Das Objekt, neben dem ich hier stehe, ist von Wolfgang Ehehalt Hülle des Poeten getitelt worden. Man kann dies, wie im Fall der Hülle des Wildhüters oder der Hülle der Wildhüterin, so deuten, als zeige das Objekt das, was von einer Person zurückbleibt, wenn die schützende Hülle verlassen wurde. Das entspricht durchaus der Umgangssprache und wird zugleich hintersinnig, wenn man sich vergegenwärtigt, daß unsere Sprache die Bezeichnungen fleischliche, leibliche, irdische Hülle auch für den vergänglichen Körper des Menschen im Gegensatz zu seiner immateriellen Seele verwendet.
Ein solches Spiel mit Redensarten kennt die bildende Kunst seit langem. Sie hat sogar einen eigenen Typus von Sprichwortbildern ausgebildet, dessen wohl bekanntestes, Pieter Bruegels Die [niederländischen] Sprichwörter, rund hundert Sprichwörter beim Wort nimmt, unanständige und derbe Redensarten wie "Auf Kohlen sitzen" oder "Wer Feuer frißt, läßt Funken fahren". Durchaus Vergleichbares finden wir in den Arbeiten Wolfgang Ehehalts, wenn er zum Beispiel in einem Triptychon die schwäbische Redensart "Zum aus der Sau ausreiten" in den Mittelpunkt der Darstellung rückt. Das Bild ist inzwischen in Privatbesitz, doch kann sich der Interessierte darüber leicht in dem zur heutigen Ausstellung gerade noch rechtzeitig erschienenen Tagebuch einer Fliege informieren und nachlesen, was Christine Binder und mir dazu eingefallen ist. Wie schon für Bruegel gilt auch für Wolfgang Ehehalt, daß die hier einschlägigen Bilder sich nicht mit der Illustration des Sprichworts begnügen, sondern in der Regel Vorwand für etwas Hintersinnigeres sind: ästhetische Spiele.
Wie Bruegels Sprichwörter, deren ästhetische Lösung von der Kunstgeschichte stets betont wird, zeichnen sich auch Wolfgang Ehehalts Hüllen durch eine ästhetische Besonderheit aus. Man kann diese Besonderheit dadurch charakterisieren, daß man bei den Hüllen von einem Bildträgerwechsel spricht. In dem Maße nämlich Wolfgang Ehehalts Bilder sich durch zusätzliche Applikationen gerne dem Objekt nähern, lassen sich umgekehrt seine Objekte durchaus als Bildträger im reziproken Sinne lesen. Versuche ich dies zur Probe bei der Hülle des Poeten, muß ich mein Augenmerk ebenso auf den Spiegel wie auf die Kopfbedeckung, auf das mit Textstreifen gefüllte Herz wie die im Bademantel innen aufgebrachten Texte richten. Sowohl der Bademantel wie das Herz sind Hüllen im Sinne des Aufbewahrens von Gegenständen. Der Bademantel, eigentlich schützende Hülle, ist aber aufgeschlagen und gibt den Blick frei auf eigentlich Verhülltes. Das Herz, ebenfalls schützende Hülle - ich verweise darauf, daß Maria die Worte der Hirten in ihrem Herzen behält und bewegt, was immer das, tiefenpsychologisch gelesen, bedeuten mag - das Herz gibt als durchsichtige Hülle den Blick frei auf ein Textgemengsel aus Goethes Faust, den Supermarkt bildungsbürgerlichen Sprichwortgutes. Gleich 14 Seiten füllen in Büchmanns Geflügelten Worten die hier einschlägigen Zitate. Dennoch ist Wolfgang Ehehalts Hülle des Poeten nicht etwa eine verspätete Parodie zum Goethejahr. Da sei der Interpret davor, der im unteren Bademantel gleich eine Reihe weiterer Texte entdeckt, die wenn auch nicht von Weimars größtem toten, so doch von Botnangs größtem lebenden Dichter stammen.
Nicht zu übersehen ist ferner der in die Hülle eingesetzte Spiegel, in einer Leseschicht eine treffliche Anspielung auf jene berühmtberüchtigte Widerspiegelungstheorie linker Provenienz. Und schließlich ist der in der Kopfbedeckung verarbeitete Trichter einmal sprichwörtlich/umgangssprachlich zu deuten: eintrichtern sagen wir heute. Mit dem Trichter eingießen kannte aber bereits Sebastian Franck 1541 in seiner Sprichwörter-Sammlung. Zum anderen ist hier der Nürnberger Trichter nicht weit, der sich - schließlich heißt das Objekt ja Hülle des Poeten - auf eine bedeutende Poetik des Barock zurückführen läßt, nämlich Georg Philipp Harsdörffers Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen.
Womit ich wieder bei der Mehrdeutigkeit der Kunst Wolfgang Ehehalts, aber auch bei einem Lieblingsgegenstand des Eröffners wäre: den Poetiken der Renaissance und des Barock. Denn daß die Hülle des Poeten auch ganz konkret verstanden werden kann, wird spätestens deutlich, wenn ich meine Baskenmütze aufsetze, wenn ich verrate, daß ich seit einiger Zeit meinen ehemals weißen Bademantel vermisse, und wenn ich die dem Bademantel eingeklebten Texte als meinen Beitrag zu einem Buch enttarne, das ich gemeinsam mit Wolfgang Ehehalt über die kulturgeschichtliche und kulturelle Tristesse der Nesenbachmetropole verfaßt habe. Daß Ehehalt dabei den Trichter verkehrt, ist hier nicht ohne Hintersinn. Nun ist das Portraitieren durchaus die Lust Wolfgang Ehehalts. Mancherorts in dieser Ausstellung sind Portraits und Selbstportraits versteckt. In der Fußnote der Einladungskarte hatte ich bereits als für die Kunst Wolfgang Ehehalts charakteristisch festgehalten, daß sie einerseits Techniken gerne in witziger Verbindung handhabt, daß andererseits in und auf den Arbeiten seit Anfang der 70er Jahre bestimmte Bildelemente in immer neuen überraschenden Konstellationen begegnen. Neben Vögeln sind dies vor allem Fliegen, Löwen, Adler, gelegentlich ein Pleitegeier, Schweine und Einhörner. Und wie das durch die Volkskunst ikonographisch vorbelastete Herz haben auch diese Bildelemente trotz wechselnder Konstellationen ihre zumeist ziemlich genau eingrenzbaren Bedeutungen. Als Allegorie der gefangenen Einbildungskraft läßt sich zum Beispiel das Einhorn deuten, als das dem schönen Schein kontrastierte unscheinbar Schöne die Fliege, als Zeichen des Flüchtigen und Vergänglichen der Vogel.
Mit dieser Scheinwirklichkeit, unserer Scheinexistenz beschäftigen sich eindrucksvoll auch die großen Bilder der letzten Jahre, insbesondere das hier ausgestellte mit dem bezeichnenden Titel Der Wildhüter hat seinen Hochstand verlassen oder Selbstbildnis am Rahmen. Aus der Fülle seiner Anspielungen und Hintersinnigkeiten möchte ich nur die zentralen herausgreifen. Ich sagte, daß sich Wolfgang Ehehalt in vielen seiner Bilder selbst versteckt hat: so auch hier, am rechten Bildrand, und zwar in einer Ausdeutung, die sich zum ersten Mal Anfang der 70er Jahre im großen Skizzenbuch findet, dort mit der doppeldeutigen Zuschrift Der Maler beäugt sein Schwein. Vögel, in diesem Fall zwei Tauben, Fliege und Einhorn gehören zwar zu den immer wiederkehrenden Bildelementen, hier jedoch in denkwürdiger Konstellation. Wie in anderen Bildern der letzten Zeit (Begegnung mit dem Wildhüter in der Bergeinsamkeit des Monte Scherbelino; Einblick, Ausblick auf den Zollern) begegnet ferner die geöffnete Dachluke - eine Realie der Ehehaltschen Dachwohnung. Sie ist, in Verbindung mit den Tauben, zugleich die Öffnung nach Außen, Arche-Noah-Ausstieg in eine nicht sichtbare Außenwelt.
Die Wirklichkeit ist auf der unteren Bildebene aufgebaut bzw. in Ehehaltscher Manier angerichtet: Kraut und Knödel, Most, Schinken, Wein. Ganz links hätte man mit dem Schwein auch noch einen für Ehehalts Malerei signifikanten Nahrungslieferanten.
Bezogen auf den ins Bild integrierten Künstler und das Einhorn, das ich in einer Schicht als gefangene Einbildungskraft lese, entwirft also auf der unteren Bildebene Wolfgang Ehehalt sein Bild der Wirklichkeit, wobei er sich selbst und die Menschen, die in ihr vorkommen, im Vergleich zu den anderen Bildelemente disproportional verkleinert. In unserer verschwenderischen, verfressenen, maßlosen Gegenwart erscheinen die Menschen gleichsam als Zwerge ihrer Laster und falschen Gewichtungen. Das hat, wie vieles bei Wolfgang Ehehalt, durchaus Tradition, in diesem Fall rückführbar bis in die Renaissance, den Manierismus, zu Hieronymos Bosch's genrehaften Satiren. Ich erinnere an das Narrenschiff und - ganz konkret - an Pieter Bruegels Das Schlaraffenland. Die kritische Deutung unserer Wirklichkeit als eines Schlaraffenlandes wäre demnach die eine zentrale Bedeutungsschicht dieser Arbeit, der sich zugleich eine zweite gesellt, die sich über die auffällige Darstellung des Einhorns erschließt. Auch diese krummhornige, ziegenkopfähnliche Erscheinung hat ihr Vorbild in der Renaissance, konkret in Einhorndarstellungen Albrecht Dürers, undzwar in einer unvollendeten Randzeichnung zu Kaiser Maximilians Gebetbuch und in der Entführung der Proserpina. Die Dürersche Deutung des Einhorns, die Wolfgang Ehehalt erspürt hat und zitiert, weicht aber, wie die Forschungen Erwin Panofskys ergeben haben, sowohl von der christlichen wie der erotische manieristischen Einhorn-Allegorik bezeichnend ab. Denn steht der Kranich der unvollendeten Randzeichnung Dürers als Hieroglyphe für Wachsamkeit, wird dort wie bei der Entführung der Proserpina das Einhorn mit den höllischen Regionen, Dunkelheit und Nacht verbunden. Zu Ihrer und meiner Erinnerung: Proserpina, Tochter der Ceres und des Jupiter, wird von Pluto geraubt und ihm in der Unterwelt anvermählt. Eine Rückkehr in den Olymp setzt voraus, daß Proserpina dort keinerlei Speise mit dem Mund berührt habe, was jedoch nicht der Fall ist, da sie bereits einen Granatapfel gepflückt hat. Das aber gäbe der Schlaraffenland-Allegorik Ehehalts eine besondere Brisanz. Doch selbst ohne diesen Kontext ist die Erscheinungsform des Einhorns für den aufmerksamen Betrachter bedrohlich genug.
[Kornwestheim, Galerie Geiger
13.9.1986]