkeiten. Wir verwarfen alles, was Nachahmung oder Beschreibung sein könnte. um das Elementare und Spontane in uns frei wirken zu lassen. Weil die Verteilung der Flächen, ihre Verhältnisse und Farben auf diesen Arbeiten nicht ausgeklügelt wirkten, erklärte ich, daß diese Werke nach den Gesetzen des Zufalls geordnet seien, des Zufalls, der für mich nur ein Teil der unerklärbaren Vernunft ist, der unfaßbaren Ordnung, welche die Natur regiert.
Das ist so und in schlichter Analogie natürlich nicht auf die Bilderwelt Paul Uwe Dreyers übertragbar. Aber Arps Äußerungen liefern doch einige wichtige Hinweise, z.B. auf die gesellschaftliche Gebundenheit des Künstlers, geben so zentrale Stichworte wie Wirklichkeit, elementare und konkrete Kunst, das Elementare und Spontane, Verteilung der Flächen, ihre Verhältnisse und Farben.
Ich beginne mit dem Stichwort konkrete Kunst. Paul Uwe Dreyers Arbeiten sind immer wieder der konkreten Kunst bzw. - was aber im Grunde dasselbe meint - der geometrischen Abstraktion zugerechnet worden, als seien sie damit bereits im Wesentlichen erklärt. Aber stimmt das? Lassen sich die hier ausgestellten Zeichnungen und Ölbilder jenen konkret-konstruktivistischen Versuchsreihen vergleichen, die ein Thema oft eher schulmeisterlich durchvariieren und damit ästhetische Spannung oft schon zu Tode geritten haben, bevor das Ziel überhaupt erreicht ist?
Ich meine nein und greife, um jetzt konkret von der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers zu sprechen, als zweites Stichwort Arps Hinweis auf, dem zufolge Werke elementarer Kunst selbständige, unabhängige Wirklichkeiten seien, also keine Nachahmungen von Natur und [...] Welt, was ja bereits Tieck als falsches Bildverständnis kritisiert hatte. Und ich behaupte, daß die heute und hier ausgestellten Arbeiten Paul Uwe Dreyers Wirklichkeit darstellen, insofern sich die Bilder selbst als Bilder vorführen.
Das gilt bei Paul Uwe Dreyers konstanter und kosequenter Werkentwicklung eigentlich für das gesamte Oeuvre, so daß es Sinn macht, wenn den jüngsten Bildsequenzen Schattenfuge (1991), Silhouetten (1993), Innen-Aussen (1992), Nähe/Ferne (1994) und den Zeichnungen (1993, 1994) auch ältere Arbeiten zugeordnet sind: zwei Bilder aus der Ganga-Sequenz (1983) sowie eine Arbeit aus der Afrikanischen Serie (1989). Eine gewisse Sonderstellung nehmen, schon wegen ihres Formats, die diesjährigen Zwischenbilder ein.
Allen diesen Arbeiten gemeinsam ist etwas, das man als Bild-im-Bild-Prinzip (Dreyer) bezeichnen könnte. Anhand seiner Praxis läßt sich auch relativ leicht die konsequente Entwicklung der Dreyerschen Bilderwelt skizzieren, die in drei Schritten erfolgt.
Zunächst heißt Bild-im-Bild, daß den rechteckigen, dann quadratischen Bildern Rechtecke oder Quadrate eingeschrieben werden, die sich wiederum aus Rechtecken oder Quadraten zusammensetzen können. Ein dadurch entstehendes Raster ist in den farbigen Flächen durch horizontale, vertikale und/ oder diagonale farbige Bänder, schwarze Lineaturen oder weiße Linien sichtbar gemacht und wird im Malakt zugleich stets aufgehoben. So daß ich von einem dreifachen Infragestellen des Bildes sprechen möchte:
1. durch das dem gewählten
Bildformat eingeschriebene Bild, das
2. im Malakt selbst infrage
gestellt wird, einem Akt, der
3. seinerseits durch das
vorgedachte Bildraster infrage gestellt bleibt.
Die Sequenzenfolgen
Paul Uwe Dreyer (mit allem übrigens besetzbar, was das Wort Sequenz
bedeutet) -
Die Sequenzenfolgen
Paul Uwe Dreyers spielen dabei ihr jeweiliges Thema nicht sklavisch durch,
sondern setzen mit einer Bildlösung eher unvermittelt ein und brechen,
oft schon mit der vierten Arbeit, eher abrupt ab. Sie sind also nicht ausgereizt
und bieten dem Betrachter andere denkbare Lösungen allenfalls als
Leerstellen an, Leerstellen, die ihn provozieren, Dreyers visualisierte
Denksysteme (Dreyer) selbst zu komplettieren oder infrage zu stellen.
Die in den einzelnen Bildlösungen und -sequenzen vom Maler bewußt
begangenen Regelverstöße bekommen so auch für den Betrachter
eine Funktion.
Daß Paul Uwe Dreyer bei der dialektischen Anlage seiner Bilderwelt Ende der 80er Jahre das Bild-im-Bild-Prinzip durch ein Bildumfeld-Bild-Prinzip erweiterte, war kaum überraschend. Es geschah, indem die den quadratischen Formaten imaginierten Quadrate nicht mehr analog eingeschrieben sondern auf die Spitze gestellt wurden. Dabei verloren die eingeschriebenen Quadrate immer mehr an Kontur, während die Diagonalen des Ausgangsquadrats den Eindruck erweckten, als sei die Begrenzung durch das Bildformat nur scheinbar. Als stießen im Mittelpunkt der Bildes gleichsam vier auf der Spitze stehende Quadrate zusammen, die - vom Betrachter vollständig gedacht - wiederum zu einem auf der Spitze stehenden Quadrat zusammentreten würden, in das dann das ursprüngliche Bildquadrat eingeschrieben wäre.
Eine dritte Möglichkeit der Bildthematisierung verfolgen die Bilder der 90er Jahre, in denen jetzt die weißen Linien die farbigen Bänder und schwarzen Lineaturen immer stärker dominieren. Lorenz Dittmann hat in seinem Katalogbeitrag diesen Aspekt der Linie grundsätzlich diskutiert. Das muß also nicht wiederholt werden. In Zusammenhang meiner These ließe sich jedoch zweierlei ergänzen.
Mit Recht weist Lorenz Dittmann auf Paul Klees "Pädagogisches Skizzenbuch", in dem Klee 1925 zwischen Liniencharakteren und Linienarten unterschied. Eine zweite Arbeit, die sich hier nennen ließe, wäre Wassily Kandinskys 1926 erstmals erschienener Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente: "Punkt und Linie zu Fläche". Ich kann das umfangreiche Kapitel Linie aus Kandinskys Buch hier im Detail nicht referieren und nenne nur die im heutigen Zusammenhang wichtigsten Aspekte.
1. die Überzeugung,
daß die
Gerade die knappste Form der unendlichen Bewegungsmöglichkeit
darstellt.
2. die Unterteilung der
Geraden in die Horizontale, die Vertikale und die
Diagonale. Dabei weist Kandisky
3. der Horizontalen
eine lyrische, der Diagonalen eine dramatische Qualität
zu.
Vor allem die Diagonalen haben in den letztjährigen Bildern und Zeichnungen Paul Uwe Dreyers eine besonderes Gewicht. Waren bisher das Bild-im-Bild- und das Bildumfeld-Bild-Prinzip für sein analytisches Malen bestimmend, tritt jetzt als Drittes ein Bildumraum-Bild-Prinzip hinzu. Dieses bringt ein weiteres Mal den Betrachter ins Spiel, der im Nachvollzug der Bilder anhand des sich andeutenden und zugleich entziehenden Rasters eine Begrenzung und Entgrenzung des Bildfläche ebenso als Botschaft empfangen soll wie jetzt eine scheinbare Erweiterung der Zweidimensionalität in den Raum.
Das ist nicht im Verständnis klassischer Perspektive gemeint, sondern im Sinne eines typisch Dreyerschen Sinnenspiels mit Täuschung und Enttäuschung durch die weißen Linien, die im ansatzweisen Nachvollzug, in der angesetzten Umschrift des Bildes im Bild, der Rasterfelder überraschend in eine ganz andere Richtung umspringen, von der Horizontalen oder Vertikalen in die Diagonale wechseln, und damit den Bildraum auf den Betrachter hin zu öffnen scheinen. Eine derart aufgebaute Spannung dynamisiert bzw. wie ich, Kandinsky folgend, lieber sagen würde: dramatisiert die Bilder und macht zusammen mit einer immer mehr auf Grautöne reduzierten Farbigkeit zunehmend die ästhetische Botschaft der Bilder und neuerdings auch der gleichwertigen Zeichnungen aus.
Ich muß an dieser Stelle
etwas nachtragen, das sich im bisher Gesagten allenfalls andeutete. Natürlich
diskutiert Paul Uwe Dreyer sein Thema Bild auch im Wechselspiel von Form
und Farbe. Hatte die Entwicklung der abstrakten Malerei sich in der Nachfolge
Kandinskys - der nebenbei bemerkt nur bedingt ein gegenstandloser Maler
war - Hatte sich - sage ich - die Malerei in der Nachfolge Kandinskys meist
mehr dem einen oder dem anderen Aspekt zugewandt und Malerei entweder unter
dem Primat der Farbe oder unter dem Primat der Form bevorzugt, versucht
Paul Uwe Dreyer von Anfang an beides dialektisch miteinander zu verbinden,
indem er - ich zitiere eine Beobachtung Willy Rotzlers - die Rationalität
der Form mit der Irrationalität der Farbwahl verbindet. Allerdings
stimmt diese Beobachtung nur dann, wenn sie auch in ihrer Umkehrung gilt.
Denn in der Bilderwelt Paul Uwe Dreyers verbinden sich der spontane formale
Regelverstoß nicht nur mit einem oft systematischen Ausmischen schriller
oder fragiler Farben, sondern spontane Farbentscheidung gleichermaßen
mit formaler Dekonstruktion. (Und wer will, mag sich hier noch einmal an
Arps Verteilung der Flächen, ihre Verhältnisse und Farben
und an das erinnern, was er das Elementare und Spontane nannte).
Das gilt auf besondere Weise
für die neuen Arbeiten in dieser Ausstellung, deren bevorzugte Grautöne
nicht nur eine Reduktion der früheren Farbigkeit auf die Nichtfarbe
Grau sind, die vielmehr durch die weiße Lineatur der diagonalen Umsprünge
eine intensive Farbigkeit entwickeln. Wobei der weißen Lineatur der
Ölbilder jetzt die graue Lineatur der Bleistiftzeichnungen entspricht,
deren Farbwertigkeit gerade durch die Abwesenheit farbiger Flächen
entsteht.
Und noch etwas ist im Vergleich von Ölbild und Zeichnung bemerkenswert. Die Lineatur der Zeichnungen definiert Flächen durch Linienzüge, die in sich geschlossen werden oder - als Horizontale - das Blatt verlassen können. Denn anders als inden Ölbildern gehen die Bleistiftlinien oft bis an den äußeren Rand des Blattes. Ihre Funktion des Trennens und damit Sichtbarmachens von Flächen wird zusätzlich hervorgehoben dadurch, daß Paul Uwe Dreyer sehr harte Bleistifte verwendet, die sich beim Ziehen der Linien spürbar in den Zeichenkarton einschneiden.
Ganz anders die Linien auf den Ölbildern, die Farbflächen von einander abgrenzen, aber nicht als Linien gezogen sondern beim Malakt ausgespart wurden. Sind in ihrem Fall also die farbigen Flächen die Voraussetzung, die sie als Linie definiert, definieren die Bleistiftlinien der Zeichnungen Flächen. Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich Bildumraum-Bild-Prinzip genannt hatte, und in diesem Zusammenhang auch zu den Dreyerschen Bildtiteln. Sie sind in der Regel wohl durchdacht und funktionieren meist auf mehreren Ebenen. So verweisen Schattenfuge und Silhouetten bereits auf Räumliches hin, das in Nähe/Ferne explizit benannt wird. Wie insgesamt in Dreyers Werk stehen auch die Sequenzen der 90er Jahre in einem formalen und intentionalen Wechselverhältnis, lassen sich z.B. die Sequenzen Schattenfuge und Silhouetten ebenso aufeinander beziehen wie die Sequenzen Nähe/Ferne und innen - außen. Aber auch weiter zurückliegende Sequenzen des Werkes, so z.B. die Horizonte von 1980, ließen sich hier erinnern und als Beleg dafür nennen, daß es in der Dreyerschen Bilderwelt wohl eine Entwicklung, aber keine Sprünge gibt.
Wenn ich sagte, daß die Arbeiten der 90er Jahre durch eine scheinbare Erweiterung der Zweidimensionalität des Bildes in den Raum charakterisiert seien, deuten die Titel Nähe/Ferne, innen - außen im Wechselspiel an, daß Raum hier auch als Innen- und Außenraum verstanden werden kann. Bezogen auf die Bildthematik Dreyers ließe sich das als Unterscheidung von innerem, vorgestelltem und äußerem, faktischem Bild lesen, als Unterscheidung von Vorstellung und Realisation, von Bildidee und Bildwirklichkeit. Wobei erstere mir - umgangssprachlich ausgedrückt - nahe liegt, durch das fertige Bild aber in die Ferne rückt, mir also ferner liegt. Nähe/Ferne, innen - außen signalisieren als Titel zugleich, daß sich beides nicht trennen läßt, Außenwelt also auf Innenwelt zurückwirkt, um sich dort möglicherweise in eine neue Bildidee umzuformen, die wiederum Bildwirklichkeit werden kann undsofort.
Läßt sich bei den Bildern und Zeichnungen dieser Ausstellung im Sinne Kandinskys von Dramatik sprechen, kann man, wie ich 1991 in einem Katalog ausführlicher begründet habe, die Bilder Paul Uwe Dreyers als Spielfelder begreifen, wäre dies zugleich die letzte Ebene, auf der das Thema Bild diskutiert wird. Auf dieser Ebene ist der Maler Regisseur und Spieler in einer Person, der seine Regeln aufstellt und gegen sie verstößt. Diese Regelverstöße wird der Betrachter als unersetzbarer Mitspieler des Malers wahrnehmen. Er wird die Grenzverletzungen, die zunehmende Aggressivität des Spiels, die Fragilität und Reduktion der Farben registrieren. Er wird sich fragen, was das Infragestellen des Bildes, die Regelverstöße, gestörte Ordnung, Aggressivität und Fragilität über ihren ästhetischen Reiz hinaus bedeuten wollen. Und er wird vielleicht begreifen, daß es kein Bild gibt, zu dem es nicht ein Gegenbild gäbe, keine Regel ohne Ausnahme, daß es die Verletzungen sind, die den Wert einer Regel erst erkennen lassen, ja sogar bestimmen.
Als Muster möglicher Welten, als Entwurf und gleichzeitiges Infragestellen möglicher Bildlösungen besagen die in der heutigen Ausstellung versammelten Arbeiten nämlich auch etwas über unsere Wirklichkeit. Allerdings entspricht das, was sie besagen, weder einer Malerei der Nachahmung oder Beschreibung, deren Bilder Ambrose Gwinett Bierce als zweidimensionale Wiedergabe von etwas definierte, das schon in drei Dimensionen langweilig sei. Noch entsprechen Dreyers Arbeiten einer hinter ihren Variationsreihen im Grunde verborgenen naiven Fortschrittsgläubigkeit populärer Konkretisten. In Paul Uwe Dreyers Bilderwelt ist vielmehr der utopische Aspekt ironisch gebrochen. Wobei ich unter Utopie jenen Ort verstehe, den wir alle träumen, ohne ihn real je erreichen zu können, und den Begriff Ironie im Sinne der Romantiker benutze, denn wenn irgendwo, dann liegen bei ihnen die Wurzeln eines Kunstverständnisses, das die Moderne geprägt hat, etwa wenn Schelling in seinem (von Hegel attackierten) Identitätssystem davon ausgeht, daß die Ästhetik an die Stelle der Religion getreten sei.
Kunst, war Karl Wilhelm Ferdinand Solger überzeugt, sei jener Ort, an dem ein Austausch von Idee und Wirklichkeit stattfinden könne, sie sei die Form, die Realität erst voll sichtbar mache. Das unveränderliche Wesen der Kunst, schrieb er, sei nur dort möglich, wo zugleich die Nichtigkeit des menschlichen Daseins sei. Dort könne die Kunst, schon indem sie das Dasein bildet - und nicht abbildet, füge ich hinzu, also - Dort könne die Kunst, schon indem sie das Dasein bildet, es mit begleitender Ironie beständig auflösen und zugleich in das Wesen der Idee zurückführen. Nichts anderes aber wollen, in meiner Lesart, die Bilder Paul Uwe Dreyers mit den Mitteln der Malerei. Wie sonst würde es Sinn machen, von ihnen einerseits als von visualisierten Denksystemen zu sprechen und andererseits in Bildern das Bild infrage zu stellen und damit als Problem und Idee erst eigentlich bewußt zu machen.
Selbstverständlich ließe sich Malerei auch ganz anders verstehen und definieren, und so zitiere ich abschließend im Sinne romantischer Ironie ein weiteres Mal aus Ambrose Gwinett Bierce's "The Devil's Dictionary". Malerei, lese ich dort, sei die Kunst, Flächen vor dem Wetter zu schützen und den Kritikern auszusetzen. Was hiermit geschehen sei.
[Galerie Brühlsche Terrasse, Dresden, 16.11.1995]