Eine Wandmalerei in Schömberg | Im Kontext der Wandbilder | Genie und Dilettant | Zur Ikonographie Finsterlins | Erotik und Architektur | Repliken und Collagen | Schluß | Anmerkungen
Gut vierzig Jahre nach seiner Entstehung wurde es möglich, im Foyer des Schömberger Kurhauses ein Wandgemälde, ein Wanddoppelbild, die 1979/80 mit einer schweren Velourtapete überklebt worden waren, und ein Deckenfresko Hermann Finsterlins wieder freizulegen und zu restaurieren. Sie sind, zusammen mit einigen kleineren Deckenbildern in einem anschließenden Raum, heute der einzig erhaltene Beleg für einen Teilaspekt eines Gesamtwerkes eines Gesamtkünstlers, das von Ansätzen abgesehen (1) immer noch seiner gründlichen Erforschung harrt. Lediglich der Aspekt des utopischen Architekten Hermann Finsterlin ist bisher international und umfassend gewürdigt, macht aber zum Hauptwerk, was innerhalb des Gesamtwerks nur ein Teilaspekt ist. Vielleicht liegt eine Erklärung darin, daß kurz nach der Ausgestaltung des Schömberger Kurhauses die Architekturgeschichte den am 18. August 1887 in München geborenen, am 16. September 1973 in Stuttgart gestorbenen Hermann Finsterlin für sich reklamierte in einer Diskussion, in der Udo Kultermann an die Stelle der traditionellen statischen eine "Dynamische Architektur" (2) stellen wollte, in der Ulrich Conrads und Hans G. Sperling in ihrer "Phantastischen Architektur" den "Unterstömungen in der Architektur des 20. Jahrhunderts" (3) nachspürten unter einer dem phantastischen Dichter Paul Scheerbart entlehnten Permutation:
Daß Hermann Finsterlin sein künstlerisches Schaffen immer als Ganzes, als Summe der Teile verstand, wurde spätestens deutlich, als er im Oktober 1928 eine erste umfassende Werkausstellung im Landesgewerbemuseum Stuttgart bekam, auf der er nach eigenem Bekunden das Beste zeigte, was er bis dahin geschaffen hatte. Die großen WandbiIder, die Holzplastiken, die Architekturen, Bühnenbilder, Portraits, Textil und die drei Baukästen.
Wenn Finsterlin in seiner Aufzählung mit Wandbild auch das große Tafelbild meint, eine Gleichsetzung mit Wandmalerei ist hier, wie leicht belegbar, durchaus möglich, und nicht nur dort, wo beidem Miniaturen zugrunde liegen, Ideenskizzen, die oft zu Tafel- oder Wandbild einfach vergrößert wurden.
Konkret für das Schömberger Wanddoppelbild haben sich zwei solcher Miniaturen erhalten, Die dem linken Wandbild zugrunde liegende Miniatur (Abb. 1) zeigt eine nackte weibliche Figur mit Schwert im Kampf mit einer dreiköpfigen Schlange. Eingeschrieben ist ihr von oben nach unten in griechischen Großbuchstaben ¢HRA KLEA [= Heraklea], ein Wort oder Name, der sich zunächst nicht erschließt. Die dem rechten Wandbild zugrunde liegende Miniatur (Abb. 2) zeigt den seitlich gewendeten Kopf und angedeuteten Körper eines Hasen, aus dem ein weiblicher Akt herauswächst. Hier lautet die Einschrift am unteren linken Bildrand OSTARA, und benennt damit eine von Jacob Grimm aus einer Notiz bei Beda Venerabilis (4) und aus der althochdeutschen Bezeichnung ostara für das Osterfest erschlossene altgermanische Frühlingsgöttin, deren Existenz und Verehrung bei den Germanen allerdings bis heute ungesichert ist. Ihr den Naturkäften zugehörender Kult war nach Bächtold-Stäubli (5) vor allem in ganz Niederdeutschland, aber auch in Bayern verbreitet, und der Hase war eines der ihr heiligen Tiere. Dem Äußeren nach wird sie beschrieben als ein gleich der Eos sich leicht fortbewegendes, in ein goldschimmerndes Gewand gehülltes Wesen, vielleicht aus dem Meer aufsteigend, mit gelben Schuhen, jeden Morgen weckt sie alle lebendigen Wesen aus ihrem Schlummer und naht sich den Häusern mit schimmernden Schätzen. Zarte Keime brechen aus ihren Spuren hervor, wenn sie über die Erde dahinwandelt.
Ist es mit Hilfe der Namenseinschrift noch relativ leicht, den Akt des rechten Wandbildes als eine allerdings unbekleidete Ostara zu enträtseln, ist dies beim linken Wandbild, bei dem die weibliche Figur der Skizze in eine nackte männliche Figur mutierte, nicht ohne einen Exkurs möglich. Eine Heraklea gibt es in der Mythologie nicht, wohl aber einen Herakles, der von Hermann Finsterlin dann als Heraklea feminisiert wäre, was bei Finsterlins Freude an Sprachspielen, an erotischen Anspielungen in vielen seiner Arbeiten durchaus angenommen werden darf. Bezeichnet Heraklea die agierende Person, wäre die Heraklea der Skizze auf dem Wandbild in einen Herakles zurückmutiert, der allerdings statt der Keule ein Schwert schwingt. Die dreiköpfigige Schlange ließe sich dann als die (in der Mythologie freilich neunköpfige) Hydra deuten, die sich im Kampf mit Herakles um einen seiner Füße wand und daran festhielt (vgl. Skizze und Wandbild links unten). Wenn auch in ihrer Ikonographie nicht eindeutig, die Tendenz der beiden Wandbilder und der ihnen zugehörigen Skizzen ist klar: auf dem linken Bild der Kampf gegen das Zerstörerische, auf dem rechten das Belebende: aufsteigendes Licht, Morgen, Frühling.
Auch beim dritten Schömberger Wandgemälde bietet eine Miniatur (Abb. 3), auf der sich in einer kristallinen Berglandschaft Figuren tummeln, den Vergleich mit seiner endgültigen Ausführung (Abb. 4) an. Auf ihr fehlen dann allerdings die Kristallwesen, die Finsterlin anderen Orts auch "Kristallelfen" genannt und wiederholt zur Belebung von Skizze und Bild instrumentiert, aber auch literarisch bedacht hat:
Wandbilder stellen im Gesamtwerk Finsterlins einen durchaus größeren Komplex dar, der im Rahmen dieser Ausstellung wenigstens skizziert werden sollte.
Der Stuttgarter Kunsthistoriker Hans Hildebrandt hat in seiner 1924 erschienenen "Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts" den Maler Hermann Finsterlin zwischen Paul Klee und die Surrealisten eingeordnet, ihn zunächst als utopischen Architekten gewürdigt, um dann fortzufahren:
Dem Wunsch nach grenzenloser Freiheit des Gestaltens geht Finsterlin als Maler, Plastiker und Dichter nach. Die Bezeichnungen sind so absonderlich wie jene Klees. Bei den Gemälden scheinen die Farben das Erstgegebene. Sie verwandeln sich, wie Wolken vor dem träumenden Auge, in Menschenwesen, Fabeltiere, Riesenvögel, Meerungeheuer, Wunderpflanzen, Gebirge, auftauchend und versinkend in einem unendlichen, unirdischen Raum. Erinnerungen an das Liniengeschlinge des Jugendstils verschwinden mehr und mehr. Die plastischen Gebilde, kleinen Umfangs, doch durch ihr Bedeuten ins Große wachsend, ordnen die fremdesten Dinge und Materialien zu überraschenden Gruppen, die ein verfeinerter Sinn für Beziehungen zusammenhält.
Abgebildet hat Hans Hildebrandt die Wandmalerei "Würfelstadt und Brillenschlange" (6) die sich, einer rückseitig beschrifteten Photographie aus Hermann Finsterlins Nachlaß zufolge, in Berchtesgaden befunden hat. Es ist dies die früheste Abbildung eines Finsterlinschen Wandbildes, wenn auch nicht sein erstes. Wesentlich früher dürfte eine in der Photographie erhaltene Wandmalerei für das Weinhaus Gilitzer in München zu datieren sein (7), die schon wegen ihrer Attribute, darunter eine im Frühwerk Hermann Finsterlins häufiger begegnenden Eule, auffällig ist.
Als Hermann Finsterlin 1935 den Auftrag bekommt, die Orchestermuschel und einige Wandfüllungen der sich anschließenden Wandelhalle des Bad Mergentheimer Kurhauses auszumalen, wird dies (sogar zweimal) auch in der heimatlichen Presse unter "Erfolge Berchtesgadener Künstler" mitgeteilt in einer Meldung, die ablesen läßt, daß sich die Botschaft der Wandmalerei den allzunüchternen, verhärteten Beschauern offensichtlich nicht ohne Kommentar (Beiworttafel) erschloß:
Die malerische Ausgestaltung, die sich auf die große Orchestermuschel und ein paar Füllungen der anschließenden Wände beschränkt, besorgte Hermann Finsterlin aus Berchtesgaden-Schönau mit seinen märchenhaften Gestalten einer schwerelosen Welt, deren dekorativen, wie hauptsächlich auch befreiend-befreuenden Heilsinn eine Beiworttafel in Form einer kleinen Dichtung allzunüchternen, verhärteten Beschauern vermittelt.
Auch diese Wandmalerei hat sich nicht erhalten, doch lassen einige Entwürfe (bzw. Skizzen) wenigstens Vermutungen zu. Auf einem ersten (Abb. 5) findet sich unter den Tieren, die die Arche Noah (links) über die Brücke des Regenbogens verlassen, wiederum eine den Kopf aufrichtende Schlange. Gleichzeitig wird der Regenbogen als Liniensystem interpretetiert und mit einer durchaus sinnvollen Notenfolge besetzt. Deutlicher noch in zwei weiteren Entwurfsvarianten (Abb. 6, 7), auf denen sich, ohne die Tiere der Arche, auf der einen Seite der Regenbogenbrücke ein Menschenpaar, auf der anderen Seite ein Flügelroß befinden, das gleichfalls zur Ikonographie Hermann Finsterlins gehört und im konkreten Fall die Dichtung der Musik an die Seite stellt. Nur hingewiesen sei darauf, daß der Berg/Felsen, auf den die Arche aufgesetzt ist (Abb. 5), als Form auch in den Architekturen Hermann Finsterlins begegnet.
Eine weitere, die Wandmalereien Hermann Finsterlins betreffende, ihr Unübliches und Märchenhaftes betonende Nachricht erscheint am 27. Juni 1936 unter der Überschrift: "Berchtesgadener Künstler im Ausland":
Aus Spanien wird uns geschrieben: "Es bedeutet in der Fremde, besonders in Deutschen armen Gebieten stets ein Fest, einem artigen Landsmann zu begegnen, vertraute Sprache zu hören und arteigenen Geist; noch erlesener aber wird die Stimmung, solchen Landsmannes reinsten Wesenseindruck, sein Werk, fern der Heimat und seiner Person, zu entdecken. So begrüßen den Besucher der gepriesenen spanischen Insel Mallorca in derem jüngsten, aufblühendem Strandorte Cala Ratjada im Speisesaal des herrlich gelegenen Hotels Castellet 2 große Fresken des Berchtesgadener Malers Hermann Finsterlin. Märchenhaft, wie alle seine Gebilde, wirken sie in dieser an sich schon gesteigerten Natur kaum überirdisch, - nur den gewohnten Wandbildern solcher Stätten gegenüber wohltuend unüblich, und erfreulich, daß auch in diesen Ländern ein Verständnis wach ist für die schöpferische Romantik und das handwerkliche Können eines deutschen Künstlers."
Den genannten Wandbildern in Bad Mergentheim und auf Mallorca folgen nach 1945 Arbeiten in Tripolis (bisher nicht belegbar), Schömberg und Tripstrill, die sich - mit Ausnahme Schömbergs - nicht erhalten haben. Ob weitere von Hermann Finsterlin und in der Literatur angegebene Wandbilder wirklich realisiert wurden, war bisher nicht zu ermitteln. Mehr als die genannten hat es aber wahrscheinlich gegeben.
Soweit sich Photographien oder Entwürfe (Abb. 8, 9, 10) erhalten haben, lassen diese unschwer erkennen, daß Finsterlins Wandmalereien in der Regel Vergrößerungen dessen sind, was zuvor als Miniatur oder Skizze, als Ideenentwurf ausgeführt wurde. Wobei sich im Laufe der Jahre ein bestimmter, einmal gewonnener Formen- und Figurenschatz mit meist geringer Spannung zunehmend wiederholt, wie ein Vergleich der Schömberger Skizze und des zugehörenden Wandbildes (Abb. 3, 4) mit dem linken Teil der Entwürfe (Abb. 9, 10) deutlich macht, auf denen rechts auch die überschlagenden Wellen vorgesehen sind, die, in der Miniatur noch nicht vorhanden, dem 3. Schömberger Wandbild rechts unten attribuiert wurden. So daß jeder Interessierte vor dem Problem steht, einen bei Hermann Finsterlin auch sonst eigentümlichen Widerspruch von inhaltlich hoch Gestelltem und ästhetisch oft deutlich schwächerer Realisation aufzulösen.
Hermann Finsterlin hat sich nicht nur im Kontext des utopischen Briefwechsels der "Gläsernen Kette" (8) als Genie verstanden, als Meister, in den die Gottheit springen werde, so z. B. in dem Gedicht "Musik der Kugeln" (9), er hat für sich an anderer Stelle auch den Autodidaktismus reklamiert mit der Begründung, der wahre Künstler könne nur bei sich selbst in die Schule gehen. Diese Verbindung von Meister und Autodidakt, von Genie und Dilettant muß beachtet werden, denn sie ordnet Hermann Finsterlin als Gesamtkünstler ein in eine Tradition, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herschreibt: beginnend mit Künstlern wie Johann Heinrich Füssli, der zunächst Oden dichtete, heute aber nur noch als handwerklich durchaus nicht vollkommener Maler bekannt ist, mit dem jungen Johann Wolfgang Goethe, der bis zu seiner "Italienischen Reise" zwischen bildender Kunst und Dichtung schwankte, oder mit dem viel zu wenig bekannten Friedrich (Maler) Müller, der beides miteinander produktiv zu verbinden suchte. Der junge Goethe war es auch, der in seiner bekannten "Prometheus"-Ode und einem gleichnamigen dramatischen Fragment diesen jungen Doppelbegabungen und von sich selbst überzeugten 'Schöpfern' selbständiger ästhetischer Welten das Stichwort lieferte, das Hermann Finsterlin praktisch aufgreift, wenn er eine Arbeit wahrscheinlich aus dem Jahre 1918 "Prometheus" titelt (10), wenn er sich im Briefwechsel der "Gläsernen Kette" den Decknamen "Prometh" gibt, wenn er seinen zweiten großen Architektur-Essay "Der achte Tag" überschreibt und in ihm das Bauen anspruchsvoll definiert als der Schöpfung siebenten Tag weitertragen um eine Welle in der Brandungskette, die liebend tändelt mit Unendlichkeit.
Berücksichtigt man dies, sind der intendierte dekorative, wie hauptsächlich auch befreiend-befreuende Heilsinn der Bad Mergentheimer Fresken, auf den Schömberger Wandmalereien der Kampf gegen das Zerstörerische auf der einen, das belebende Erwachen auf der anderen Seite nicht plan zu verstehen, eine oberflächliche Anspielung des Mythos. Hermann Finsterlins ganze Kunst, zu der auch ein umfangreiches essayistisches, literarisches und sogar - weniger umfangreich - musikalisches Werk zu rechnen sind, ist im Grundgedanken vielmehr verwurzelt in einem Rekurs auf die Urformenwelt, ihre anorganischen Urkörper und die Urkörper der Organismen.
Daß dieses nicht ohne weiteres vom Betrachter nachvollziehbar war, muß Finsterlin relativ früh klar geworden sein. Jedenfalls hat er bereits 1928 seiner Stuttgarter Ausstellung, die "Formen- und Farbenphantasien und -spiele" überschrieben war, einen Kommentar mitgeliefert in Form von Beispieltafeln (Beiworttafeln) zu den einzelnen Exponaten bzw. ihren Gruppen..
Und die sollten in einer ersten Variationsreihe der sogenannten platonischen Körper, der Kugel, des Zylinders, des Kegels, des Würfels, der Pyramide etc. einerseits die großen Typen der Weltarchitektur vorstellen: im "Stilbaukasten" (11), den Hermann Finsterlin in einem weiteren Kommentar als spielerische "Genesis der Weltarchitektur" verstand. Auf der anderen Seite, war Hermann Finsterlin überzeugt, habe sich aus den Urbildern der Organismen, der Bewegungsspindel, dem Gliederstern, der Schlange, dem Baum etc. in Idolen und Symbolen, in Wort und Bild der Weltmythus geschaffen, auf den das "Riesenspielzeug" Bezug nehme.
Da aber das gewaltige Trägheitsgesetz, der allzu-menschliche, allzu-irdische Naturalismus den Fluß dieser ersten Variationsreihen erstarren ließ, ja sogar unter sich begrub, sei es Aufgabe des Künstlers, diese Variationsreihen fortzusetzen.
So zeige der Baukasten "Didym" im Anschluß an das "Stilspiel" Abwandlungen, die wohl aus technischen Gründen in der Architektur vergangener Kulturen unterblieben waren, die Com-bi-nationen der verschiedenen Grundkörper, ihre Durchdringung durch alle gesetzmäßigen harmonischen Punkte, Kanten und Flächen. (Abb. 11, 12, 13)
Um den Schritt zur Analyse und Synthese der Grundkörper leisten zu können, hat Hermann Finsterlin dann im "Fomdomino" (nicht in dieser Ausstellung) die beiden Unendlichkeitskörper, den bipolaren Zylinder und den Vierkant (als Würfel), die Bogen- und Bruchkörper, in ihre Urelemente, in Kugel, Kegel, Tetraeder und Oktaeder und deren produktive Spielarten aufgelöst, und damit aufgrund der Verwandtschaft ihrer Zerfallsflächen neue Komplexe mit absolut harmonischen Beziehungen in fast unabsehbarer Anzahl ermöglicht.
Beim "Riesenspielzeug" schließlich geht Hermann Finsterlin von der Ruhekugel, der Schlange und der Verbindung beider zur periodischen Spindel, dem Optimalprojektil als organischen Urelementen aus, die zugleich die wesenhafte Belebung der Elementarkräfte symbolisieren. Denn das Projektil sei nicht nur die Optimalform [...] der fliegenden, schwimmenden, laufenden Organismen. sondern auch des Baumes, der Flamme, des Irrsterns usw. [...] während die Schlange außer den organischen Vertretern in der Gestalt der Woge, des Windes, des Blitzes usf. [...] zum Ausdruck komme.
Verbinde man diese Grundformen
und wiederum ihre Verbindungen miteinander und untereinander, bekomme man
ein Reich von Typen zweiten Grades, welche uns zum Teil mehr oder minder
rein, merkwürdig gleichweise im Weltmythus wie im Mikroskope entgegentreten:
z.B. die Hydra (Schlangenbaum) des indischen und griechischen Mythus und
der unendlich teilbare Hydrapolyp des Teiches, - Proteus und die Amöbe,
Indra- und Seestern [...] und die ganze Reihe der Mischwesen durch die
Götterwelt des Weltmythus.
Zweck des "Riesenspielzeugs"
sei es, zur Weiterführung dieser märchenhaften Kombinations-
und Variationsreihen anzuregen, [...], herauszuführen in die ewige
Lebendigkeit der unerschöpflichen
Qualitäten, bis in die
fast haIluzinatorische Allmacht der bildhaften Vorstellung hinein.
Was für den Künstler als Movens im Grunde nichts anderes formuliert, als es der Essay "Der achte Tag" für den Architekten festgeschrieben hatte, nämlich der Schöpfung siebenten Tag weitertragen um eine Welle in der Brandungskette, die liebend tändelt mit Unendlichkeit.
Hermann Finsterlins Holzplastiken, das Märchenspielzeug z.B., die mit und für dieses Spielzeug erfundenen Spiele sind ebenso wie die Bühnenbilder der Ausstellung von 1928 eine Nutzanwendung des "Riesenspielzeugs", freigesetzte Phantasie seines Schöpfers resp. Erfinders. Im Sinne einer explizit nie ausformulierten, dahinter aber verborgenen Evolutionstheorie, die in manchem an Goethe gemahnt (12), ist das organische "Riesenspielzeug" Fortsetzung der 'anorganischen' Baukästen, selbst aber wiederum transzendierbar ins "Illusionistische Flächenbild", auf dem nach Hermann Finsterlin zu den (anorganischen und organischen) Stereotypen der Erde - sich ihnen verbindend - die beglückende, unendliche Verwandlungsmacht des Kosmos tritt, den er als die Heimat unseres souveränen Geistes begreift. Diese Verwandlungsmacht ermögliche aus jedem gegebenen Nebelflecken die Verwandtschaftsgebilde (die Similia) und darüber hinaus die unendlichen Spiel-Arten [...] die geistige Transmutation der Formelemente.
Das ist natürlich Theorie, die im Bild erst einmal Praxis werden will. Und die geht - analog - von Farbflecken und hingeworfenen Lineamenten aus, von gegenstandslosen Farb- und Linieninspirationen, der Mutterlauge, aus der sich im Malprozeß die phantastischen Ereignisbilder ausformen. Vittorino lmbrianis für die Vorgeschichte der abstrakten Malerei so zentrale These/Theorie vom Fleck, der macchia (13) läßt sich also auch für Finsterlins Ausgangspunkt geltend machen, mit dem Unterschied allerdings, daß seine Architekturen, daß seine Bilder auf einer anderen Realitätsebene schließlich anorganisch/organisch Gegenständliches assozieren.
Man kann das vereinfacht so darstellen, daß Finsterlin beginnt, Blätter mit zufälligen Farbflecken (oder auch Lineaturen) zu füllen, um sie danach assoziativ auszudeuten. Häufig hat Finsterlin diese Blätter anschließend zerschnitten und der Sammlung seiner Miniaturen eingeordnet. Die Abbildungen 14 - 18 zeigen Beispiele derart abstrakter, noch nicht ausgedeuteter Miniaturen, die Abbildungen 19 - 23 Miniaturen, die diesen Ausdeutungsprozeß bereits deutlich erkennen lassen.
Daß sich in den Ausdeutungen der Farb- und Linieninspirationen, in den - wie Finsterlin sie ja auch nannte - phantastischen Ereignisbildern ikonographische Konstanten ergeben, die sich aus dem Unterbewußtsein ihres Künstlers, aber auch aus Handschrift und Pinselduktus erklären lassen, liegt auf der Hand. Dabei sind die Inhalte, die Finsterlins Phantasie in seine Farb- und Linieninspirationen hineinsieht, wie das bisher Ausgeführte bereits vermuten läßt, überwiegend mythologisch besetzt. Dies hier im Detail darzustellen, fehlt der Raum. Doch können im Rahmen dieser Ausstellung drei Beispiele bereits aufschlußreich sein.
Immer wieder hat Finsterlin Farbflecken als Elefanten ausgedeutet (Abb. 24). Das weist zurück auf frühe erhaltene Bilder vor 1918, darunter ein Ölbild "Elephanten-Kampf" oder eine Miniatur (Aquarell) "Krebs und Elephant". Nach 1918 resultieren die Elefanten zunehmend aus Farb- und Linieninspirationen und sind häufig als der Ganesha der indischen Mythologie zu lesen. Doch tummeln sie sich auch in Finsterlins unsinnigen Textwelten, so in einem Kartenspiel, bei dem Texte erspielt werden konnten der Art
Grüne Tintenfische sprossen aus elf roten Glasspinnen und schießen aus ihren Näpfen Ketten von orangefarbenen Herzen. Die zerfallen in blaue Kamele aus Papier, während Elefanten aus Metall gelb-violette Wachsbäume aussagen mit ihren Rüsseln.
Oder:
Ein Turm von Elefanten zerfällt in erstarrte Wogen, aus denen ein Schirm mit Händen an den Spitzen einen Tempel baut.
Natürlich hat es den Elefanten auch als "Spielzeug" (als Holzplastik) gegeben (Abb. 25), ebenso das ihm verwandte Mammut.
Als "Spielzeug" gibt es die Schlange in allen möglichen Spielformen, als Schlangenbaum (Abb. 26), als geringelte Schlange u.a.. Sie war bzw. ist ikonographisches Element der Wandmalereien in Berchtesgaden und in Bad Mergentheim, in Schömberg sowohl im linken Wandbild wie im großen Deckenfresko (Abb. 27). Sie hat ihren Part in den unsinnigen Textwelten des schon zitierten Karten- und Märchenspiels:
Hiebei regnet es hellblaue Fächer, die auf eine Kette wächsener Glocken sinken und drauf nach einer roten Schlange aus Wasser jagen, die plötzlich in einem goldenen Wechseltierchen verschwindet.
Sie wird in Hermann Finsterlins Szenarium "Sphinx hoch drei" von Bellachini beschworen:
Eine dritte Form, die Hermann Finsterlin gerne aus seinen Farb- und Linieninspirationen herausgelesen und gedeutet hat, ist die Schnecke. Sie begegnet als "Spielzeug" in Gestalt einer "Moscheenschnecke". Als "Schneckenhäuschen" hat Erich Mendelsohn in einem Brief an seine Tochter Esther Hermann Finsterlins Architekturen freundschaftlich ironisiert:
Zwei Exponate sind geeignet, einen bei Finsterlin häufiger zu beobachtenden Übergang von erotischer Implikation zu erotischer Darstellung zu illustrieren (Abb. 28, 29), wobei das zweite Exponat deutlich noch als 'Architektur' kenntlich gemacht ist.
Eine solche Doppelung von Architektur und erotischer Zeichnung läßt sich bereits für Anfang der 20er Jahre nachweisen, ist vorbereitet in einer bisher unveröffentlichten erotischen Prosa "Das höchste Lied", dessen Entstehung in die Jahre zwischen 1915 und 1918 zu datieren ist.
Als Erotikum nicht sonderlich aufregend, ist diese auch als "Erotophilosophische Essays" ausgewiesene Prosa bemerkenswert wegen ihrer These, daß das ganze körperliche Leben der beiden Liebenden, die Hermann Finsterlin bezeichnenderweise Adam und Eva nennt, ja nur ein kosmisches Symbol sei,
nur ein fabelhaft compliziertes verfeinertes Kreisen zweier organischer Pole um die Achse dieses, urewig menschlich-göttlichen Idols; das waren keine beschränkte menschlichen Glieder mehr, die da in entzückend wechselnden Formen überakrobatisch mit proteischen Wetten gewürzt um einen Mittelpunkt spielten, - das waren fleischgewordene polare Kräfte, das waren zwei zerschmelzende Weltkörper, die in durchseeltesten Formprotuberanzen der Idealkugel sich entgegenbildeten.
Die erotische Projektion Finsterlinscher Phantasien der Architekturen könnte von hier her durchaus eine Erklärung finden, eine "Architektonische Liebe" (15) aus den frühen 20er Jahren als exemplarische Illustration dienen. Das ist von den Zeitgenossen durchaus erkannt, gelegentlich in Unkenntnis der Intentionen Finsterlins aber auch gründlich mißverstanden worden, wie sich einer "Bilan d'une génération" des surrealistischen Dichters Yvan Goll entnehmen läßt, der u.a. die "Architektonische Liebe" als Illustration zugeordnet war:
La larve, le crapaud, la bête, les voici à nouveau dans cette nouvelle crise de l'esprit qui suit la guerre: les rêves effarants d'Hermann Finsterlin [...], qui de visqueuses éjaculations rappelant les horreurs sous-marines ou celles des viscères ou celles des actes impurs de la bête, prétendent à dégager des gestes l'architecture; et une attitude chère à notre coeur; et aussi le Plan lui-même, qui est par essence la cristallisation de l'ordre géométrique, l'ordre, cette sommation de l'esprit. Perversion, dégringolade. Ou rêve? Oui, rêve affreux! (16)
Als um 1970 der schon genannte Udo Kultermann eine Publikation über "anthromorphische Architektur" plante, sollten auch Abbildungen von Arbeiten Finsterlins, Paarungen von Mann und Frau als figurative Motive für Bauten einbezogen werden. Es ist nicht mit Sicherheit anzugeben, welche Arbeiten Hermann Finsterlin Udo Kultermann bei einem Besuch in Stuttgart [...] gezeigt hatte. Wahrscheinlich jene "Verwandlungen" vor allem der 20er Jahre, für die Ovids "Metamorphosen" den Namen und die Beispiele gegeben hatten. Wobei sich nicht ausschließen läßt, daß auch schon die deutlich schwächeren "erotischen Miniaturen" darunter waren, die Finsterlin 1970 unter dem Titel "Verwandlungen des Zeus", zusammen mit Gedichten, veröffentlichte. Jedenfalls verlieren die oft nur andeutenden erotischen Architekturen (Abb. 30), erotische Aquarelle, die sich nicht mehr zu archtektonischer Form schließen (Abb. 31) im Übergang zu den eindeutig erotischen Miniaturen in der Regel ihre spielerische Mehrdeutigkeit und ihre (nicht nur ästhetische) Spannung
Als Finsterlin das Schömberger Kurhaus ausmalte, war sein Repertoire abgesteckt, Überraschendes eigentlich nicht mehr zu erwarten, ebenso wenig bei den Architekturen, die kurze Zeit später wiederentdeckt wurden. Was folgte, war Wiederholung, Versuch, die späte Anerkennung auszubeuten. Das führte im Falle der Architekturen zu Repliken, oft in Buntstift oder Wachskreide (Abb. 32, 33), die von Hermann Finsterlin gelegentlich mit "Finsterlin redivivus", der wiedererstandene Finsterlin signiert (Abb. 34) wurden. Diese Architekturzeichnungen haben, vor allem wenn Hermann Finsterlin sie beim Signieren zurückdatierte, zu einiger Verwirrung gesorgt. Verglichen mit den "Phantasien" und Architekturen der Jahre 1919 bis 1924 bringen sie kaum Neues, sind sie - tema von variazioni - wenig mehr als wenn auch reizvolle Wiederholung. (Abb. 35, 36), was den Gedanken an Reproduktion nahelegt, ein Gedanke, der auch Hermann Finsterlin beschäftigt haben mußte, als er versuchte, Architekturzeichnungen und -aquarelle als Druckvorlagen für Siebdrucke zu denken und als Serigraphie zu vervielfältigen bzw. vervielfältigen zu lassen. Diese bis heute nicht bekannten Versuche sind z.T. technisch unvollkommen, auf falschen Gründen gedruckt, so daß die Farbe abplatzte. Doch gibt es durchaus gelungene Beispiele, die in dieser Ausstellung erstmalig gezeigt werden. (Abb. 37, 38)
Ebenfalls bisher in Ausstellung und Literatur unbeachtet geblieben ist der schwer datierbare Werkkomplex scheinbar abstrakter Collagen (Abb. 39, 40, 41), auf die als erste durch Abbildungen Gabriele Reisser-Finsterlin (17) aufmerksam machte und die in einer kleinen Auswahl erstmalig in dieser Ausstellung gezeigt werden. Sie in den Kontext der Collage im 20. Jahrhundert einzuordnen, in dem sie durchaus einen Platz beanspruchen dürfen, ist aus zwei Gründen schwierig. Einmal, weil es bisher noch nicht möglich ist, sie genau zu datieren. Hermann Finsterlin hat während seiner Hauptschaffenszeit, in seinen Variationsreihen und Com-bi-nationen die Technik der Collage, von wenigen Ausnahmen abgesehen (18), nicht genutzt, sondern sie offensichtlich erst in den 50er Jahren eingesetzt. Es wäre also zu fragen, was ihn zu diesem Handschriftenwechsel bewogen, ob es Anregungen gegeben hat und wenn, woher sie kamen. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, daß Hermann Finsterlin seine Collagen offensichtlich nicht gegenstandlos gedacht hat. Gelegentliche Titelzusätze wie "Der Krake und die Amoretten" (nicht in dieser Ausstellung), Formen, die gedeutet werden können (in Abb. 40 als Eule?), nachträgliche ausdeutende Einzeichnungen Finsterlins rücken aber das Collagenwerk auf einer anderen Ebene in die Nähe jener gegenstandlosen Farb- und Linieninspirationen, aus denen Hermann Finsterlin seine phantastischen Ereignisbilder wachsen ließ. So daß auch die Collagen letztendlich als Teil eines Gesamtwerks, das mehr ist, als die Summe seiner Teile, in dieses Gesamtwerk eingeordnet werden können und müssen.
Hermann Finsterlin hatte sich, wie einleitend bereits gesagt, Anfang der 20er Jahre eine Permutation des phantastischen Dichters Paul Scheerbart als Motto anverwandelt und für sich reklamiert: Auch mein Ziel und mein Stil ist das Spiel. Dieses Spiel war, wie ebenfalls gesagt, nicht nur auf die heute vor allem bekannten Architekturen beschränkt, es war ebenso auf die großen WandbiIder, die Holzplastiken, [...], Bühnenbilder, Portraits, Textil und die drei Baukästen der Stuttgarter Ausstellung von 1928 wie auf ein umfangreiches literarisches und essayistisches Werk, aber auch (in geringerem Umfang) auf die Musik ausgerichtet, es schloß die Wandmalereien und Fresken von Anfang an ebenso mit ein wie die späteren Collagen. Die Frage, ob Hermann Finsterlin mit seiner Kunst, mit seinem und seinen alle Kunstarten umfassenden und sie verbindenden Spielen am Ziel angekommen ist, wird nur eine alles berücksichtigende, fächerübergreifende vergleichende Kunst-, Architektur- und Literaturgeschichte beantworten können. Aber sie wird dies erst können, wenn Finsterlins Gesamtwerk gemustert, die Rangfolge seiner Teile ohne Vorurteil und insgesamt gewichtet sind. Hierzu einen kleinen Beitrag leisten sollen die anläßlich der Freilegung der Schömberger Wandmalereien organisierte kleine Ausstellung und ihr Katalog.
[Katalogtext der Ausstellung "Hermann Finsterlin. Ein Werkquerschnitt", Schömberg 18.9.-12.10.1999 und 10.12.1999-31.1.2000]