Reinhard Döhl | Von Cannstadt nach Shavej Zion - Der Dichter Leopold Marx

Abstract: Das typische Schicksal einer jüdischen Familie in Deutschland...
Leopold Marx, 1889 als Sohn eines jüdischen Fabrikanten geboren, übernimmt, nach dem frühen Tod des Vaters, 1909 die Betriebe in Cannstadt und Neuffen. 1916 Heirat mit Ida (Judith), geb. Hartog. Teilnahme am ersten Weltkrieg, französische Gefangenschaft, Flucht. Wieder Fabrikant. 1938 Zwangsverkauf der väterlichen Fabrik,  kurzfristig ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert,  im Mai 1939 noch einmal Gestapo-Haft in Stuttgart. 1939 Ausreise/Emigration der beiden Söhne und am 2. Oktober auch Leopold Marx' und seiner Frau nach Erez Israel. Hachscharah und Niederlassung in dem ein Jahr zuvor von Rexinger Juden begründeten landwirtschaftlichen Kollektiv Shavej Zion, wo Leopold Marx bis 1965 als Pflanzer, danach als Gärtner tätig ist. Seine Mutter und ihre zwei Brüder werden 1942/43 in deutschen Konzentrationslagern umgebracht, der Sohn Jehoshua, während des zweiten Weltkrieges in einer jüdischen Einheit der britischen Armee, fällt 1948 bei der Verteidigung eingeschlossener jüdischer Siedlungen nahe Hebron. 1972 stirbt Judith Marx. Leopold Marx hat Shavej Zion, von wenigen Reisen vor allem in den 60er Jahren nach Amerika und Europa abgesehen, bis zu seinem Tode 1983 nicht wieder verlassen.
...Ich bilde mir nicht ein, ein Dichter zu sein, noch habe ich den Ehrgeiz, es werden zu wollen. Dazu bin ich zu alt. Ich habe meinen bürgerlichen Beruf, ich bin Kaufmann. Was ich ihm an Zeit und Gedanken abgewinnen kann, gehört dem Lebensberuf - ein Mensch zu werden...
Vernachlässigt man einige frühere Versuche, kommt es in französischer Gefangenschaft zu "erster Lyrik", dem "Beginn einer lebenslangen freundschaftlichen Beziehung zu Hermann Hesse, der als Leiter der Kriegsgefangenen-Fürsorge in Bern einige Gedichte" Leopold Marx' veröffentlicht, und, vor allem "durch Schriften Bubers beeinflußt", zur "Klärung des jüdischen Bewußtseins", was 1924 auch zu persönlichen Kontakten führt. Auf Martin Bubers Anregung gründet Leopold Marx zusammen mit dem Freund Otto Hirsch nach dem Muster von Frankfurt 1926 das Stuttgarter "Jüdische Lehrhaus" und nimmt an den Veranstaltungen, konkret und berichtend, regen Anteil. Neben dem "bürgerlichen Beruf" und seinem Engagement in der "jüdischen Bewegung" bleiben für eine ernsthafte "literarische Betätigung nur Ferien- und Wandertage übrig", die allerdings, wie bereits ein flüchtiger Werküberblick zeigt, recht ertragreich sind.
...die Ernte und das Echo eines bald zur Neige reifen Lebens - des Lebens eines Juden, der lange wähnte, zugleich auch Deutscher zu sein, und dem die Umstände, auch nach der Heimkehr ins Land der Väter, es nicht erlaubten, in ungehemmter Freiheit in die Sprache des eigenen Volkes hineinzuwachsen; der mit dem Herzen ein Bürger Israels, der Sprache nach deutsch geblieben ist.
"Hachscharah" überschreibt Leopold Marx progammatisch eine erste, 1942 in Jerusalem erscheinende Auswahl früher und neuer Gedichte. "Wanderseele" bzw. "Wanderschritte" will er in den 60er Jahren seine wachsende, immer wieder durchgesehene Sammlung von Gedichten überschrieben wissen. Zunächst aber stehen 1960 und 1963 eine "Schrift über Shavej Zion und den Moschav Schitufi" in deutsch, dann in englisch und 1963 "Ein Lebensbild" des von den Nationalsozialisten ermordeten Freundes Otto Hirsch auf dem Programm. Bemerkenswerterweise erscheint als seine erste Buchveröffentlichung in Westdeutschland 1964 das von Leopold Marx übertragene und erläuterte "Lied der Lieder", dem sich 1965 die Arbeit an einer wortgetreuen und zugleich dichterischen Übertragung der Psalmen anschließt, die, 1972 abgeschlossen und für eine Buchausgabe in Deutschland vorbereitet, aber erst posthum 1987 unter dem Titel "Die Lobgesänge. Das Buch der Psalmen"  erscheinen wird. 1975/76 vermutlich entwirft Leopold Marx das Vorwort für eine Auswahl seines bisher vorliegenden Gedichtwerks, das Friedrich Nolte zum Teil wörtlich für seine Einleitung in "Es führt eine lange Straße", Berlin 1976, übernimmt. 1979 kündigt die Anthologie "Stimmen aus Israel" an, daß Leopold Marx' "reiches zu wenig bekanntes Lebenswerk [...] demnächst in einer Gesamtausgabe vorgelegt werden" solle. Doch erscheint  zu Lebzeiten, 1979, im Gerlinger Bleicher Verlag nur noch "Jehoshua, mein Sohn", das auch autobiographisch zu lesende "Lebensbild eines früh Gereiften" [2. veränd. Aufl.1996 u.d.T. "Mein Sohn Erich Jehoshua. Sein Lebensweg aus Briefen und Tagebüchern"]. Die Gedichte der "Wanderseele" bzw. die "Wanderschritte" werden erst nach dem Tode von Leopold Marx, 1985, als "Gedichte aus der Schaffenszeit von 1910 bis 1982" herausgegeben, 1989 gefolgt von der  Erzählung "Franz und Elisabeth", der eine im Kriegsgefangenenlager Fort du Mûrier bei Grenoble im Winter 1918/19 geschriebene Versfassung in siebenundzwanzig Gesängen vorausgegangen war. Ein Kreis schloß sich, aber Leopold Marx erlebte es nicht mehr. Leopold Marx hat alle seine Manuskripte dem Deutschen Literatur-Archiv in Marbach anvertraut, wo seine Gedichte, Erzählungen, Essays, Übersetzungen und Unveröffentlichtes, Spiele, Autobiographisches und Briefe (vor allem zu den Nachdichtunge der Psalmen) heute auf den Interessierten warten.

Der Referent: Reinhard Döhl, geboren 16.9.1934 in Wattenscheid/Westfalen. 1954/1955 Studium an der Büchereifachschule Hamburg, abgebrochen. 1957-1965 Studium der Germanistik, [Theaterwissenschaft,] Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft in Göttingen (bis 1959) und Stuttgart (1960 ff.). 1965 Promotion mit einer Arbeit über "Das literarische Werk Hans Arps 1903-1923. Zur poetischen Vorstellungswert des Dadaismus". 1979 Habilitation (Neuere deutsche Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Medien). Apl. Professor. 1987 Fellowship der Japan Society for Promotion of Science. 1996 Gastprofessor an der Karl-Franzens-Universität, Graz. 1996 Visiting Researcher der Kansai-Universität, Osaka. Beendigung der Lehrtätigkeit an der Universität Stuttgart. 1998/99 Gastprofessor an der Hebrew University, Jerusalem. Lebt als Literatur- und Medienwissenschaftler, Autor und Künstler (Reihenfolge freibleibend) in Botnang.