Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Romanzenrezeption im 18. Jahrhundert.

Gleim, Jacobi und Meinhard | Herder

Die Romanzenrezeption Gleims, Jacobis und Meinhards.

Gleim und seine Freunde bewegten sich bei ihrem Bemühen um diese in der deutschen Literatur bis dahin unbekannte Literaturgattung auf unsicherem Boden. Bezeichnend ist, daß die ersten ernsthaften Übersetzungsversuche Jacobis und Meinhards in die Jahre 1762 und 1767 fallen, also deutlich später datieren als Gleims erstes praktisches Experimentieren mit dieser Gattung. Sowohl Jacobi wie Meinhard übersetzen beide in Prosa, was auch eine formale Unsicherheit gegenüber der Gattung signalisiert. Allerdings vermeiden sie den Umweg über Moncrif und bemühen sich direrkt um das umfangreiche Romanzenwerk Gongoras (1561-1627), das Jacobi, spanischen Quellen folgend, in "zärtliche", "lyrische" und "burleske Romanzen" gliedert. Was Jacobi an Gongoras Romanzen vor allem interessierte, spricht der "Widmungsbrief", als dessen Adressaten wir uns Gleim vorstellen dürfen, klar aus:

"Als wird einige von diesen Romanzen zusammen durchlasen und sie das Naive in vielen Stellen bewunderten, sagten sie mir unter andern, daß die Bekanntmachung derselben unseren Dichtern Anlaß zu neuen Ideen geben würde".

Dieses Naive hat ein Jahr später auch Moncrif anläßlich der Neuausgabe seiner "Constantes amours d'Alix et d'Alexis" für die Romanze reklamiert, wenn er schreibt:

"Seitdem diese Romanze erschienen ist, hat man die Bezeichnung allen Liebesliedern gegeben, die eine Folge von Strophen aufweisen. Die Romanze hat indessen einen besonderen Charakter, der sie auszeichnet: sie muß eine rührende Handlung enthalten und ihr Stil muß naiv sein".

(Bereits hier also schon Abgrenzungsversuche.)

Um zu verdeutlichen, was damals unter "naiv" verstanden bzw. mißverstanden wurde, füge ich noch ein drittes Zitat aus einem Brief Meinhards an Gleim aus dem Jahre 1762 hinzu. Meinhard hatte Gleim die Prosaübersetzung einer spanischen Volksromanze und zweier Romanzen Gongoras zugeschickt und dazu angemerkt:

"Ich habe ein paar kleine Romanzen aus dem Gongora hinzugefügt, die in Ansehung der ersten (= also der Volksromanze, R.D.) als künstliche oder nachgeahmte betrachtet werden können, und von denen die Spanier ebenfalls eine Menge haben."

Gleim, der außer dem Moncrif also auch Gongora kannte, hat diesen Hinweis Meinhards auf das Künstliche oder Nachgeahmte offensichtlich überlesen oder nicht ernst genommen, das Künstlich-Naive der Moncrifschen Vorlage nicht bemerkt. Ihm galt als wirklich naiv oder als volkstümlich, was in Wirklichkeit nachgeahmte Naivität und Volkstümlichkeit war. Er hielt - im Sinne des 18. Jahrhunderts - für "natürlich", was - mit dem Worte Meinhards - "künstlich" war.

So beruht Gleims Versuch einer volkstümlichen Dichtung im Falle der Anlehnung an das Romanzenmuster auf einem Mißverständnis. Undzwar, potenziert durch ein zweites Mißverständnis, nämlich des Bänkelssangs als volkstümlich, folgenreich.

So kommt es in der ersten Phase der Romanzenrezeption in Deutschland zur Entwicklung der komischen Romanze, die ich hier nicht noch einmal skizzieren muß, und ihrem Fortleben im parodierten Bänkelsang des 19. Jahrhunderts bis zu seiner/ihrer Etablierung im politischen Kabarett.

Mit vielleicht einer Ergänzung, nämlich dem Hinweis auf einen Text, der so etwas wie das Verbindungsstück zwischen komischer Romanze und Bänkelsangparodie genannt werden könnte. Ich spreche von Johann Friedrich August Kazners (1732-1798) Schauerballade "Heinrich und Wilhelmine".

Heinrich schlief bei seiner Neuvermählten,
Einer reichen Erbin an dem Rhein;
Schlangenbisse, die den Falschen quälten,
ließen ihn nicht süßen Schlaf erfreun.
Kazners Schauerballade bzw. komische Romanze fand, wie Bürgers "Pfarrerstochter" schnell ihren Weg auf den Jahrmarkt, unter anderem in einem Lieddruck aus "Delitsch (zu finden in dasiger Druckerei)", und wurden im Volk weiter zersungen als Küchenlied, wobei Verse hinzugefügt wurden wie
Weine nicht, denn eine Welt wie diese,
Ist der Tränen, die du weinst nicht wert.
Oder auch der Schluß völlig in sein Gegenteil verkehrt werden konnte. Lautet er zum Beispiel in einer Sammlung von "Liedern aus der Küche", "Wie tut mir mein Herze bluten", nachdem Wilhelmine dem untreuen Heinrich erschienen war:
Opfer willst du, Opfer! Heinrich tobte. -
Heinrich, Heinrich, haucht es durch die Nacht.
Da verschwand die einstige Verlobte.
Einen Selbstmord hat er dann vollbracht. -
so lauten die letzten Strophen des genannten Lieddrucks:
Opfer will ich leisten, wohlthun Armen,
Zu der Vorsicht beten, tief gerührt,
Daß mir Gnade werd' von dem Erbarmer,
Daß dein Seufzen auch noch wird erhört!

Jetzt beruhigt, seufzt sie, ach! und schwinget,
Wie ein Blitzstrahl schnell sich Himmel an.
Heinrich hielte redlich Wort. Man findet
Ihn beglückt und froh als biedern Mann.

(P.S.: Kazner wurde übrigens in Stuttgart geboren, wo er, nach Studium in Tübingen, Hofrat und Hofgerichtsadvokat war. Gestorben ist er in Frankfurt/Main.)

Die Romanzenrezeption Herders

Die besondere Leistung Herders läßt sich in zwei Punkten zusammenfassen. Zunächst einmal gelingt es ihm, einen der spanischen Romanze entsprechenden Vers zu finden.

Da dies konkret besser als abstrakt zu erklären ist, gebe ich einige verifizierende Zitate. Zunächst Jacobis Prosaübersetzung der ersten Strophen einer Romanze Gongoras:

"Die kleine Chloris weinte, und hatte recht; sie weinte über die lange Abwesentheit ihres undankbaren Geliebten. Er verließ sie so jung, daß sie kaum glaubte, so viele Jahre gelebt zu haben, als seit seiner Entfernung verflossen waren. Weinend, sah sie die untergehende Sonne und weinend fand sie der Mond. Sie häufte Leydenschaft auf Leydenschaft, Schmerz auf Schmerz; und ein zärtliches Andenken verdrengte das andere. Weine nur, kleine Schöne, du hast Recht zu weinen."

Gleims Nachdichtung des "Schönen Bräutigams" klingt dann wie folgt:

Die kleine Doris weinte laut;
Sie hatte Recht zu weinen!
Vom schönen Daphnis eine Braut,
Liebt sie nur ihn, sonst keinen.
Und dieser schöne Bräutigam
War Jahre weggeblieben;
Wie zärtlich er auch Abschied nahm,
Musst' er sie doch nicht lieben!

Denn ach, nicht einmahl schrieb er ihr!
Sie saß auf ihrer Kammer,
Saß einsam, saß, verschloß die Thür,
Weint' allen ihren Jammer!
Die ganze Nacht hindurch weint sie,
Der Mond fing an zu scheinen,
Und sieht die Thränen; Morgen früh
Sieht sie die Sonne weinen.

Das ist in jedem Fall distanzierter, um nicht zu sagen ironischer als Jacobis Prosa und damit Gongoras Ironie durch aus näher. Denn Gongora hatte der "altehrwürdigen Volksromanze seines Heimatlandes statt des einfach naiven einen burlesken und parodistischen Charakter zu verleihen" versucht (Brüggemann; ferner Holzhausen). Allerdings kann diese Parodie nur funktionieren, wenn der Leser auch die Vorlage - in diesem Fall also die naive Volksromanze kennt. Und das galt weder für Gleim noch für seine Zeitgenossen. So wirkt Gleims Nachdichtung eher wie eine Distanzierung von empfindsamer Anakreontik, obwohl Gleim einen vierhebigen Vers benutzt, aber steigend und nicht, wie in der Romanze, fallend.

Einen vierhebigen fallenden Vers für Romanzenübersetzung und Romanzendichtung in Deutschland eingeführt zu haben, ist nun das Verdienst Johann Gottfried Herders. Undzwar übersetzt er für seine Sammlung "Volkslieder", die meist unter ihrem späteren Titel "Stimmen der Völker in Liedern" zitiert wird, sowohl Romanzen des Gongora wie auch Volksromanzen, die er allerdings nicht aus einer einschlägigen spanischen Sammlung, sondern nur aus der schon erwähnten, in Paris erschienenen "Historia de las guerras civiles de Granada" kennen lernte. "Die spanischen Romanzen", schickt er seiner Übersetzung voran, "sind die simpelsten, ältesten und überhaupt der Ursprung aller Romanzen." Ich zitiere aus der ersten, "Die Herrlichkeit Granadas" überschriebenen Romanze der Herderschen "Volkslieder":

Abenamar, Abenamar!
Mohr aus diesem Mohrenlande,
Jener Tag, der dich gebohren,
Hatte schöne große Zeichen:

An ihm stand das Meer in Ruhe,
Und der Mond, er war im Wachsen;
Mohr, wer unter solchen Zeichen
Ward gebohren, muß nicht lügen.

Drauf erwiederte der Mohr ihm:
(Wohl vernimm es, was er sagte!)
Nein, Sennor, ich lüge nicht
Ob es mir das Leben koste.

Denn ich bin Sohn eines Mohren,
und einer gefangnen Christin;
Und noch war ich Kind und Knabe,
Als die Mutter oft mir sagte:

Lügen, Sohn, das mußt du nimmer!
Lügen, Sohn, ist niedertr"chtig.
Um deswillen frage, König,
Und ich will die Wahrheit reden.

Die Leistung Herders besteht in der Wahl von assonanz- und reimlosen trochäischen Achtsilbern, die in der Metrik danach - wenn auch nicht ganz korrekt - spanische Trochäen genannt wurden.

Schon in den "Volksliedern" hatte Herder eine Romanzenfolge um Zaid und Zaida veröffentlicht, die - in seinen Worten - gewisser Maaße Fortsetzung Einer Geschichte seien, war Herder also auf den Romanzenzyklus gestoßen. Mit der Folge, daß er sich in der Folgezeit bemühte, eine Romanzenfolge über den spanischen Nationalhelden El Cid aufzufinden, um sie zu übersetzen. Diese Suche nicht nach dem Epos, sondern nach einer Romanzensammlung, also seinem volkstümlichen Pendant, hatte zwei Gründe: zum einen das im Sturm und Drang erwachende Interesse an Nationalliteraturen, zum anderen, und damit verbunden, ein Interesse an Dichtung des Volkes, Volksdichtung.

Für Herder waren die Romanzen um El Cid eine "erhöhte Volkssage", die er den Epen Homers an die Seite stellte: "Die Geschichte Cids ist in ihren Romanzen so reich an treffenden Szenen, an hohen Empfindungen und Lehren, als - wage ich's zu sagen - als Homer selbst."

Man könnte es als Ironie der Geschichte bezeichnen, daß Herder die Qualität der spanischen Volksromanze erkannte und als erster adäquat übersetzte, daß es ihm aber trotz intensivstem Bemühens nicht gelang, einen/den Romanzenzyklus um El Cid aufzutreiben, nämlich Juan de Escobars "El romancero (...)", sondern seine Romanzen nach einer französischen Prosafassung praktisch neu dichtete, die anonym 1783 in der "Bibliotheque universelle des romans" erschienen war, wobei er später aus der schon zitierten Romanzensammlung Sepúlvedas Romanzen ergänzte, aber auch freien Erfindungen seiner französischen Prosavorlage aufsaß.

Umso bewundernswerter ist die Leistung Herders, denn erst mit Erscheinen seines "Cid" wurde die Romanze auch in der deutschen Literatur endgültig heimisch, was nicht heißt, daß die Romantiker nicht auch schon vorher sich vereinzelt um diese für die deutsche Literatur neue Gattung bemüht haben.