so ist es in der Literatur
über ihn festgeschrieben - war ein utopischer Architekt. Die einschlägigen
Arbeiten von Kultermann, Conrads/Sperlich, Pevsner, Sharp und Pehnt haben
ihn in der Architekturgeschichte im Umfeld des Expressionismus seinen Platz
zugewiesen. Und wenn er auch zu Lebzeiten keine seiner utopischen Ideen
realisieren konnte, als entschiedener Gegenpol zur Architektur eines Mies
van der Rohe behauptet er nicht nur den ihn zugewiesenen Platz, die praktische
Architektur beginnt, wenn auch zögernd, ihm zu folgen. Ich verweise
auf die Oper in Sidney, oder - näherliegend - auf die Olympiade 1972
in München, auf deren Baugelände ihn ein Brief der Architekten
Behnisch und Partner einlud, ich zitiere wörtlich: weil wir glauben,
daß auf dieser Baustelle ein kleiner Schritt in die Richtung getan
wurde, die Sie mit Ihren Arbeiten gegangen sind.
Gelegentlich nennt man Finsterlin
als Maler, nachdem seine letzte Ausstellung 1973 im Stuttgarter Kunstverein,
zwei Gedächtnisausstellungen in den 80er Jahren in Sindelfingen diesen
durchaus umfassenden Teil seines Oeuvres vorgestellt hatten.
Und schließlich kennt man ihn vielleicht noch als Dichter, verlas und verliest - nachdem Finsterlin selbst 1953 diese Kombination zum erstenmal erprobt hatte - im Rahmen von Ausstellungen und Eröffnungen Gedichte des Künstlers, zumeist aus den letzten Jahrzehnten. Eine Gedichtauswahl, die "Lieder des Pan", von Finsterlin 1964 im Selbstverlag herausgegeben, bietet die hier gern genutzte Quelle.
Aber die Rangfolge ist festgeschrieben: Hermann Finsterlin, ein utopischer Architekt, der auch dichtete und malte. Damit wurde zum Nebenwerk, was über weite Strecken der Biographie Hauptwerk war; wurde zum Hauptwerk, was in der Biographie nur eine Werkphase und einen Werkaspekt darstellt.
Das ist verblüffend, weil Finsterlin bei Anfragen sich stets als Gesamtkünstler vorgestellt hat, in einer häufiger zitierten "Biographie in großen Zügen" für sich reklamierte: Abstrakte Kollegen sehen in mir den kommenden Mann, weil ich absolute totale Malerei, Architektur und Dichtung mache. Dieselbe "Biographie [...]" spart bei Beschreibung der Folgen des künstlerischen Schlüsselerlebnisses die Architektur sogar aus und spricht ausschließlich von einer Bild-, Klang- und Wortorganisation nach naturgesetzlicher Ästhetik. Womit auch die Musik noch im Spiel wäre. Andere Selbstäußerungen Finsterlins verbinden dann alles miteinander zu einem Lebenswerk [...] in Bild, Bau, Klang und Wort bzw. Wort, Bild, Ton und Bau.
Auf diese vier Werkaspekte ist also jedes ernsthafte Bemühen um den Gesamtkünstler Finsterlin verpflichtet. Doch stellt das nur eine Schwierigkeit dar. Zweitens hat nämlich vor den theoretischen Überflug die hier gar nicht so schöngeistige Wissenschaft die Philologie gesetzt, die Sicherung von Daten und Fakten. Und genau sie wurde im Fall Finsterlin bisher nicht geleistet. Ungeprüft hat eine Publikation nach der anderen eine widersprüchliche Biographie kolportiert, bei der bereits die Eckdaten ungenau, oft falsch sind. So lautet zum Beispiel die entwicklungsgeschichtliche Abfolge nicht, wie überall nachzulesen: Abitur, abgebrochenes Studium der Naturwissenschaften, Kunstakademie, freischaffender Künstler, sondern praktisch umgekehrt: Abitur, abgebrochene künstlerische Ausbildung, freischaffender Künstler, abgebrochenes Studium. Ich erspare mir zahlreiche weitere Beispiele. Sie sind in der soeben erschienenen Monographie "Hermann Finsterlin. Eine Annäherung" nachzulesen. Für den Moment wichtig ist allein die genaue Datierung des künstlerischen Schlüsselerlebnisses, da dieses ja das Lebenswerk [...] in Wort, Bild, Ton und Bau auslöste.
Dieses Schlüsselerlebnis, das sich in Wirklichkeit aus zweien zusammensetzt, ist erstens eine nächtliche Watzmannbesteigung, die, der vorliegenden Literatur zufolge, entweder in einer Silvesternacht oder in einer Frühlingsvollmondnacht oder einfach nur in one moon-lit night entweder 1910 oder 1913 oder sogar erst 1920 stattgefunden hat. Korrekt fand sie 1918 statt, mit dem Gipfelergebnis, daß Finsterlin, ich zitiere: die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung [erschienen]. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- oder Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Ästhetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die übergeordnete Harmonie, war mir höchster Sinn des Lebens.
Erst ein zweites Schlüsselerlebnis fügte dann den drei genannten Kunstarten der Malerei, der Musik und der Dichtung die Architektur noch hinzu. Es war dies ein zwischen Watzmannbesteigung und Anfang 1919 zu datierender "Architekturtraum", in dem sich Finsterlin aus dem architektonischen Gefängnis der primitiven Steinwürfel mit den paar Kisten drin [...] in eine seltsame farbige Grotte mit reizvoll ausgekurvten Wänden und Ecken träumte. Mit der Folge, daß er einige solcher "Traumhäuser" auf dem Papier entwarf, um in ihnen - nach eigenem Bekunden - in der Phantasie zu leben. Diese "Traumhäuser" waren es auch, die er Anfang 1919 - einem Aufruf Walter Gropius folgend - nach Berlin sandte und die ihm zum künstlerischen Durchbruch verhalfen.
Dennoch: dieser schnelle Erfolg als "Architekt" darf nicht davon ablenken, daß es daneben und, von den Architekturen eigentlich gar nicht zu trennen, auch das andere Werk aus Bild, [...], Klang und Wort gab, das Finsterlin um 1925 im Kunstzaal d'Audretsch in den Haag, dann in einer bis heute nie wieder erreichten Komplexität 1928 im Stuttgarter Landesgewerbemuseum ausstellte, unter der bezeichnenden Überschrift: "Formen- und Farbenphantasien und -spiele".
Diese Ausstellung, erinnert sich Finsterlin in seiner "Biographie [...]", habe das Beste gezeigt, was er bis dahin geschaffen habe, die großen Wandbilder, die Holzplastiken, die Architektur, Bühnenbilder, Portraits, Textil und die drei Baukästen. Rechnet man hinzu, daß in den Vitrinen des Landesgewerbemuseums den einzelnen Exponaten zum Teil Gedichte beigegeben waren, hatte man in der Tat alles beisammen. Nicht in schlichter Addition, sondern, wie die Kritik zurecht erkannte, als ein Ganzes, das mehr war als die Summe seiner Teile, eine seltsame Wunderwelt, in der alles aufeinander bezogen sei. Herausgerissen aus dem organischen Zusammenhang, schrieb zum Beispiel der "Schwäbische Merkur", herausgerissen aus dem organischen Zusammenhang der Gesamtwerke des Kunstlers verliere das einzelne an Bedeutung und an Verständlichkeit. Hier in Rahmen einer umfassenden Schau bekomme es plötzlich Klarheit und ein festes Gesicht mit deutlich umrissenen Zügen.
Finsterlin hat für die damalige Ausstellung in Form von Beistelltafeln zum einzigen Mal in seinem Leben für seine bildende Kunst so etwas wie eine übergreifende Theorie versucht, wobei er - ausgehend von seinen Architekturbaukästen, dem Stilspiel, dem Didym, dem Formdomino - über das ,"Riesenspielzeug" schließlich auf das "Illusionistische Flächenbild" und seine "Stickereien" zu sprechen kam. Diese 'Theorie' ist in der Monographie nachgezeichnet. Sie hier zu referieren, hat auch deshalb wenig Sinn, weil sich die heutige Ausstellung neben einer umfassenden Präsentation der Baukästen und Spiele, die Monographie neben einer umfassenden Dokumentation des literarischen Werkes, vor allem auf die Aquarelle und Architekturen konzentrieren aus Gründen, die sich aus dem folgenden ergeben werden.
Zitiert sei allerdings aus der Beistelltafel zum "Illusionistischen Flächenbild" eine Bemerkung, die auch auf die Aquarelle zutrifft. Danach tritt auf dem "Illusionistischen Flächenbild", respektive dem Aquarell zu den in den Baukästen und Spielen vorgestellten anorganischen und organischen Stereotypen der Erde, sich ihnen verbindend, die beglückende, unendliche Verwandlungsmacht des Kosmos. Diese Verwandlungsmacht ermögliche aus jedem gegebenen Nebelflecken die Verwandtschaftsgebilde (die Similia) und darüber hinaus die unendlichen Spiel-Arten [...], die geistige Transmutation der Formelemente.
Das ist natürlich Theorie, die im Bild erst einmal Praxis werden will. Und da sprachen die Kritiker der den Haager Ausstellung auch etwas nüchterner von Formgesetzen des Ungreifbaren von den Sinnen enteilenden Bildern, die jede natürliche Formgebung vermeiden und jenseits der Wirklichkeit blieben. Statt an Nebelflecken fühlten sie sich an Ballung und Wiederauflösung von Wolken erinnert, an farbige Verschlingungen, an das Spielen farbiger Flecken. Und sie hatten mit Letzterem Finsterlins malerischen Ausgangspunkt durchaus richtig erfaßt. Betont er doch in der bereits mehrfach zitierten ",Biographie [...]" ausdrücklich, daß jedes [seiner] phantastischen Ereignisbilder [...] von je erst aus gegenstandslosen Farb- und Linieninspirationen erwachsen sei, wie die Architektur auch.
Das erleichtert es, nach Plazierung in der Architekturgeschichte, Finsterlins Ort auch in der Kunstgeschichte etwas genauer zu bestimmen. Innerhalb der Entwicklung der abstrakten Malerei, in einer Fülle sich oft widersprechender Theorien, ist, Marcel Brion folgend, zwischen einer abstrahierenden und einer gegenstandslosen Tendenz zu unterscheiden, zwischen einer Malerei, die die Gegenstände bis zur Unerkennbarkeit zerlegt und auflöst, und einer Malerei, die sich auf elementare Form- und Farbstrukturen ohne gegenständliche Assoziationsmöglichkeit konzentriert. In dieser Unterscheidung käme Finsterlin zunächst von den Abstraktionstendenzen des Jugendstils her, mit zahlreichen Berührungspunkten zur Obrist-Debschitz-Schule, aber auch zu einzelnen Künstlern und ihrem Werk: zu den organischen Kompositionen zum Beispiel Henri van de Veldes oder - deutlicher - zu "Kompositionen" Hans Schmithals'.
In dem Augenblick jedoch, in dem er nach 1919 beginnt, seine Aquarelle und Architekturen, die er deshalb aus gutem Grund auch Ereignisse oder Ereignisbilder nennt, aus gegenstandslosen Farb- und Linieninspirationen erwachsen zu lassen, kommt jene Traditionslinie ins Spiel, deren immer wieder einmal zitierter Kronzeuge der italienische Kunstkritiker Vittorio Imbriani ist. Der hatte 1868 angesichts einer kleinen Arbeit Filippo Palizzis, die lediglich ein paar nichtssagende Pinselstriche enthielt, gefolgert: die macchia, der malerische Ansatz sei das Entscheidende eines Bildes, nicht seine literarische Idee. Die Mehrdeutigkeit von macchia - Fleck, Klecks, Buschwerk, Dickicht und übertragen: Skizze - ist es auch, die lmbrianis Folgerung für Finsterlins Arbeiten interessant macht. Denn eine Reihe kleinerer, mittlerer und großformatiger Blätter voller Farb- und Linieninspirationen haben danach mehr als nur Atelierwert.
Bisher kaum bekannt und veröffentlicht, werden sie in der heutigen Ausstellung erstmalig in größerem Umfang gezeigt. Sie bestätigen, daß das, was Finsterlin Farb- und Linieninspiration nannte, automatische Form- und Farbnotation ist, eine peinture automatique, die Finsterlin als Fundus, als - wie er es nannte - Mutterlauge für seine Ereignisbilder betrachtete. Diese Skizzenblätter zeigen ferner, wie Finsterlin durch Ausgrenzen, Nachzeichnen, Fortführen im Detail die jeweilige macchia, das jeweilige Lineament in eine phantastische Gegenständlichkeit, in Richtung der Architektur trieb. Zuschriften am Blattrand oder im Blatt lassen dabei ablesen, in welch phantastische Richtung Finsterlin das jeweilige Ereignis deutete, welches Ereignis er in die jeweilige macchia, das spontan notierte Lineament hineinsah. Dabei können ein und dieselbe macchia, ein und dasselbe Lineament durchaus mehrere Ausdeutungen erfahren.
Hatte Imbriani gefolgert, nicht die literarische Bildidee, der malerische Ansatz sei das Entscheidende, wird Finsterlin in diesem Ausdeuten der macchia zugleich rückfällig. Denn indem er seinen malerischen Ansatz, seine automatische Niederschrift nachträglich inhaltlich besetzt, nimmt er seinem Ansatz die abstrakte Unschuld. Überzeugt von der Richtigkeit seines Verfahrens, hat er den radikalen Schritt zum Informel, zu dem er mit seinen Farb- und Linieninspirationen schon auf dem Weg war, nicht vollzogen. Dabei hätte er, in konsequenter Weiterentwicklung seines Ansatzes einer automatischen peinture, neben, ja sogar schon vor Hans Hartung zu einem entscheidenden Wegbereiter. des Informel, des hierarchielos ein und dieselbe macchia, ein und dasselbe Lineament durchaus mehrere Ausdeutungen aufgebauten Bildes werden können. So aber landete er notwendigerweise zwischen den Ismen.
Vielleicht liegt hier auch der Grund, warum den wirklich aufregenden Aquarellen und Architekturen zwischen 1918/1919 und 1924/1925, warum Finsterlins kunstgeschichtlich bemerkenswertem Ansatz nach 1925 praktisch keine eigentlich neuen Arbeiten mehr folgen. Eine Vermutung, die für die Baukästen und -spiele, die Essays und das literarische Werk ebenso gilt wie für eine kleine Anzahl verblüffender musikalischer Einfälle.
Auf dieses andere Werk muß deshalb abschließend der Blick noch gerichtet werden, auch um ansatzweise die These zu begründen, daß Finsterlins Tätigkeit in fast allen Kunstarten nicht ein künstlerisches Nebeneinander auf unterschiedlich ästhetischem Niveau, sondern ein Mit- und Durcheinander der Kunstarten war, das ihm mit mehr Recht den "Hang zum Gesamtkunstwerk" bescheinigt als vielen anderen Künstlern der gleichnamigen Ausstellung von 1983.
Dieses Mit- und Durcheinander wird schon äußerlich deutlich, wenn zum Beispiel die Babel-Metapher in Gedicht und Essay, die Midas-Metapher in Essay, Gedicht und Bild begegnet. Der Casanova des frühen Werkes permutiert zu den Architekturen der "Casa Nova"-Serie, von denen mindestens eine bezeichnenderweise "Palazzo Casanova" getitelt ist. Den Architekturzeichnungen des "Planetariums" und des "Haus[es] des Psychometers" entsprechen in einem Filmskript, "Der Trotz des Heils", das "astronomische Cabinett" und der "Psychometerturm". Finsterlins "Architekturtraum" einer seltsamen farbigen Grotte mit reizvoll ausgekurvten Wänden und Ecken schlägt sich entsprechend nicht nur in "Traumhäusern" und zahlreichen "Innenarchitekturen" nieder, er ist auch Auslöser für ein phantastisches Szenarium "Die Grotte" und bereits 1915/1916 in einem erotophilosophischen Essay als locus amoenus antizipiert.
Eines der vielen Spiele, die Finsterlin erfindet, bestand aus Karten, die entweder Zahlen oder Farben oder Eigenschaften oder Gegenstände oder Tätigkeiten bezeichneten und nach bestimmten Regeln aufzunehmen waren. Dadurch entstanden Texte der Art: ,,Grüne Tintenfische sprossen aus elf roten Glasspinnen und schießen aus ihren Näpfen Ketten von orangefarbenen Herzen. Die zerfallen in blaue Kamele aus Papier, während Elefanten aus Metall gelb-violette Wachsbäume aussaugen mit ihren Rüsseln. Das erinnert nicht nur an, das berührt sich konkret mit den instabilen unsinnigen Textwelten Hans Arps. Denn in seiner kleinen, jedoch hochkarätigen Dadabibliothek besaß Finsterlin auch Arps "die wolkenpumpe" von 1920, die er nicht nur gelesen, sondern regelrecht durchgearbeitet hat - ein dadaistisches Zwischenspiel, das umfassender ist, als der Hinweis anzudeuten vermag.
Finsterlin hatte dieses Kartenspiel jedoch nicht ausschließlich als Anregung zu phantastischen Geschichten für Erzählung, Bühne usw. gedacht, sondern gleichermaßen als Quelle für bildhafte Kompositionen und Illustration. Man darf den zitierten Text also auch auf jene Bilder beziehen, auf denen sich Elefanten tummeln, die ihrerseits wiederum aus einer Farb- und Linieninspiration 'erwuchsen' und häufig als der Ganesha der indischen Mythologie ausgedeutet wurden.
Ist der Ausgangspunkt einer Farb- und Linieninspiration derart auch auf das Entstehen unsinniger Textwelten übertragbar, für einige Partituren, die von Klecksen ausgehen, gilt dies konkret. Und wie diese fragen lassen, ob Finsterlin Partituren Ferruccio Busonis gekannt hat, stellt zum Beispiel das Aquarell "Die Macht der Klänge" die Frage nach der Bekanntschaft Finsterlins mit zeitgenössischen Überlegungen zur Klangfarbe. Zugleich weist ein Gedicht "Musik der Kugeln", das Aquarell eines mit einer Hand Leier spielenden, mit der anderen Mauern auftürmenden "Orpheus" auf den Mythos zurück. Daß Finsterlin auch ein "Konzerthaus" entworfen hat, versteht sich von selbst. Und wenn er auch die Zwölftonmusik nicht erfunden hat, eine Zwölfton-Tonleiter spielt ebenso wie eine sechstonige Tonleiter in seinen Aphorismen eine Rolle, die wiederholt Musik und Farbe verbinden. Die sechstonige Tonleiter, schreibt eines dieser Notate, als Reinigungserlebnis unseres Gehörs. Die zunehmende Dissonantik der neueren Musik als unbewußter Weg zum Richtigen. Unsere bisherige Harmonie ist reine Gewohnheit, wie die Geschmäcke der Kochkunst und pervers wie diese. Als Analog zu der Excentrik unseres Tonsystems käme höchstens die Erscheinung der Irridation in Frage, welche die drei Grundfarben in ihren Größen differenziert, vom großen Gelb ins kleine Blau. Körperliches Symbol "der plastischen Pythagoräer". (Vgl. dazu auch das Aquarell "Pythagoras").
Das mag an Hinweisen auf das andere Werk und darauf genügen, daß im Falle Finsterlins keine Kunstart getrennt von der anderen betrachtet werden sollte. Was er hinterließ, war ein Werk, dessen Wasserzeichen in einem übertragenen Sinne das Ausgehen von Farb- und Linieninspirationen war. Ein Werk, in vielen Aspekten zeitgenössischer, als bisher erkannt, in seiner irrationalen Grundierung auf den Mythos jedoch und in seiner kosmischen Dimensionierung eher ein Einzelfall. Und es ist dies ein Werk, dessen entschiedenes Movens drittens das Spiel war. Paul Scheerbart hatte diesem Spiel in einer Permutation das Motto gegeben. Finsterlin kannte es als Zitat aus dem utopischen Briefwechsel der "Gläsernen Kette" und hat sich in einem seiner Briefe ausdrücklich dazu bekannt.
Im Stil ist das Spiel das ZielDaß sein Spielen nicht auf die Architekturen, sondern gleichermaßen auf Aquarelle, Musik und Literatur ausgerichtet war, sie alle miteinander verbindend, das hoffe ich hinreichend deutlich gemacht zu haben. Es ist an der Zeit, und die Ausstellung mit ihrem Katalog möchte den längst fälligen Anstoß dazu geben, es ist an der Zeit, Finsterlins Gesamtkunst zu mustern, die Rangfolge ihrer Teile erneut, ja zum erstenmal zu gewichten.
Im Spiel ist das Ziel der Stil
Am Ziel ist das Spiel der Stil.
[Staatsgalerie Stuttgart, 22.4.1988; ferner: Düsseldorf: Kunstmuseum, 7.8.1988; Landesmuseum Münster, 12.11.1988; Moskau. Architekturmuseum, 15.2.1990. Teildruck: Hermann Finsterlin, Gesamtkünstler. In: Zyma. Kunstmagazin Jg 6, 1988, Nr 2/3, S. 60-63].