Die Balladenforschung geht - die terminologischen Unklarheiten einmal außen vor gelassen - davon aus, daß "ein großer Teil der Balladendichter [...] sich zu festen Gruppen ordnen" lasse. Ich zitiere: "Im Hainbund, bei Goethe und Schiller, im Tunnel (über der Spree, R.D.) und später im Göttinger Kreis um Münchhausen sind Balladen quasi in Arbeitsgemeinschaften entstanden. Eine Ballade der Romantik oder eine Ballade des Biedermeier" lasse sich wenigstens "durch inhaltliche und stilistische Gemeinsamkeiten konstituieren." Dagegen würden im Falle Anette von Droste-Hülshoffs und Heinrich Heines "alle literaturgeschichtlichen Zuordnungen versagen [...]. Ihr Balladenwerk" müsse "jeweils als individuelle Leistung gewürdigt werden" (Weissert, 95).
Die bisherige Vorlesung kann dies wenigstens zu Teilen bestätigen, läßt aber auch Differenzierungen zu. So ist für die Entwicklung der deutschen Kunstballade durch Bürger sicherlich der Göttinger Hainbund eine gewichtige Voraussetzung gewesen. Aber aus dem Schnitt seiner Balladenproduktion ragen die Leistungen Bürgers ebenso hervor, wie sich Goethes Balladenwerk, an Schiller gemessen, im historischen Abstand als das gewichtigere erweist. Auch die Romanzen Brentanos, Eichendorffs und Tiecks unterscheiden sich qualitativ durchaus von der romantischen Romanzenfülle.
Das bedeutet nicht, daß dies von den Zeitgenossen oder in der Rezeption auch so gesehen wurde. Einzelne Leistungen sind sogar oft für lange Zeit verkannt oder falsch bewertet worden. Das gilt für Goethes Balladen "Der Gott und die Bajadere", seine "Braut von Korinth", für die bis heute in ihrer Bedeutung nicht erkannten Romanzen Tiecks. Das gilt aber auch für die gerechte Bewertung ganzer Balladenkomplexe.
Hier ist bis heute eine den Facetten des Bürgerschen Balladenwerks angemessene Einschätzung ebensowenig geleistet wie im Falle des Romanzenkomplexes im Werk Heinrich Heines. Das liegt sicherlich auch daran, daß die Forschung dazu neigt, einmal vorgefundene Beurteilungen fortzuschreiben, sich im Falle Bürgers zum Beispiel, wie ich dies auch getan habe, zitierend immer wieder auf August Wilhelm Schlegels Bürger-Aufsatz zu beziehen, soweit er dem eigenen Bürgerbild die gewünschten Stichworte liefert. Eine kritische Lektüre darüber hinaus findet in der Regel nicht statt.
Um dieses wenigstens im Ansatz zu versuchen, ist es vor Behandlung der Heineschen Romanzen durchaus interessant, daran zu erinnern, daß wir in Heines "Buch der Lieder" (1827) bereits auf Spuren einer Bürgerrezeption, speziell der "Lenore" gestoßen waren, daß sich Heine in "Französische Maler" und in der "Lutezia" kritisch zur Rezeption der "Lenore" in anderen Medien geäußert hatte. Ich möchte und muß dies hier ergänzen mit einem auszugsweisen Zitat aus der "Romantischen Schule" (1831/32), in dem sich Heine mit seinem ehemaligen Lehrer August Wilhelm Schlegel auseinandersetzt, bei dem er in Bonn u.a. die Vorlesung "Geschichte der deutschen Sprache und Poesie" gehört hatte (WS 1819/20).
Ich zitiere:
"Da ich einst zu den akademischen Schülern des älteren Schlegel gehört habe, so dürfte man mich vielleicht in betreff desselben zu einiger Schonung verpflichtet glauben. Aber hat Herr August Wilhelm Schlegel den alten Bürger geschont, seinen literarischen Vater? Nein, und er handelte nach Brauch und Herkommen. Denn in der Literatur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden."
Heines Kritik der Schlegelschen Literaturkritik läßt sich in drei Punkte zusammenfassen.
1. Schlegels Methode sei der Angriff
literarischer Autoritäten.
2. Dabei fuße seine Kritik jedoch
nicht auf "Philosophie" (wie Heine sagt), sondern zeichne sich durch "innere
Leerheit" (so ebenfalls Heine) aus.
3. könne Schlegel zwar den Geist
der Vergangenheit erfassen, aber auf Kosten der Gegenwart. So vergleiche
er etwa, "wenn er den Dichter Bürger herabsetzen" wolle, "dessen Balladen
mit den altenglischen Balladen, die Percy gesammelt, und er zeigt, wie
diese viel einfacher, naiver, altertümlicher und folglich poetischer
gedichtet seien.
Ich überspringe einen Exkurs Heines und fahre zitierend dort fort, wo er wieder auf Percy und Bürger zu sprechen kommt:
"Die altenglischen Gedichte, die Percy gesammelt, geben den Geist ihrer Zeit, und Bürgers Gedichte geben den Geist der unsrigen. Diesen Geist begriff Herr Schlegel nicht; sonst würde er in dem Ungestäümen, womit dieser Geist zuweilen aus den Bürgerschen Gedichten hervorbricht, keineswegs den rohen Schrei eines ungebildeten Magisters gehört haben, sondern vielmehr die gewaltigen Schmerzlaute eines Titanen, welchen eine Aristokratie von hannöverschen Junkern und Schulpedanten zu Tode quälten. Dieses war nämlich die Lage des Verfassers der "Lenore" und die Lage so mancher anderen genialen Menschen, die als arme Dozenten in Göttingen darbten, verkümmerten und in Elend starben. Wie konnte der vornehme, von vornehmen Gönnern beschützte, renovierte, baronisierte, bebänderte Ritter August Wilhelm von Schlegel jene Verse begreifen, worin Bürger laut ausruft, daß ein Ehrenmann, ehe er die Gnade der Großen erbettle, sich lieber aus der Welt heraushungern solle! Der Name 'Bürger' ist im Deutschen gleichbedeutend mit dem Wort Citoyen."
Ich habe so ausführlich zitiert, weil ich Ihnen einmal diese andere Sicht auf einen sonst immer positiv zitierten Autor (= Schlegel) nicht vorenthalten wollte. Zum anderen aber und hauptsächlich, weil diese Verteidigung Bürgers und die anderen Rezeptionsspuren erkennen lassen, wie sehr Heine Bürger (und hier immer wieder die "Lenore") geschätzt hat sowie drittens wegen einer in dieser Auseinandersetzung implizit enthaltenen These Heines, daß nämlich die Ballade, gleichgültig, aus welchen Traditionen sie sich herschreibe, sich diese Traditonen anverwandeln müsse, um jene Aktualität zu erreichen, die Heine den "Geist der Zeit" nennt. Und dies ist natürlich dann auch eine Forderung, an der sich die zahlreichen Romanzen Heines prüfen lassen müssen.
In Heines [1797-1856] Werk stellen die Romanzen einen gewichtigen Teil dar. Nimmt man hinzu, daß bereits Heines drittes Gedicht, die "Wünnebergiade, ein Heldengedicht in 2 Gesänge" (!, R.D.)im Romanzenvers geschrieben war, daß Heine seit 1852 an "Bimini", einem unvollendet gebliebenen epischen Gedicht in Romanzenversen arbeitete, zieht sich die Romanze wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk hindurch, an dem einzelne Romanzensammlungen gleichsam die Knoten bilden.
Das sind erstens eine unter dem Titel "Romanzen" zusammengestellte Gruppe von Gedichten in "Junge Leiden", drei nicht besonders ausgewiesene Romanzen am Schluß der "Heimkehr" (beides im "Buch der Lieder").
Das ist zweitens die Gruppe der "Romanzen" in "Neue Gedichte" (1844) und das ist drittens der "Romanzero" aus dem Jahre 1851.
Diesen Gruppen ließen sich weitere Gedichte Heines zuordnen, so mehrere Gedichte "Aus der Harzreise" (1824) u.a. Daß das satirische Versepos "Atta Troll" ebenfalls im Romanzenton gehalten ist, habe ich bereits vermerkt.
Eine einlässige Beschäftigung mit diesem Romanzenwerk wäre ein semesterfüllendes Programm. Ich kann mich, am Ende des Semesters nur auf Stichworte beschränken, wobei ich zugleich das Thema der Vorlesung zu berücksichtigen habe.
Geht man von der "Wünnebergiade" und dem im Romanzenton geschriebenen "Bimini" aus, die ich einleitend als Klammern dieses Romanzenwerkes genannt habe, lassen sich zugleich zwei für Heines Romanzenwerk zentrale Aspekte erkennen. Ich zitiere zunächst die erste Strophe der "Wünnebergiade":
Holde Muse gib mir Kunde
Wie einst hergeschoben kommen,
Jenes kugelrunde Schwein/chen,
Das da Wünneberg geheißen.
Der Text dürfte aus dem Jahre 1815 stammen, also noch aus Heines Schulzeit. Er steht deutlich in der Tradition der komischen Verserzählungen und gehört zur Gattung der Tierdichtung, die Heine erst sehr viel später wieder im und nach dem "Atta Troll" aufgenommen hat. Wichtiger ist, daß Heine bereits sehr früh und erstaunlich sicher über den Romanzenton verfügte und ihn ohne Bedenken für Gelegenheitsgedichte benutzte: Ferdinand Ignaz Wünneberg war ein Mitschüler.
Privates wird durch das ganze Werk hindurch Teil an Heines Romanzen haben, wenn oft auch indirekt und nicht immer leicht zu erschlüsseln. Dafür zitiere ich als Beispiel die letzten Strophen aus "Bimini". Und ich schicke als Erklärung voraus, daß der Held dieses Gedichtes, Don Juan Ponce de Leon, aus dem Heimatland der Romanze, aus Spanien stammt, ein Seefahrer und Abenteurer in der Nachfolge des Kolumbus, Eroberer von Puerto Rico, der von dort aus versuchte, Bimini, die Zauberinsel der ewigen Jugend zu finden. Heine läßt sie ihn - entgegen seinen Quellen - finden. Ich zitiere:
In den folgenden Trocheen
Werden wir getreu berichten,
Wie der Ritter viel Strapazen
Ungemach und Drangsal ausstand -
Ach anstatt von altem Siechthum
Zu genesen ward der Aermste
Heimgesucht von vielen neuen
Leibesübeln und Gebresten -
Während er die Jugend suchte
Ward er täglich noch viel älter
Und verrunzelt, abgemergelt
Kam er endlich in das Land
In das stille Land wo schaurig
Unter schattigen Zypressen
Fließt ein Flüßchen
dessen Wasser
Gleichsam wunderthätig heilsam
-
Lethe heißt das gute Wasser!
Trink daraus und du vergißt
All dein Leiden - ja vergessen
Wirst du was du je gelitten -
Gutes Wasser! gutes Land!
Wer dort angelangt, verläßt
es
Nimmermehr - denn dieses Land
Ist das wahre Bimini.
Es bedarf keiner interpretatorischen Spitzfindigkeit, zu erkennen, wie sich der Autor in seiner "Matrazengruft" am Schluß des Gedichtes an sich selber wendet, gleichsam mit sich selbst spricht. Dies aber ist ein wesentliches Charakteristikum vieler Romanzen Heines, die "gewählten Stoffe und Gestalten [...] zu Trägern eigenster Empfindungen zu machen" (DHA 1, 691f.). Das erklärt auch, was die Forschung immer wieder irritiert: warum sich viele Romanzen Heines "thematisch und formal kaum von den 'Liedern' oder manchen späteren überschriftslosen Gedichten aus anderen Zyklen" unterscheiden (ebd.).
Heines erster Romanzenzyklus ist mit einer Ausnahme, dem "Don Ramiro", der schon 1817 unter Pseudonym veröffentlicht wurde, in der Bonner und Göttinger Studienzeit entstanden. Wobei zwei Anregungen besonders zu erwähnen sind, einmal eine zu Heines Studienzeit in Bonn grassierende Volkstonmode in der Tradition der Heidelberger Romantik, die auch in Heines ersten Romanzen deutliche Spuren hinterlassen hat. Zweitens der Einfluß der spanischen Romanze, der indirekt über Modeautoren vermittelt wurde, den Heine direkt fraglos von August Wilhelm Schlegel, vor allem aber von Fouque bezog. Dem Heine in Falle des "Don Ramiro" und einer späteren Romanze, "Donna Clara", durchaus verpflichtet ist.
Bevor ich auf diese und die ihnen folgenden 'spanischen' Romanzen Heines genauer eingehe, sei wenigstens kurz skizziert, was alles in Heines Romanzen Platz findet. Das sind formal assonierender aber auch reimender Romanzenvers neben Volksliedstrophen, wie sie "Des Knaben Wunderhorn" anbot; wobei Heine in der Regel den dreihebigen und/oder vierhebigen steigenden Vers bevorzugt. Inhaltlich subsumiert Heine unter seine Romanzen neben Volksliedhaftem Gedichte, wie sie jede Balladenanthologie auch dann enthält, wenn sie Heines Romanzen sonst nicht berücksichtigt, darunter "Die Grenadiere" und "Belsatzar". Seine "Lorelei" hat Hein dagegen nicht den Romanzen zugeordnet!). "Die Grenadiere" verweisen dabei auf Heines politisch-historisches Interesse, das auch dann noch zu fassen ist, wenn in den "Historien" des "Romanzero" historische Persönlichkeiten Gegenstand der Romanze sind, zum Beispiel "Karl 1" oder "Marie Antoinette". Den Anstoß zu "Die Grenadiere" hat, wie eine Episode im "Buch Le Grand" nahelegt, wohl ein konkretes Erlebnis im Düsseldorfer Hofgarten gegeben.
(Gourmets weise ich darauf hin, daß es zu Heines "Grenadieren" nicht nur eine Vertonung von Richard Wagner, sondern auch eine Interpretation von Karl May gibt, und zwar in seinem Kolportageroman "Die Liebe des Ulanen", im Hildesheimer Reprint S. 2066/67; wie sich überhaupt May in seinen Kolportageromanen gelegentlich als Balladenkenner zu erkennen gibt).
Daß und wie sehr aktuelle Ereignisse mehr oder weniger versteckt in Heines Romanzen eingegangen sind, belegen in den "Neuen Gedichten" die "Frühlingsfeyer" (die sich auf den tödlich verunglückten französischen Thronfolger Ferdinand, Herzog von Orleans beziehen läßt), die Byrons Tod thematisierende Romanze "Childe Harold" oder die von der zeitgenössischen Algerien-Frage und der Figur des Emirs Abd el-Kader angeregte Romanze "Ali Bey".
In eine ganz andere Richtung verweist dagegen "Belsatzar". 1820 hatte der Berliner Theologe Franz Theremin Byrons "Hebrew Melodies" mehr schlecht als recht übersetzt und mit einem antisemitischen Vorwort veröffentlicht, darunter auch die "Vision of Belshazzar". Heines Gedicht ist fraglos darauf eine Antwort, aber es verweist zugleich auf Heines jüdisches Elternhaus, auf eine Inspiration durch die hebräische Hymne "Bachazoz halajla" (= Um Mitternacht, R.D.), die, an den zwei Osterabenden gesungen, "mehrerer auf die Geschichte der Juden sich beziehender Ereignisse" gedenkt, "die um Mitternacht vorgefallen" sind, darunter auch des Todes Belzazars als Folge seiner Entweihung der Tempelgefäße. Dem "Belsatzar" gesellen sich als alttestamentarische Romanzen in den "Historien" des "Romanzero" noch "Das goldene Kalb" und "König David", in den "Lamentazionen" ferner "Salomo".
Andere Romanzen Heines gehören, angeregt durch die Vorlesungen Schlegels, dem Bereich romantischer Mittelalter-Rezeption an ("Die Minnesänger", "Der wunde Ritter"; aber auch "Der Tannhäuser. Eine Legende", obwohl Heine ihn nicht den Romanzen zugeordnet hat). Für die Romanze untypisch nach Norden verweisep gleich mehrere Romanzen, die "Botschaft" in "Junge Leiden" in "Neue Gedichte" speziell "Ritter Olaf", "Die Nixen" und "Frau Mette", die unterschiedlich umfangreich von den "Altdänischen Heldenliedern, Balladen und Märchen" angeregt sind, eine von Wilhelm Grimm 1811 in Heidelberg herausgegebenen Sammlung, die Heine häufiger benutzt hat. Daneben finden sich deutliche Bezüge auch auf aktuelle Romanzen- und Balladendichtung, verweisen z.B. "Bertrand de Born" und "König Harald Harfagar" u.a. auf Balladen Ludwig Uhlands als Anregung; "An eine Sängerin. Als sie eine alte Romanze sang" setzt, wie der Vers "Bei Ronzisvall da giebt's ein Streiten" nahelegt, Heines Kenntnis entweder des Romanzenzyklus "Roland, ein Heldengedicht in Romanzen" von Friedrich Schlegel oder der "Romanzen aus dem Tale Ronceval" von Fouque voraus.
Ich darf bei dieser Gelegenheit noch
einen ergänzenden Literaturhinweis geben. Einer der wenigen ernst
zu nehmenden Versuche, Romanze und Ballade strukturell zu unterscheiden
- Joachim Mllers Aufsatz "Romanze und Ballade. Die Frage ihrer Strukturen,
an zwei Gedichten - von Heine dargelegt" (GRM, Jg 40, NF XI/1959, S. 140-156)
- vergleicht mit "König Harald Harfagar" (aus den
"Neuen Gedichten") und dem "Schlachtfeld
bei Hastings" (aus dem "Romanzero") ausgerechnet zwei 'nordische' und damit
in ihrem ursprünglichen Sinne untypische Romanzen Heines.
So vielschichtig und vielfältig in den genannten wie in weiteren Fällen die Anregungen Heines sind, so eigen ist das, was er daraus macht. Das mag als stichwortartiger Hinweis auf den formalen und inhaltlichen Umfang der Heineschen Romanzen hinreichen, deren zentrale Stücke sich, wie bereits angedeutet, als 'spanische' Romanzen zusammenfassen lassen, angeregt fraglos durch die romantische Romanzenmode, aber dann von Heine zum Umschlagplatz "eigenster Empfindungen" und persönlicher Probleme gemacht. Ich nenne zunächst die wichtigsten Titel, werde aber nur auf einige von ihnen etwas näher eingehen. Im "Buch der Lieder" sind dies "Don Ramiro", "Donna Clara" und "Almansor" (zu dem gleichsam als christliches Gegenstück "Die Wallfahrt nach Kevlaar" gestellt werden könnte). In den "Neuen Liedern" findet sich auffällig nur der schon erwähnte "Ali Bey", der allerdings nach Algerien und nicht nach Spanien verweist, also den 'spanischen' Romanzen nur bedingt zugeordnet werden kann.
Mehr werden es dann wieder im "Romanzero", obwohl man auch hier - aus noch zu erläuternden Gründen - Gedichte zurechnen sollte, die in einem strikten Sinne keine 'spanischen' Romanzen sind, also in Spanien spielen. Im ersten Buch der "Historien" sind dies ("Der Asra"), "Der Mohrenkönig", ("Geoffroy Rudel und Melisande von Tripoli"), ("Der Dichter Firdusi"), "Vitzliputzli"; im zweiten Buch der "Lamentazionen" sind es die "Spanische(n) Atriden"; hinzu kommen die drei "Hebräische(n) Melodien", "Prinzessin Sabbath", das "Fragment" "Jehuda ben Halevy" und die abschließende "Disputazion". Rechne ich noch das schon erwähnte spätere "Bimini" hinzu, ergibt sich für das, was ich provisorisch 'spanische' Romanzen nenne, folgendes Themenspektrum.
1. Romanzen, die im Spanien der "Reconquista"
spielen,
2. und gewissermaßen in Fortsetzung
Romanzen aus der Zeit der Südamerika-Eroberungszüge,
3. arabische und
4. jüdische (oder wie Heine wahrscheinlich
sagen würde: hebräische) Romanzen.
Rechnet man noch Heines Tragödie "Almansor" (1821) hinzu, deren Schauplatz Granada zur Zeit der Kämpfe zwischen Spaniern und Mauren ist, sowie das Romanfragment "Der Rabbi von Bacharach" (begonnen 1824; erschienen 1840), wobei ich besonders an die Begegnung des Rabbi Abraham und seiner Frau Sara mit dem zum Christentum konvertierten spanischen Ritter Don Isaak Abarbanel im dritten Romankapitel denke, wird schon an der Oberfläche deutlich, daß wir es hier mit einem komplexen Kapitel aus der bis heute ungeschriebenen jüdisch-abendländischen Kulturgeschichte und einem nicht nur poetischen Kapitel zu tun haben.
Es ist sicherlich kein Zufall, daß Heines erste hier einschlägige Romanze, "Donna Clara" im Herbst 1823 entsteht, nachdem Heine, der eine eigentlich streng jüdische Erziehung nicht erhalten hatte, im Berliner "Verein für Kultur und Wissenschaften der Juden" mitarbeitete und dabei mit Fragen der jüdischen Leidensgeschichte und der Judenemanzipation vertraut wurde. Beschränkte sich in der Tragödie "Almansor" der tragische Konflikt noch ausschließlich auf Mauren und Christen, desgleichen, wenn auch ohne den tragischen Schluß, in der Romanze gleichen Titels, so faßt Heine in Berlin einmal den Plan zum "Rabbi von Bacharach", entsteht zweitens die genannte Romanze "Donna Clara", über deren ursprüngliches Konzept uns ein Brief Heines an Moses Moser vom 6. November 1823 wertvolle Hinweise gibt:
"In der Dir geschickten Romanze mußt Du, in der 5ten Strophe, den zweiten Vers verändern [...] Es giebt einen Abraham von Saragossa; aber Israel fand ich bezeichnender. Das ganze der Romanze ist eine Seene aus meinem eigenen Leben, bloß der Thiergarten wurde in den Garten des Alkalden verwandelt, Baronesse in Senora, und ich selbst in einen heiligen Georgen oder gar Apoll! Es ist bloß das erste Stück einer Trilogie, wovon das zweite den Helden vor seinem eigenen Kind,,das er nicht kennt, verspottet zeigt, und das dritte zeigt dieses Kind als erwachsenen Dominikaner, der seine jüdischen Brüder zu Tode foltern läßt. Der Refrän dieser beiden Stücke korrespondiert mit dem Refrän des ersten Stücks; - aber es kann noch lange dauern ehe ich sie schreibe. Auf jeden Fall werde ich diese Romanze in meiner nächsten Gedichtesammlung aufnehmen. Aber ich habe sehr wichtige Gründe zu wünschen daß sie früher in keine christliche Hände gerathe; ich empfehle Dir daher, bei etwaigen Mittheilungen derselben, alle mögliche Behutsamkeit." (DHA 1, 971)
Einige Zitate aus der Romanze sollen das weitere Referat auflockern:
In dem abendlichen Garten
Wandelt des Alkalden Tochter;
Pauken- und Trommetenjubel
Klingt herunter von dem Schlosse.
"Lästig werden mir die Tänze
Und die sßen Schmeichelworte,
Und die Ritter, die so zierlich
Mich vergleichen mit der Sonne.
"Überlästig wird mir Alles,
Seit ich sah, bei'm Strahl des Mondes,
Jenen Ritter, dessen Laute
Nächtens mich an's Fenster lockte.
"Wie er stand so schlank und muthig,
Und die Augen leuchtend schossen
Aus dem edelblassen Antlitz,
Glich er wahrlich Sanct Georgen."
Also dachte Donna Clara,
Und sie schaute auf den Boden;
Wie sie aufblickt, steht der sch"ne,
Unbekannte Ritter vor ihr.
Die folgende Romanze schildert das gemeinsame Wandeln durch den Garten des Alkalden, und ein Gespräch, aus dem ich die drei zentralen Repliken zitiere:
"Mücken stachen mich, Geliebter,
Und die Mücken sind, im Sommer,
Mir so tief verhaßt, als wären's
Langenas'ge Judenrotten."
Laß die Mücken und die Juden,
Spricht der Ritter, freundlich kosend.
Von den Mandelbäumen fallen
Tausend weiße Blüthenflocken.
"Ja, ich liebe dich, Geliebter,
Bei dem Heiland sey's geschworen,
Den die gottverfluchten Juden
Boshaft tückisch einst ermordet."
Laß den Heiland und die Juden,
Spricht der Ritter, freundlich kosend.
In der Ferne schwanken traumhaft
Weiße Liljen, lichtumflossen.
"Falsch ist nicht in mir, Geliebter,
Wie in meiner Brust kein Tropfen
Blut ist von dem Blut der Mohren
Und des schmutz'gen Judenvolkes."
Laß die Mohren und die Juden,
Spricht der Ritter, freundlich kosend;
Und nach einer Myrthenlaube
Führt er die Alkaldentochter.
Bevor sie sich trennen müssen, erbittet Donna Clara den Namen ihres Ritters:
"Horch! da ruft es mich, Geliebter,
Doch, bevor wir scheiden, sollst du
Nennen deinen lieben Namen,
Den du mir so lang verborgen."
Und der Ritter, heiter lächelnd,
Küßt die Finger seiner
Donna,
Küßt die Lippen und die
Stirne.
Und er spricht zuletzt die Worte:
"Ich, Sennora, Eu'r Geliebter,
Bin der Sohn des vielbelobten,
Großen, schriftgelehrten Rabbi
Israel von Saragossa."
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, vor dem Hintergrund der Heineschen Biographie, - Übertritt zum Christentum und Taufe 1825, später in Paris dann doch wieder Hinwendung zum Judentum, - es wäre, sagte ich, reizvoll, vor dem Hintergrund dieser Biographie das ganze Romanzenwerk zu studieren. Doch fehlt dazu die Zeit. So beschränke ich mich darauf, ausgehend von der "Donna Clara"-Romanze ein paar Linien zu ziehen, die zum Teil durchaus hypothetischen Charakter haben mögen.
1. Ich habe bereits angemerkt, daß Privates durch das ganze Werk hindurch Teil an Heines Romanzen hat, und im Falle von "Bimini" darauf verwiesen, daß sich die letzten Trochäen an den Autor selber wenden. Diese biographische Bezüglichkeit ist im Falle der "Donna Clara" durch den Brief Heines an Moser konkret belegt, wenn sich heute auch nicht mehr herausfinden läßt, wer jene konkrete Baronesse war. Jedenfalls muß sich Heine gefühlt haben, wie der spanisch-jüdische Ritter, dessen Gespräch mit "Donna Clara" derart Modellcharakter bekommt.
2. Heine hat nicht, wie ursprünglich geplant, die Romanze zu einer Trilogie erweitert. Das hat seinen Grund sicherlich auch in der weiteren Biographie Heines Ich verweise noch einmal auf seinen Übertritt zum Protestantismus; überhaupt das Fehlen weiterer Romanzen bis zum "Romanzero". Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist aber die 3teilige "Almansor"-Romanze noch aus dem Herbst 1825, die von der Taufe des Almansor ben Abdullah 'erzählt' bzw. ihren (Traum)Folgen:
Und er träumt: er stehe wieder,
Tief das Haupt gebeugt und triefend,
In dem Dome zu Corduva,
Und er hört' viel dunkle Stimmen.
All die hohen Riesensäulen
Hört er murmeln unmuthgrimmig,
Länger wollen sie's nicht tragen,
Und sie wanken und sie zittern; -
Und sie brechen wild zusammen,
Es erbleichen Volk und Priester,
Krachend stürzt herab die Kuppel,
Und die Christengötter wimmern.
Heine hat nicht, sagte ich, wie ursprünglich geplant, die "Donna Clara"-Romanze zur Trilogie erweitert. Aber in gemäßigter Form tauchen der verspottete Jude, die Verwandlung in den heiligen Georg oder gar Apoll, der inquisitorische Dominikaner später durchaus noch auf. Im Falle des Apollo verweise ich auf den schwer deutbaren "Apollogott" in den Historien des "Romanzero", dessen Karriere vom Parnaß über Mont-Parnaß in die deutsche Synagoge nach Amsterdam führt:
Ob ich ihn gesehen habe?
Ja, ich habe ihn gesehen
Oft genug zu Amsterdam,
In der deutschen Synagoge.
Denn er war Vorsänger dorten,
Und da hieß er Rabbi Faibisch,
Was auf Hochdeutsch heißt Apollo
-
Doch mein Abgott war er nicht.
Aus dem inquisitorischen Dominikaner wird in der "Disputazion" der Franziskaner Frater Jose, der sich in der Aula von Toledo mit dem Rabbi Juda über die Frage streitet, "welches [...] der wahre Gott" sei, wobei zunächst der Franziskaner, schließlich aber auch der Jude aus der Rolle fallen, ohne daß es zu einer Entscheidung käme. Und wenn auch nicht vor seinem Sohn unerkannt beschimpft, so ist doch der Jude in "Prizessin Sabbath" durch "Hexenspruch" in einen Hund verwandelt:
Hund mit hündischen Gedanken,
Kötert er die ganze Woche
Durch des Lebens Koth und Kehrricht,
Gassenbuben zum Gespötte.
Dieser Hund, der nur am Sabbath von diesem Fluch frei, und also kein Hund mehr ist, nennt Heine "Israel". Diesen Vornamen hatte er bereits Abraham von Zaragoza gegeben, mit der zitierten Begründung im Brief an Moser: "Aber Israel fand ich bezeichnender". Abraham von Zaragoza bzw. Abraham Abulafia (1240-1292) war übrigens einer des bedeutendsten Vertreter jüdisch-spanischer Religiosität im Mittelalter und Vertreter eines "prophetischen Kabbalismus".
Diesem "Israel" Abraham von Zaragoza hat Heine später in der Romanze "Jehuda ben Halevy" einen zweiten großen jüdischen Dichter und Religionsphilosophen, mit Salomon Gabirol und Moses Ibn Esra sogar ein "Dreygestirn", an die Seite gestellt, und innerhalb dieser Romanze weiter verwiesen auf den provencalischen Troubadour Jaufré Rudel, dem Heine auch eine eigene Romanze gewidmet hat. Ist es in seinem Fall die Liebe zu einer Frau, ist es im Falle Juda Halevis die Liebe zu Jerusalem, die ihr Leben tragisch überhöhen.
Das muß für heute reichen, zu belegen, wie weit das maurisch-jüdisch-christliche Spanien für Heine fast den Charakter einer utopischen Zeit angenommen hat, einer Utopie, von der er wußte, daß sie - wörtlich übersetzt,- "Keinort" heißt. Auf diesen Ort zielen, in dieser Zeit angesiedelt sind seine Romanzen. Ihre Herkunft aus Spanien, ihre Entstehungszeit, die Reconquista hatten dabei für ihn eine Aktualität, die sie für seine Vorläufer in der Romanzendichtung nicht hatten. Für diese waren sie eher ein ästhetisches Abenteuer. Für Heine wurden sie dagegen nach eigenem Bekunden "Literature engagèe", waren sie Stellungnahmen des Dichters zu den religiösen Kontroversfragen seiner Zeit (DHA 1, 973).
Nach Heine gibt es in der deutschsprachigen Literatur praktisch keine Romanzen mehr, ist dieser Nebenzweig der Balladendichtung wesentlich abgeschlossen, mit einem bis heute in seiner Bedeutung immer noch nicht richtig erkannten Höhepunkt: dem "Romanzero".