Ich beginne die Vorlesung mit einem Zitat des Autors, mit dem sie auch enden wird. Dieses Zitat entnehme ich dem "Guten Menschen von Sezuan" (1938/40), einen Stück, das ein Motiv der Weltliteratur - "Gott auf Erdenbesuch" - dialektisch variiert, ein Motiv, das uns auch in Goethes "Indischer Legende", "Der Gott und Die Bajadere" wieder begegnen wird. Brecht, der am Schluß seines Stückes statt des notwendigen deus ex machina seine drei Götter zu dei in machinam macht, schließt mit einem "Epilog"
Vor den Vorhang tritt ein
Spieler und wendet sich entschuldigend an das Publikum [...]:
DER SPIELER:
Verehrtes Publikum, jetzt
kein Verdruß:
Wir wissen wohl, das ist
kein rechter Schluß.
Vorschwebte uns die goldene
Legende.
Unter der Hand nahm sie
ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht
und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle
Fragen offen.
Die "goldene Legende", von der hier der Spieler spricht, ist die "Legenda aurea" oder auch "Legenda sanctorum" oder "Legenda nova" von Jacobus des Voragine, eine Sammlung von Legenden über die Heiligen des Kirchenjahres, compiliert etwa 1263 bis 1273. Mit diesem Hinweis stellt Brecht, von der Forschung meistens überlesen und unbeachtet, sein Stück in die Tradition eine Gattung, deren Kern man seit dem Frühmittelalter festlegen kann, deren Grenzen jedoch an der Peripherie fließend bleiben (Karlinger, 1), ein Phänomen, das uns im Kontext dieser Vorlesung nur zu vertraut geworden ist. Und zugleich ein Problem, das auch für die Legende ebenso wenig lösbar scheint wie für die Ballade, mit der sie sich Ende des 18. Jahrhunderts in der Ausformung der legenhaften Ballade zu verbinden beginnt.
Die "Legenda aurea" ist eine der einflußreichsten (auch heute noch im Handel erhältlichen) Legendensammlungen des ausgehenden Mittelalters, mit Übersetzungen, Umformungen, auch Ergänzungen in zahlreichen Nationalsprachen und -literaturen. Als eine der wichtigstens literarischen Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts nahm sie zugleich Einfluß auf die bildende Kunst vor allem der Gotik, vergleichbar nur noch der ähnlich populären anonymen Legendensammlung um den heiligen Franz von Assisi, "I Fioretti di San Francesco" (älteste Handschrift 1396), nach denen z.B. Giotto seinen berühmten Freskenzyklus in der Basilika 5. Francesco in Assisi schuf.
Ich muß im Rahmen der Vorlesung auf diese beiden Legendensammlungen, über die sich der Interessierte überdies leicht kundig machen kann, nicht näher eingehen, weise aber hier schon auf die Legende 101 des Jacobus von Voragine hin, in der von den 7 Schläfern von Ephesus erzählt wird, jenen 7 jungen Männern, die sich zur Zeit der Christenverfolgung des Kaisers Decius in einer Höhle verbergen und in einen tiefen langen Schlaf fallen, aus dem sie nach 372 Jahren, oder, wie Voragine korrigiert, nach 196 Jahren wieder erwachen. Diese Geschichte gibt es allerdings auch in anderen Kulturkreisen, worüber im Falle der Goetheschen "Siebenschläfer" noch zu sprechen sein wird, es gibt sie sogar in lokaler Ausgestaltung, etwa in Karl Wolfgang Müllers Ballade "Der Mönch von Heisterbach", einer legendenhaften Ballade, die ihrerzeit recht bekannt war und u.a. Aufnahme gefunden hatte in Wolffs "Poetischen Hausschatz", dort im Kapitel der Legenden; aber auch noch in Lutz Mackensens "Deutsche Balladen. Ein Hausbuch" (dort noch in dem von Mackensen und Karlheiz Gehrmann besorten 32./39. Tsd, Gtersloh 1954. Ferner in Felix Braun: Der Tausendjährige Rosenstrauch. Deutsche Gedichte aus 1000 Jahren. Ausgew. u. eingel. von Felix Braun. 6.-10. Tsd, Wien 1950).
[Vgl. dazu ferner Karl Josef Simrock (1802-76): Der Kirchenschlaf (An Wunderkraft der Steine[...]) und Karl Werner Reinhold (1806-1863): Der alte Abt (Dort in den Klostermauern geht der alte Abt herum [...]), beides in Karl Simrock: Rheinsagen aus dm Munde de Volkes und deutscher Dichter. Für Schule, Haus und Wanderschaft.7. Aufl. Bonn 1874]
Die Menge des als Legende oder mit dem Epitheton Legende Veröffentlichten ebenso wie eine kaum zu überschauende Literatur über die Legende läßt sich hier nicht darstellen. Wer sich dafür interessiert, sollte zuerst zu Felix Karlinger, "Legendenforschung. Aufgaben und Ergebnisse", Darmstadt 1986, oder zu dem bewährten Realienbuch Hellmut Rosenfelds, "Legende", Stuttgart, 3. Aufl. 1972 greifen, in denen die einschlägige Literatur umfassend aufgearbeitet ist. Außer Rosenfeld, der von der Germanistik herkommt, wäre noch der Historiker Heinrich Günter zu nennen, ferner der Volkskundler Leopold Kretzenbacher, der in zahlreichen Spezialstudien vor allem zur Frage Bild und Text in der Legende gearbeitet hat.
Zum Begriff Legende und zu seinem Umfang darf ich mich ebenfalls auf wenige Hinweise beschränken. Im deutschen Sprachgebrauch steht Legende in der Regel für einen religiösen Text, in anderen Sprachen bezeichnet er aber auch die Sage, so das englische "legend". Für die Wissenschaft hat Rosenfeld die Legende als "eine religiöse Erzählung besonderer Art" festgelegt, "die Erzählung von einem christlichen Heiligen", die als Gattung gleichberechtigt neben Sage, Märchen, Mythos und Novelle stehe. Doch muß die Einschränkung auf 'christliche Heilige' zweifelhaft bleiben. So argumentiert zum Beispiel Martin Buber in den "Erzählungen der Chassidim":
es gäbe "zwei Gattungen der Legende, die man nach zwei Gattungen der erzählenden Literatur bezeichnen kann, an die sie sich in ihrer Form lehnen, die legendäre Novelle und die legendäre Anekdote. Man vergleich etwa die Legenda aurea mit den Fioretti di San Francesco oder die klassische Buddhalegende mit den Mönchsgeschichten der ostasiatischen Zen-Sekte. Auch das formlose chassidische Material tendiert zu diesen Formen."
Noch weiter spannt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade in der "Geschichte der religiösen Ideen" den Bogen mit Hinweis auf den Hinduismus oder den Islam, "wo das Vorlesen der Asketenlegenden und der Legenden der berühmten Yogin oder Episoden verschiedener Epen eine beachtliche Rolle spielen. Hier ist auch die Funktion der mündlichen Überlieferung, zu allererst der Erzählung von legendenhaften oder beispielgebenden Geschichten zu erkennen."
Es gibt also neben der christllichen ebenso eine jüdische, eine buddhistische, eine hinduistische oder islamische Legende.
Im europäischen Bereich kennen wir die Legende in volkstümlicher Tradirung wie in literarischer Ausführung, die, im Gegensatz zu der Einschränkung Bubers auf die "erzählende Literatur", Legendenepen, - romane, -erzählungen, - balladen und -dramen umfaßt, unter denen mich im Zusammenhang der Vorlesung die legenhafte Ballade ausschließlich interessiert, der sich in der volkstümlichen Dichtung das Legendenlied an die Seite stellen läßt. (Vgl. zu ihm den Artikel Kretzenbachers im "Handbuch des Volksliedes").
Ich hatte in der Vorlesung über Bürgers "Sanct Stephan" bereits erwähnt, daß die Legende in der Reformation infolge der lutherischen Kritik am Heiligenkult an Bedeutung verlor. Und daß auch ihre Wiederbelebung vor allem durch die Predigtliteratur der Gegenreformation und des Barock sie nicht mehr zu ihrer ursprünglichen Bedeutung zurückzuführen vermochte. So daß Herder im ausgehenden 18. Jahrhundert nur wiederholte, was Luther bereits gewortspielt hatte: das die Legende eigentlich eine "Lügende" sei.
Dennoch war zur Zeit des Sturm und Drang die Legende noch nicht ganz verschwunden. In den Volksbüchern lebte zum Beispiel überkonfessionell die Genoveva-Legende fort, um in Sturm und Drang und Romantik von Friedrich (Maler) Müller und Ludwig Tieck als Legenden-Drama der Literatur wiedergewonnen zu werden. Und vor allem waren es strophische Volksballaden, die oft aus Mirakelerzählungen und Marienmirakeln erwuchsen und in ihrer tradierten einfältigen Frömmigkeit nicht ohne Einfluß auf das Volksliedinteresse der Stürmer und Dränger und der Romantiker blieben.
Aber wohl auch Einfluß auf ein erneutes Bemühen um die Legende nahmen, dem es weniger um die Inhalte als um den ästhetischen Reiz des Schlichten zu tun war.
Ich habe in der Bürgers "Sanct Stephan" gewidmeten Vorlesung bereits ein paar Jahreszahlen genannt, die dieses neue Bemühen um die Legende datieren helfen. Ich darf sie noch einmal wiederholen.
* 1776 hatte Johann Joachim
Eschenburg nach einem zweiten Bürger gerufen, der für die Legendary
Tales das leiste, was bereits für die 'ballads' geleistet sei.
* 1776 veranlaßt Goethe
Christoph Martin Wieland, "St. Peter mit der Geiß" von Hans Sachs
im Teutschen Merkur zu veröffentlichen.
* 1777 entsteht Bürgers
"Sanct Stephan".
* 1778 beginnt Herder, sich
mit der Legende zu beschäftigen, wenn auch, Herder war schließlich
protestantischer Theologe, zunächst zögerlich.
* 1783 - ich ergänze
jetzt ein paar Daten, die auch verdeutlichen sollen, wie halbherzig zunächst
die Auseinandersetzung mit der Legende dennoch war - veröffentlicht
Christian Daniel Friedrich Schubart "Das wundertätige Kruzifix", eine
merkwürdige Mischung von Schauerballade und Mirakelerzählung.
* 1784 entsteht Bürgers
säkularisierte Mirakelerzählung "Die Kuh" (ich hatte sie im Zusammenhang
mit "Sanct Stephan" bereits interpretiert.)
* Ebenfalls in den 80er
Jahren entstehen die ersten, ausdrücklich als Legende ausgewiesenen
Gedichte August Friedrich Ernst Langbeins, von dessen Romanze "Die Liebesprobe"
im Zusammenhang der Romanzenvorlesung schon die Rede war. Langbein ist
mit einigem Recht von der Literaturgeschichte vergessen, seine komischen
bis frivolen Romane waren ein Modeerfolg. Dennoch sind seine schwankhaften
Balladen und über 20 Legenden für die Geschichte der Gattung
nicht uninteressant.
Rosenfeld nennt in seinem Realienbuch lediglich die Legenden "Der Kapaun", den er als "regelrechtes Antoniusmirakel" charakterisiert, und, ohne weiteren Kommentar, den "Heiligen Jodokus und die vier Bettler", eine Legende, die dem Motivkreis 'Gott auf Erdenbesuch' zuzuordnen wäre. Andere Legenden befassen sich mit lokalen Sagen, so der "Kirchenbau in Aachen", sind Märtyrerlegenden, so "Notburga", oder Christuslegenden wie "Das Spiel am Sabbath". Mehrere Legenden erzählen vom Teufel, darunter "Die Versuchung", in der der Teufel in Gestalt einer schönen Frau einen Bischof versucht, vom heiligen Andreas jedoch rechtzeitig enttarnt wird durch ein Eingreifen, das durchaus den Wundern vergleichbar ist, die die 'legenda aurea' vom heiligen Andreas berichtet. Auffällig sind mehrere Petrus-Legenden, darunter auch "Sanct Petrus und die Geiß", eine Legende, die zugleich den Bogen schlägt vom 1776 in das Jahr 1797, mit dem gewissermaßen der zweite Anlauf zur Etablierung einer legendenhaften Ballade datiert.
Denn 1797 veröffentlicht Herder in seinen "Zertreuten Blättern" neben seiner Abhandlung "Über die Legende" eine Anzahl von vom ihm verfaßter Verslegenden; entsteht Goethes bekanntere "Legende" vom Hufeisen, entsteht vor allem Goethes "Indische Legende" "Der Gott und die Bajadere". Es ist nicht uninteressant, dieses alles ein wenig im Vergleich zu betrachten. Herders Legenden, um mit ihnen zu beginnen, verfehlen, so positiv auch ihre literarische Wirkung war, im Grunde genommen noch die Gattung.´legenhafte Ballade. Sie bieten statt Viten "verehrenswürdiger Heiliger lediglich anekdotenhafte geistliche Fabeln und Exempel frommen moralischen Handelns, denen - wie Rosenfeld kritisiert ~ jede Legendenstimmung" fehle (Rosenfeld, 75).
Wie sehr Herder dabei die irrationalen Züge der Legende beschneidet "zugunsten rationaler Umdeutung und moralischer Tendenz" (Rosenfeld), soll die Legende "Der Palmbaum" belegen. Sie behandelt die Geschichte des heiligen Onuphrius, des Namenspatrons des römischen Hieronymitenklosters Sant' Onofrio, in dem Tasso am 25. April 1595 in geistiger Umnachtung starb. Herder versucht mit seiner Legende beides zu fassen, indem er der eigentlichen Legende eine andeutende Vor- und zwei ausdeutende Nachstrophen zusetzt.
Liebe kränzet sich mit
Myrth' und Rosen;
Für den Held und Dichter
sprießet Lorbeer;
Aber Palmen sind des heil'gen
Siegers
Ehrenzweig; und auch dem
matten Wandrer
In der Wüste sprießt
von Gott ein Palmbaum.
Als Onuphrius, ein rascher
Jüngling,
Von den Vätern des
Elias Leben
Über alles hoch lobpreisen
hörte,
Rüstet' er sich, eilend
in die Wüste.
Sieben Tage gieng er; keine
Stimme
Rief ihm zu: "was thust
du hier, Elia?"
Bis von Sonnenglut und Durst
und Hunger
Er ermattet sank. "Nimm
meine Seele,
Sprach er, Herr! Nur einen
Trunk zur Labung,
Eine Dattel laß mich
hier nur kosten."
Und ein süßer
Schlaf umfing den Jüngling,
Und ein Engel stand bey
ihm: "Verwegner,
Der du Gott versuchst, bist
du Elias?
Doch zu deinem Lohn und
deiner Lehre,
Hör'! An deiner Seite
rauscht die Quelle,
Und ein Palmbaum über
deinem Haupte.
Siebzig Jahre sollst du hier
mit ihnen
Leben, und sie werden mit
dir Sterben.
Aber keines Menschen süße
Stimme
Sollst du, keines Mannes
Fußtritt hören,
Bis dir Einer kommt, der
dich begrabe."
Der Traum erfüllt sich. Als nach 70 Jahren der "Eine" kommt, fordert Onuphrius ihn auf, nachdem er sein "Pflicht erfüllet", wieder zurückzugehen,
Menschen sind geschaffen für die Menschen,
eine Moral, die Paphnutius nach der Beerdigung des Onuphrius für den Leser wiederholt:
"Ach, sprach er, so viel
sie Leid sich bringen,
So viel geben sie sich Trost
und Stärke;
Menschen sind geschaffen
für die Menschen."
Eine Moral, deren Nutzanwendung Herder in den Nachstrophen mehr als deutlich zieht:
Dank, Onuphrius, nach tausend
Jahren
Dank dir, daß du eines
Mannes Seele
Noch in seiner letzten Stund
erquicktest.
Schüchtern, krank,
mißtrauend allen Menschen,
Ein gejagtes Reh, (den Pfeil
des Jägers
Trug er in der Brust;) so
floh Torquato
Tasso zu dir. Seine zarte
Schläfe
War bedeckt mir Lorbeer;
keinen Lorbeer
Sucht' er mehr; ihn labte
deine Palme*).
Und für den möglicherweise literaturgeschichtlich unkundigen Leser fügt Herder noch als Fußnote an:
*) Tasso, dieser liebenswürdige, aber fast sein ganzes Leben hindurch unglückliche Dichter, als er erschöpft an Kräften in Rom ankam, um auf dem Kapitolium gekrönt zu werden, ließ sich in das Kloster St. Onofrio bringen, wo er, indeß alle Anstalten zur Feyerlichkeit gemacht waren, den Tag vor seiner Krönung sanft entschlief. Er liegt mit Barklai und dem Dichter Huidi in der Kirche St. Onofrio unter einem Steine begraben; zu einem Denkmal ist kein Raum da. Man zeiget sein Brustbild und die dem Gesichte des Todten entnommene Larve.
Hätte Herder eine Legende traditionellen Zuschnitts im Sinn gehabt, hätte er die Parallele in den Viten des Onuphrius und des Kirchenlehrers Hieronymus wählen können, wenn nicht sogar müssen, denn einmal wurden Kloster und Kirche Sant' Onofrio 1439 von der Eremitenkongregation der Hieronymiten gegründet, zweitens und vor allem aber hielt sich Hieronymus ebenfalls, wenn auch nur drei Jahre und um ungestört Hebräisch zu lernen, als Einsiedler in der Wüste (Chalcis bei Aleppo) auf. Nimmt man noch die zeitliche Nähe der beiden Leben, Hieronymus um 347 bis 419 oder 20; der ägyptische Einsiedler Onuphrius, gest. um die Wende des 4. Jahrhunderts, hätte sich hier genügend Stoff für legandarische Verstrickung geboten. Was Herder dagegen im Sinn hatte, war weltlicher: die moralische These, daß der Mensch für den Menschen geschaffen sei, eine These, die der aufgeklärte Theologe Herder ergänzte um die Verbindung von Dichterlorbeer und Palme der Religion. Das verweist durchaus schon in die Richtung der großen Legendenballaden Goethes, eine zunehmend säkulare Bestimmung der Gattung. So daß man hier Schillers Kritik im Rahmen seiner Rezension der Goetheschen 'Hufeisenlegende' so ohne weiteres nicht nachsprechen sollte. Schiller hatte nämlich, und dies, gemessen an der Diktion der eher scherzhaften "Legende" Goethes vielleicht berechtigt, bemängelt, daß Herder "den eigentümlichen Ton" verfehle, "nach schwermütiger Empfindsamkeit" strebe und vergesse, "daß eine gutmütige Naivität der wahre Charakter der Legende" sei. Aber, kann man dagegen fragen, wäre denn dieser gutmütig-naive Legendenton der Intention Herders, so ich sie richtig herauslese, überhaupt angemessen gewesen?
Und: war Goethes "Legende" überhaupt auf einen "Legendenton" gestimmt? Ist ihr nicht vielmehr ein "Hans-Sachs-Ton", konkret gesprochen: der Knittelvers, eigen. Hatte nicht Goethe zeitgleich mit Hans Sachs' Legende von "Sankt Peter mit der Geiß" in Wielands 'Teutschem Merkur' auch "Hans Sachsens poetische Sendung" publiziert? Und deutet die 'Hufeisenlegende' in ihrer Diktion nicht zunächst erst einmal diese Tradition an, in die sich weitere scherzhafte Gedichte wie die beiden "Parabeln" leicht einfügen lassen?
Jedenfalls findet sich dort, wo sich Goethe jetzt wirklich ernsthaft um die Verslegende bemüht, die von Schiller der Legende zugewiesene "gutmütige Naivität" nicht vor. Ich spreche von "Der Gott und die Bajadere" (1797), wo Goethe eine Strophenform gewählt hat, die so nur einmal (zweimal?) in seinem Gedichtwerk vorkommt. Ich spreche von "Siebenschläfer" (1814/15), 1819 in das "Buch des Paradieses" des "Westöstlichen Divans" eingereiht, und von "Paria", einer Legende, an der Goethe von 1807 bis 1824 auffällig lange gearbeitet hat.
Der Forschung hat die Strophenform von "Der Gott und die Bajadere" einiges Kopfzerbrechen bereitet, sie hatsich an eine Kirchenliedstrophe erinnert gefühlt (Münchhausen; Mecklenburg) und daraus Schlüsse zu ziehen versucht. Das Kirchenlied, auf das sich Mecklenburg bezieht, stammt von Johann Heinrich Schröder (1667-1699; Melodie: Adam Krieger, 1657 / Neander, 1680 / Halle, 1704) und lautet in der ersten Strophe:
Eins ist not! Ach Herr, dies
Eine
Lehre mich erkennen doch;
Alles andre, wie's auch
scheine,
Ist ja nur ein schweres
Joch,
Darunter das Herze sich
naget und plaget
Und dennoch kein wahres
Vergnügen erjaget.
Erlang ich das Eine, das
alles ersetzt,
So werd ich mit Einem in
allem ergötzt.
Aber die Unterschiede sind, bei den metrischen Affinitäten, doch auffallend: vier statt bei Goethe acht vierhebige Trochäenverse, vier (statt drei) paarreimende Vierheber mit zweifacher Senkungsfüllung. Hätte Goethe dennoch diese Kichenliedstrophe zum Ausgang genommen, hätte er sie sich auf eine dann genau zu erörternde Weise anverwandelt!
Hartmut Laufhütte, der dies als unzulässige Spekulation nachweist, beschreibt die Strophenform wie folgt:
"Sie besteht aus drei metrisch wie syntaktisch klar voneinander abgegrenzten Teilen. Die beiden ersten werden von je vier auftaktlosen und vierhebigen, streng alternierenden Versen mit wechselnd weiblicher und männlicher Kadenz gebildet, sind also kreuzgereimt. Der Andersartigkeit der Schlußgruppe entspricht ihre Benennung als metrischer Refrain. Ihre drei Verszeilen sind ebenfalls vierhebig, jedoch mit zweisilbiger Füllung der Binnensenkungen und - außer in der vierten Strophe - regelmäßigem Auftakt. Die beiden ersten Verse enden weiblich und mit eigenem Paarreim, der letzte, männliche steht in Reimkorrespondenz zum männlichen Verspaar der zweiten Gruppe. Diese Beschreibung ist richtig und falsch. Aber machen wir zuerst die akustische Probe:
Mahadö, der Herr der
Erde,
Kommt herab zum sechstenmal,
Daß er Unsersgleichen
werde,
Mitzufühlen Freud'
und Qual.
Er bequemt sich hier zu
wohnen,
Läßt sich alles
selbst geschehn.
Soll er strafen oder schonen
Muß er Menschen menschlich
sehn.
Und hat er die Stadt sich
als Wandrer betrachtet,
Die Großen belauert,
auf Kleine geachtet,
Verläßt er sie
Abends, um weiter zu gehn.
Auffällig hat Laufhütte bei Beschreibung der Strophe lediglich die Zahl der Hebungen und Senkungen vermerkt, nicht dagegen, ob es sich um steigende oder fallende Verse handelt.
Für den Moment ist mir wichtig, daß sich die ersten acht Verse als trochäisch ansprechen lassen, weil genau vierhebig fallende Verse auch die beiden anderen Legendenballaden Goethes auszeichnen, sowohl die "Siebenschläfer"
Sechs Begünstigte des
Hofes
Fliehen vor des Kaisers
Grimme,
Der als Gott sich läßt
verehren,
Doch als Gott sich nicht
bewehret:
Denn ihn hindert eine Fliege,
Guter Bissen sich zu freuen
wie die in den "Paria" eingeschlossene "Legende"
Wasser holen geht die reine
Schöne Frau des hohen
Bramen,
Des verehrten, fehlerlosen,
Ernstester Gerechtigkeit.
Bei gleichem Versmaß fehlt in diesen Legenden allerdings der Reim, der den "Gott und die Bajadere" noch auszeichnet. Dafür deuten sich unregelmäßig Assonanzen an. Es steht also außer Frage, daß Goethe hier den ungereimten, in "Der Gott und die Bajadere" den gereimten Romanzenvers nutzt. Die in der Forschungsliteratur durchgängig anzutreffende Behauptung, Goethe habe in seiner Lyrik keinerlei Versuche mit der Romanze gemacht, ist demnach dahingehend zu korrigieren, daß er in seinen legendenhaften Balladen sehr wohl den Romanzenvers, und zwar ausschließlich nutzt. Ich darf daran erinnern, daß Herder sich seit 1777 um Übersetzung spanischer Romanzen bemüht hatte bis hin zu seinem Großunternehmen des "Cid", erschienen 1803/1804, also noch vor "Siebenschläfer" und "Paria", und daß Goethe über diese Bemühungen Herders fraglos informiert war, eingedenk der zeitweilig sehr engen Verbindungen zwischen beiden Künstlern.
Ich möchte mit der Bemerkung, daß Goethe auch in "Die Braut von Korinth" einen trochäischen, allerdings 5 hebigen Vers verwendet, den sogenannten serbischen Trochäus, der von Herder und Goethe durch die Nachbildung serbischer Volksballaden in die deutsche Dichtung eingeführt wurde,
Ich möchte, sage ich, mit Hinweis auf die Verwendung des serbischen Trochäus in "Die Braut von Korinth" jetzt zum einigen einlässigeren Bemerkungen zu Goethes legendenhaften Balladen überleiten, wobei ich von der These ausgehe, daß "Die Braut von Korinth" als Ballade der "Indischen Legende" "Der Gott und die Bajadere" als Gegenstück zugeordnet ist bzw. umgekehrt. Das erhellt bereits durch die inhaltliche Entsprechung des Scheiterhaufens, der von der von der Wiedergänger-Braut in Korinth zur Erlösung der Liebenden gefordert wird, in dessen Flammen in der "Indischen Ballade" die Bajadere springt, um sich im Tod dem Geliebten zu vereinen. Gleichsam spiegelverkehrt sind Braut und Bajadere einander zugeordnet. Die von der Mutter im Liebesspiel überraschte, von ihr zum Nonnendasein gezwungene und als Nonne gestorbene Wiedergängerin wird als "Dirne" bezeichnet, die Bajadere der "indischen Legende", von den Priestern an der tödlichen Vereinigung mit ihrem "Gatten" zunächst gehindert, wird schließlich zum Himmel empor gehoben: eine Heilige also.
Diese Verbindung von Liebe und Glut (und wer will, mag dabei auch an das Kompositum Liebesglut denken), von Liebe und Tod ist also der Ballade und der Legende gemeinsam und wird später im "Westöstlichen Divan" erneut auf die Formel gebracht: "Das Lebend'ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet."
Goethes Balladen haben der Forschung einige Schwierigkeiten bereitet, was zum einen ihr Verständnis betrifft, was zum anderen bereits im Gegenstand begründet liegt. Ich hatte bereits in der einleitenden Vorlesung des letzten Jahres mit Laufhütte darauf hingewiesen, daß zunächst vor allem an der "Motivik des Sexuellen" Anstoß genommen wurde und Herder noch im Erscheinungsjahr dagegen protestiert hatte, daß in beiden Gedichten "Priapus eine große Rolle" spiele.
Aber noch 1953 glaubt Emil Staiger "Die Braut von Korinth" mit der Vermutung verteidigen zu müssen, sie habe sich "von der Seele Goethes losgelöst (wie ein) ungeheurer Traum, zu dem der Erwachte sich kaum zu bekennen vermag." Aber noch, nachdem in den 70er Jahren der Blick auf die Liebesthematik dieser beiden Gedichte freier geworden war, blieben sie vor anderen Mißverständnissen nicht verschont.
"In der herablassenden Liebe des Gottes zur Bajadere", kritisiert zum Beispiel Norbert Mecklenburg die "Indische Legende", "der äußerst ungleichen Rollenverteilung", verrate "sich ähnlich wie in der späteren Paria-Trilogie ein bei aller freundlichen Wärme gegenüber den Niedrigen und Unterdrückten konservativ-patriarchalisches Sozialmodell. So unbürgerlich sich die Begegnung des Gottes mit der Dirne" gebe, sie sei "doch, poetisch verklärt, das ganze Elend der Frau in bürgerlicher Ehe, ihrer 'Sklavendienste', das jener, um den Lohn reiner Liebe, in einer einzigen Nacht zugemutet wird: 'Ist Gehorsam im Gemüte, / Wird nicht fern die Liebe sein.' Der Balladenerzähler leistet der männlichen Selbstvergottung des Haustyranns Formulierungshilfe, indem er die Mahnung ans Weib, beizeiten dienen zu lernen, einmal mehr variiert."
Ich kann das hier im Einzelnen nicht auseinandernehmen, so gerne ich dies täte, und belasse es also bei den zitierenden Hinweisen auf eine Forschung, die an Vordergrmndigem sich aufhält, statt durch einlässige Lektüre zu versuchen, Goethes Intentionen hinter den Sinn zu kommen. Dies aber sei im Folgenden wenigstens versucht.
Wie schon Bürgers "Lenore", "Pfarrerstochter von Taubenhain" u.a. ist Goethes Braut von Korinth in einer Leseschicht Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Christentum, nun aber mit dem Unterschied, daß Goethe dem Christentum das Heidentum gegenüberstellt und dabei die Ballade konkret in jener Zeit des Zusammenstoßes von griechisch-heidnischer und christlicher Weltanschauung im Späthellenismus situiert. Die beiden genannten Orte sind dabei nicht ohne Hintersinn gewählt: das noch antike Athen des Bräutigams auf der einen, das schon christianisierte Korinth (vgl. die Korintherbriefe des Paulus mit ihrer Predigt des Triebverzichts, vor allem im 7. Kapitel des ersten Briefes), das Korinth der Braut auf der anderen Seite.
Nach Korinthus von Athen
gezogen
Kam ein Jüngling, dort
noch unbekannt.
Einen Bürger hofft
er sich gewogen;
Beide Väter waren gastverwandt,
hatten früher schon
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam
voraus genannt.
Aber wird er auch willkommen
scheinen,
Wenn er teuer nicht die
Gunst erkauft?
Er ist noch ein Heide mit
den Seinen,
Und sie sind schon Christen
und getauft.
Keimt ein Glaube neu,
Wird oft Lieb und Treu
Wie ein böses Unkraut
ausgerauft.
Natürlich ist dies nicht ausschließlich historisch zu verstehen, sondern gibt nur den Schauplatz, die Konstellation für einen durchaus aktuellen Konflikt zwischen christlicher Orthodoxie und einer neuen Naturauffassung, die dem Sinnlich-Leiblichen der menschlichen Natur einen Eigenwert bei der Entfaltung der Persönlichkeit beimaß. Daß Goethes Ballade nicht abstrakte Ideenballade war, sondern in dieser Konstellation konkret und kritisch Stellung bezog, wurde von den Zeitgenossen durchaus empfunden, erklärt Herders Reaktion, aber auch den Plan des gerade zum Katholizismus konvertierten Friedrich Schlegels, eine im wahrsten Sinne des Wortes reaktionäre Gegenballade zu schreiben: "Der himmlische Bräutigam, oder St. Agathe als Gegensatz der Braut von Korinth". Was auch heißt, wenn man Schlegels Plan, mit der heiligen Agatha die Braut von Korinth zu kontern, beim Wort nimmt, daß Schlegel mit einer Märtyrerlegende, wie man sie u.a. in Voragines "Leganda aurea" für den 5. Februar aufgezeichnet findet, auf Goethes Ballade geantwortet hätte.
Mit dieser Agatha hat aber die Braut von Korinth so gar nichts gemein. Getreu dem Paulinischen "welcher verheiratet, der tut wohl, welcher aber nicht verheiratet, der tut besser", war sie von ihrer Mutter dem Kloster eingezwungen, allenfalls dem himmlischen Bräutigam zwangsvermählt und gleichsam dem Glauben geopfert worden:
Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört,
sagt es die Braut als Wiedergängerin. Ihrer abgeschlossenen Welt zunächst der "Klause" (6,3), dann des "Grabes" (23,7) gegenüber steht eine Welt des "bunten Gewimmels" alter Götter (9,1), in die der Bräutigam die Wiedergängerin zurückzurufen versucht:
"Bleibe, schönes Mädchen!"
ruft der Knabe,
rafft von seinem Lager sich
geschwind:
"Hier ist Ceres, hier ist
Bachus' Gabe;
Und du bringst den Amor,
liebes Kind!
Bist vor Schrecken blaß!
Liebe, komm und laß,
Laß uns sehn, wie
froh die Götter sind."
Sein ursprünglich einsames Abendmahl wird in mehrfacher Bedeutung zum "unerwartet(en) Hochzeitsschmaus" (12,7), bei dem die Wiedergängerbraut zwar, undzwar "gierig" und doppeldeutig "den dunkel blutgefärbten Wein" "schlürft", aber das "freundlich" gebotene "Weizenbrot" verschmäht. Das Vampir-Motiv ("blutgef"rbt") klingt hier erstmals an. Zwar vermag der Jüngling im Verfolg dieses dionysischen Abend- und Hochzeitsmahls das "starre Blut" der vampirischen Wiedergängerbraut zu "warmen", doch das "Herz in ihrer Brust" erneut zum Schlagen bringen, vermag er nicht (18), im Gegenteil bedeutet diese Hochzeitsnacht auch seinen Tod. Denn das im Kontext zunächst wenig verfängliche "Gierig saugt sie seines Mundes Flammen" (18,3), erfährt seinen Hintersinn in der Anklage gegen die Mutter:
Aus dem Grabe werd ich ausgetrieben,
noch zu suchen das vermißte
Gut,
noch den schon verlornen
Mann zu lieben
und zu saugen seines Herzens
Blut.
Ist's um den geschehn,
Muß nach andern gehn,
Und das junge Volk erliegt
der Glut. (26)
Ich muß aus Zeitgründen interpretatorisch offen lassen, ob man diese vampirische Wiedergängerszene real oder als Alptraum des Jünglings betrachten muß. Es ist dies ein interpretatorisches Problem, das uns schon im Falle der "Lenore", der sich die "Braut von Korinth" als Wiedergängerballade ja durchaus vergleichen läßt, begegnete. Wie immer man hier aber auch auslegen will, an der Parteinahme der Autoren ändert sich nichts. Goethes Plädoyer für die hellenistische Welt, "der alten Götter bunt Gewimmel", "als noch Venus' heitrer Tempel stand", für eine Welt der "froh(en) Götter" ist nicht zu überlesen. Die Wiedergängerin wird gegenüber ihrer Mutter und der von ihr vertretenen christlich-rigiden bürgerlichen Moral zur Anklägerin. Der "letzte Wunsch" - traditionell des zum Tode Verurteilten - ist hier die Bitte um den Tod:
Höre, Mutter, nun die
letzte Bitte:
Einen Scheiterhaufen schichte
du;
Öffne meine bange kleine
Hütte,
Bring in Flammen Liebende
zur Ruh!
Wenn der Funke sprüht,
wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern
zu.
Wohl gemerkt, "den alten Göttern zu" soll sich im Flammentod das Leben erneuern, die Liebe "zur Ruh" kommen.
Mit dieser "letzten Bitte" endet die Ballade (möglicherweise der Alptraum des Jünglings). Was Goethe hier noch offen und dem Leser zur Entscheidung überläßt, wird von ihm in "Der Gott und die Bajadere" zur Lösung gebracht:
Und mit ausgestreckten Armen
springt sie in den heißen
Tod.
Doch der Götter-Jüngling
hebet
Aus der Flamme sich empor.
Und in seinen Armen schwebet
Die Geliebte mit hervor.
"In der 'Braut von Korinth'", bewertet Walter Hinck diese unterschiedlichen Schlüsse im Vergleich, "wurden die antiken Götter gegen die Sinnenfeindlichkeit der neuen Lehre apologetisch in Schutz genommen. Hier scheint am Ende durch die 'indische Legende' die neutestamentliche Geste des verzeihenden Gottes durch, die auch die sinnliche Liebe in die Absolution mit einbezieht. Was sich in der einen Ballade wie ein antichristlicher Affekt ausnimmt, korrigiert sich in der unmittelbar folgenden im Geiste des Christentums, ohne die Form des Widerrufs zu benötigen" (23).
Daß dies letztlich nicht zu halten ist, wird im folgenden zu zeigen sein. Doch sei zuvor kurz der Gang der Legende skizziert. Ein Gott, Mahadö, den wir mit Shiva gleichsetzen dürfen, kommt bei seiner 6. Inkarnation unter die Menschen, um sie zu prüfen. Beim Verlassen der Stadt trifft er auf eine Bajadere, die hier allerdings nicht nur als Tempeltänzerin, sondern als Tänzerin und Dirne gezeichnet ist, "ein verlornes schönes Kind", "mit gemalten Wangen", die ihn eindeutig in "der Liebe Haus" einlädt, indem sie ihn mit ihren Künsten umwirbt. Während sie bemüht ist, ihm in allem ("Ruhe, Freuden oder Scherz") zu Diensten zu sein, erkennt der Gott "Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz". Die Forderung der Sklavendienste, also dessen, was von einer Bajadere erwartet wird, erfüllt sie immer weniger berufsgemäß, stattdessen immer liebender, worauf der Gott die Prüfung ins Extrem verschärft.
Nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht und kurzem Schlummer findet sie ihn tot "an ihrem Herzen" (was hier mehr meint als Metapher für Brust). Während die Priester seine Verbrennung vorbereiten,Versucht sie, den von ihr jetzt als "Gatten" apostrophierten Gast zu halten, dem Toten zu folgen, mit verbrannt zu werden, bis sie schließlich ihm nach in die Flammengrube springt, mit dem Ergebnis der schon zitierten Himmelfahrt.
Zum richtigen Verständnis sei zunächst darauf hingewiesen, daß Goethe das Geschehen zwar präsentisch, im Präzens darbietet, es aber - wie auch die spätere Paria-Legende - in einem fremden Kulturbereich und in mythischer Ferne ansiedelt. Einmal sicherlich, um mögliche Mißverständnisse von vornherein auszuschließen; zum anderen aber auch im Interesse des Modellhaften. Im Motivkanon der Weltliteratur haben wir es dabei erstens, wie schon erwähnt, mit dem Motiv 'Gott auf Erdenbesuch' zu tun, undzwar in der Funktion, die Menschen, insbesondere ihre Hilfsbereitsschaft und Gastfreundschaft zu prüfen und entsprechend zu belohnen oder zu bestrafen, zweitens mit dem Motiv der selbstlosen Dirne, das es in mehreren Varianten gibt, in der christlichen Tradition z.B. in der Gestalt der Maria Magdalena, zu deren Legende mehrere Figuren der Evangelien Züge geliehen haben, darunter vor allem die große Sünderin des Lukas-Evangeliums (7, 36-50), eine Legende, mit der später eine weitere Legende von der Maria Aegyptica verschmolz, einer Legende, der wir noch einmal im Zusammenhang mit Brechts Legendendichtung begegnen werden.
Für Goethes "Gott und die Bajadere" von ausschließlicher Bedeutung ist allerdings die indisch-östliche Variante, die echte Liebe zu einem Mann mit der Einsicht in eigenes Fehlverhalten vereint. So zeichnete Mitte des 17. Jahrhunderts der Indienmissionar A. Roger die Geschichte von der Prüfung eines Freudenmädchens durch einen als Liebhaber auftretenden Gott auf, der sich tot stellt, ihre selbstlose Treue an ihrer Bereitschaft, sich als seine Witwe mit ihm verbrennen zu lassen, erkennt und belohnt. Dieser Stoff gelangte über P. Sonnerats "Voyage aux Indes Orientales et a le Chine [...], 1774-81" (1782) zu Goethe (wobei ich hier die Diskussion einiger philogischer Probleme übergehe).
Wenn Goethe seinen "Gott und die Bajadere" also eine "Indische Legende" nennt, ist das wörtlich zu nehmen und verbietet eigentlich von selbst Auslegungen der Art Walter~Hincks. Nun ist aber dessen Interpretation kein Einzelfall und steht letzlich immer noch in einer Tradition, die wir einer gläubigen Hegelphilologie verdanken, die sich bei ihrem Meister dahingehend belehrt fand:
In Goethes Legende sei "die christliche Geschichte der büßenden Magdalena in indische Vorstellungsweisen eingekleidet; die Bajadere" zeige "dieselbe Demut, die gleiche Stärke der Liebe und des Glaubens [...], so daß es zur Erhebung und Versöhnung komme.
Ich möchte etwas genauer lesen als Hegel und seine Jünger, und nenne deshalb zunächst die zwei einzigen Stellen, auf die sich eine solche Lesart der Legende stützen kann. Das ist erstens Strophe 3, Vers 6. Ich zitiere das ganze Angebot der Bajadere:
Schmeichelnd zieht sie ihn
zur Schwelle,
Lebhaft ihn in's Haus hinein.
Schöner Fremdling,
lampenhelle
Soll sogleich die Hütte
sein.
Bist du müd', ich will
die laben,
Lindern deiner Füße
Schmerz.
Was du willst, das sollst
du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz.
Dieses dreifache Angebot ist so weit von der ausschließlichen Fußsalbung Jesu durch die große Sünderin des Lukas-Evangeliums, der Maria-Magdalena-Legende des Voragine entfernt, daß sich Hegels Kurzschluß eigentlich von selbst verbieten sollte, selbst wenn man diesen einen Vers ("Lindern deiner Füße Schmerz") mit dem drittletzten Vers der Legende ergänzt: "Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder. Und sie ist es umso mehr, als die Bajadere - und dies ganz im Gegensatz zur Maria Magdalena - an keiner Stelle des Gedichtes sich als "Sünderin" empfindet noch "Reue" zeigt. Daß dieser drittletzte Vers anders zu verstehen ist und wie er verstanden werden kann, zeigt ein keiner Ausflug in den Text.
Ich habe bereits in der Wiedergabe der Fabel die Verschärfung der Prüfung durch den Gott bis zu seinem Schein-Tod skizziert. Im Verhalten der Bajadere entspricht dem zunächst das alternative Angebot von "Ruhe, Freude oder Scherz", was man mit Nachtlager, Beischlaf oder Unterhaltung banalisieren könnte. Während die Bajadere aber ihrem Gast die geforderten "Sklavendienste" leistet, und vielleicht ist es nützlich, bei dieser Gelegenheit daran zu erinnern, daß die Dirne in Ländern mit Kastenwesen jeweils den untersten Kasten angehört und keinesfalls die Rechte der sonstigen, nicht einmal der ärmsten Frauen, genießt; daß gegen sie Barrieren errichtet sind, die in der Regel den Übergang in eine ihre "Vergangenheit" auslöschende Ehe verhindern -
Während, sagte ich, die Bajadere dem Gast die geforderten "Sklavendienste" leistet, geht in ihr eine Wandlung vor:
Und er fordert Sklavendienste,
Immer heitrer wird sie nur,
Und des Mädchens frühe
Künste
Werden nach und nach Natur.
Und so stellet auf die Blüthe
Bald und bald die Frucht
sich ein;
Ist Gehorsam im Gemüthe,
Wird nicht fern die Liebe
sein.
Ich überspringe den Strophenschluß und setze mit der nächsten Strophe fort:
Und er küßt [=
aktiv] die bunten Wangen,
Und sie fühlt [= passiv]
der Liebe Qual,
Und das Mädchen steht
gefangen,
Und sie weint zum erstenmal;
Sinkt zu seinen Füßen
nieder,
Nicht um Wollust noch Gewinnst,
Ach! und die gelenken Glieder
Sie versagen allen Dienst.
Was die Bajadere hier erfährt, und das verbietet eigentlich jeglichen Vergleich mit der Maria Magdalena, ist die Macht der Liebe, undzwar des Eros, nicht der Agape. Goethe beachtet hier eine äußere Genauigkeit in der Beschreibung der Verwandlung von Liebeskunst in natürliche Liebe:
Und des Mädchen frühe
Künste
Werden nach und nach Natur.
Den "Sklavendiensten" entspricht
jetzt: "Und das Mädchen steht gefangen", ihrer anfänglichen Heiterkeit
ein erstes Weinen. Ihr, die den Gott (2,9-11) mit ihren Tanzkünsten
in "der Liebe Haus" eingeladen hat, "versagen" jetzt "die gelenken Glieder
[...] allen Dienst". Und: sie, die in der 4. Strophe die "Sklavendienste"
der Dirne "gehorsam" leistet, also eine berufsbedingte Aktivität entfaltet,
wird plötzlich zur Empfangenden. "Und er küßt die bunten
Wangen", beginnt ausdrücklich die 5. Strophe, die sie jetzt passiv,
fühlend
und schwach erscheinen läßt.
Aktiv wird sie erst wieder mit dem Tode ihres Gastes, von dem sie ja nicht weiß, daß er ein Gott ist, in ihrem Schmerz um den Verlust und im vergeblichen Einklagen des Toten als ihres Gatten, schließlich in ihrem Entschluß, dem Toten in die "Flammengrube" zu folgen. Wobei sie als letzte Prüfung an die religiösen Societätsbarrieren stößt.
Höre deiner Priester
Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht.
Lebst du doch als Bajadere;
Und so hast du keine Pflicht.
Nur dem Körper folgt
der Schatten
In das stille Todtenreich;
Nur die Gattin folgt dem
Gatten:
Das ist Pflicht und Ruhm
zugleich.
Erst indem sie - mit Goethes Worten - in "ihres Herzens Noth" diese Barriere im wahrsten Sinn des Wortes überspringt, hat sie auch ihre letzte Prüfung bestanden, kann der "Götter-Jüngling" "die Geliebte" - eine Qualifizierung, die betont und auffällig erst hier erscheint - kann der Gott "die Geliebte" endgültig in seine Arme nehmen.
Wenn die letzten drei Verse jetzt einsetzen:
Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder,
kann die Bajadere damit wohl kaum gemeint sein. Wie aber sind die drei letzten Verse dann zu verstehen?
Es freut sich die Gottheit
der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene
Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel
empor.
Goethe hat zwischen den drittletzten und die beiden letzten Verse ein Semikolon gesetzt. Das schließt, bin ich überzeugt, die übliche Lesung: Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder und Unsterbliche heben verlorene Kinder" aus. Ich schlage stattdessen eine zwar/aber-Lesung vor. Zwar freut sich die Gottheit der reuigen Sünder (meinethalben vom Typ einer Maria Magdalena), aber verlorene Kinder von der Art der Bajadere, die bereits einleitend vom Erzähler ein verlorenes schönes Kind" (2,4) genannt wurde, haben die Chance ihrer Erhöhung, wenn sich Kunst in Natur, Gehorsam in überwältigende Liebe, oder wie Goethe es auch sagt: Blüthe (und die steht ja im Kontrast zu den "gemalten", den "bunten Wangen") in Frucht verwandelt. Dies und nichts anderes, und also so gar nichts Christliches scheint mir Goethes "Indische Legende" besagen zu wollen.
Das vorletzte Gedicht des
"Westöstlichen Divans", "Siebenschläfer" aus den Jahren 1814/1815
ist eine echte Legendendichtung. In vielen Kulturkreisen als Sage/Legende
verbreitet, berichtet sie von Schläfern, die ihren zauberhaften Schlaf
über einen außergewöhnlich langen Zeitraum hin ausdehnen,
um dann wieder zu erwachen. Auf die Symbolik der Zahl Sieben die unterschiedlich
ausgedeutet wird, will ich mich hier nicht einlassen. Am berühmtesten
wurde die Legende durch Voragines "Legenda aurea". Sie handelt, wie schon
angedeutet, von 7 Jünglingen zur Zeit der Christenverfolgungen des
Decius, die in eine Höhle bei
Ephesus flüchten, die
man zumauerte. Um 450 soll dann ein Bauer, der seinen Hirten Ställe
bauen wollte, die Höhle zufällig geöffnet und in ihr die
7 Jünglinge lebendig angetroffen haben. Die Legende steht im Zusammenhang
mit der, ist ein wichtiges Zeugnis für die Vorstellung der Existenz
unmittelbar nach dem Tod bis zum Jüngsten Gericht. Die christlichen
Namen der Siebenschläfer lauten Max Amilianus, Malchus, Martinianus,
Constantinus, Dionysius, Johannes und Serapion, werden in anderen Quellen
aber auch mit den (heidnischen) Namen Achillidis, Diomedis, Diogenis, Probatus,
Stephanus, Sambatius, Quiriacus angegeben.
Goethes "Siebenschläfer"-Legende läßt sie namenlos bis auf einen, den er Jamblika nennt. Dieser sowie die Vermehrung des Höhlenpersonals noch um einen alten Schäfer und seinen Hund, sowie den Gottesboten Gabriel am Schluß des Gedichts verweisen jedoch noch auf weitere, dem Kontext des "Westöstlichen Divans" angemessenere Quellen, undzwar zum einen auf die 18. Sure des Korans, genannt "Al Kahf" (= die Höhle), sowie allgemein auf die orientalische Überlieferung des Stoffs, den Goethe aus einer englischen Übersetzung einer arabischen Sammlung christlicher (?) Legenden kannte, an die er sich ebenso wie an die "Al Kahf"-Sure z.T. enger anlehnte. Eine "Islamische Legende" also erzählt Goethe; und in dieser Welt verbleibt auch das abschließende, "Gute Nacht!" überschriebene, letzte Gedicht des "Westöstlichen Divans", in dem Gabriel, der im Koran als Schirmer und Berufer des Propheten benannte Bote Gottes zu den Menschen, ja sogar das Hündchen erneut ihren Platz finden.
Die letzte von Goethe nach langem Anlauf (1807; 1821-23) 1824 veröffentlichte Legende ist wieder im indischen Stoffkreis angesiedelt. Ich spreche von dem Mittelteil der sogenannte "Paria-Trilogie", die Goethe ohne weiteren Zusatz "Legende" überschrieben hat. Die Trilogie handelt von einem Paria, der - mit Goethes eigenen Worten - "seine Lage nicht für rettungslos hält; er wendet sich zum Gott der Götter und verlangt eine Vermittlung, die denn freilich auf eine seltsame Weise herbeigeführt wird. Nun aber besitzt die bisher von allen Heiligen, von jedem Tempelbezirk abgeschlossene Kaste eine selbsteigene Gottheit, in welcher das Höchste dem Niedrigsten eingeimpft ein furchtbares Drittes darstellt, das jedoch zur Vermittelung und Ausgleichung beseligend einwirkt. Wundern darf es uns nicht, daß in unsern, so manchem Widerstreit hingegebenen Tagen auch milde Stimmen sich hie und da hervortun, welche, genau betrachtet, auf ein Höheres hinweisen, von wo ganz allein befriedigende Versöhnung zu hoffen ist." (Kunst und Altertum).
Den Stoff zu seiner "Legende" hatte Goethe wiederum Sonnerats "Reise nach Ostindien und China" entnommen. Die Legende erzählt die Geschichte von der Entstehung einer Pariagottheit. Die Frau eines Bramanen, deren geforderte Reinheit durch das Bild göttlicher Schönheit, das sie in den Wassern des Ganges gespiegelt findet, erschüttert bzw. befleckt ist, wird nach geltendem Gesetz enthauptet. Der Sohn, der sie wieder zum Leben erweckeen möchte, setzt ihr Haupt allerdings versehentlich dem Körper einer ebenfalls kurz zuvor enthaupteten Pariafrau auf, womit "das Höchste dem Niedrigsten eingeimpft" ist, aber auch der "Geringste" jetzt von Brama gehört werden kann.
Ihm ist keiner der Geringste
-
Wer sich mit gelähmten
Gliedern,
Sich mit wild zerstörtem
Geiste,
Düster, ohne Hilf'
und Rettung,
Sei er Brame, sei er Paria,
Mit dem Blick nach oben
kehrt,
Wird's empfinden, wird's
erfahren:
Dort erglühen tausend
Augen,
Ruhend lauschen tausend
Ohren,
Denen nichts verborgen bleibt.
Den hier impliziten Gedanken, daß auch die gesellschaftlich niedrig Stehenden das Recht auf Gehör und eine menschliche Entfaltung haben und daß man ihnen dieses Recht nicht beschneiden darf, hatte Goethe bereits im Dunstkreis des Sturm und Drang, auf seiner winterlichen Harzreise 1777 in einem Brief an Frau von Stein formuliert, wenn er betont,
"Wie sehr ich wieder, auf diesem dunklen Zug, Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedre nennt, die aber gewiß für Gott die höchste ist."
In seinen "Indischen Legenden" greift Goethe diesen Gedanken wieder auf; und er weist damit der Legende eine Aufgabe zu, der die legendenhafte Ballade der Folgezeit in ihren guten Beispielen sich immer wieder unterzieht: Stellung zu nehmen für den gesellschaftlich geächteten, verachteten und/oder erniedrigten Menschen.
Ich kann die Geschichte der legendenhaften Ballade seit Goethe hier nicht nachzeichnen; einen ersten Anlauf dazu hat Walter Hinck in "Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht" unternommen. Ich ergänze diese historische Skizze mit einigen wenigen Hinweisen.
Natürlich gibt es auch weiterhin einen Typus der christlichen Legende. Friedrich Schlegels Plan einer Gegenballade zu Goethes "Braut von Korinth" deutete dies an; in der Romantik finden sich weitere Beispiele, etwa mit Brentanos "Die Gottesmauer", dann bei Anette von Droste-Hülshoff, Gerhart Hauptmann erzählt, in der Tradition des Gott-auf-Erdenbesuch-Motivs, vom Besuch Jesu bei einem armen Kätner, Franz Karl Ginzkeys "Ballade vom Vergeltsgott" ist eine Mirakelerzählung, Armin Juhre aktualisiert die Josephslegende undsofort.
Interessanter aber als dieser Traditionsstrang ist der Goethe folgende Legendentypus, der sich ebenfalls bereits bei Brentano, undzwar in der sogenannten "Freudenhaus-Romanze" findet, der Geschichte einer Dirne, die nun zwar nicht von einem Gott erhöht, die aber - in der Maria-Magdalena-Tradition - von Christus als Sünderin angenommen wird. Brecht greift im 20. Jahrhundert dieses Motiv erneut auf, allerdings ohne teleologische Ausflüchte. Um dies deutlich zu machen, muß man sich der "Maria Aegyptica"-Legende erinnern; dort erzählt die Protagonistin, wie sie siebzehn Jahre lang als Dirne gearbeitet hat, sich dann einigen Pilgern nach Jerusalem anschließt, die Kosten der Überfahrt als Dirne abarbeitet, von einer unsichtbaren Hand am Betreten der Grabeskirche gehindert wird, die sie erst nach einer Marienerscheinung und dem Entschluß eines büßenden Lebens betreten kann. Dagegen Brechts "Legende von der Dirne Evelyn Roe":
Als der Frühling kam
und das Meer war blau
Da fand sie nimmer Ruh -
Da kam mit dem letzten Boot
an Bord
Die junge Evelyn Roe.
Sie trug ein härnes
Tuch auf dem Leib
Der schöner als irdisch
war.
Sie trug kein andres Gold
und Geschmeid
Als ihr wunderreiches Haar.
"Herr Kapitän, laß
mich mit dir ins heil'ge Land fahrn
Ich muß zu Jesus Christ."
"Du sollst mitfahrn, Weib,
weil wir Narrn
Und du so herrlich bist."
"Er lohn's Euch. Ich bin
nur ein arm Weib.
Mein Seel gehört dem
Herrn Jesu Christ."
"So gib uns deinen süßen
Leib!
Denn der Herr, den du liebst,
kann das nimmermehr zahln:
Weil er gestorben ist."
Sie fuhren hin in Sonn und
Wind
Und liebten Evelyn Roe.
Sie aß ihr Brot und
trank ihren Wein
Und weinte immer dazu.
Natürlich hält das Schiff längst nicht mehr Kurs auf das Heilige Land. Der Zeitraffer "Der Frühling ging. Der Sommer schwand" deutet die Dauer des Martyriums an, bis schließlich Evelyn Roe einsieht, daß sie das Heilige Land nicht mehr erreichen wird.
"Nie seh ich dich, Herr Jesus
Christ
Mit meinem sündigen
Leib.
Du darfst nicht gehn zu
einer Hur
Und bin ein so arm Weib."
Nach ihrem Tod durch Ertrinken kommt sie im Frühling im Himmel an, nur um von Petrus den Bescheid zu erhalten:
Gott hat mir gesagt: "Ich
will nit han
Die Dirne Evelyn Roe."
Auch in der Hölle geht es ihr nicht besser:
Der Teufel schrie: "Ich will
nit han
Die fromme Evelyn Roe."
So daß ihr zwischen Himmel und Hölle nichts bleibt als die ewige Wanderschaft ohne Ziel:
Da ging sie durch Wind und
Sternenraum
Und wanderte immerzu.
Spät abends durchs
Feld sah ich sie schon gehn:
Sie wankte oft. Nie blieb
sie stehn.
Die arme Evelyn Roe.
Aber nicht nur die von Brecht als "Legende" ausgewiesenen Gedichte sind "Legende"; manches andere Gedicht ist es bei genauerem Hinsehen auch, so der "Kinderkreuzzug 1939", dcr den historisch besetzten Kreuzzug zu einem Kindermatyrium s"äularisiert:
Schnee fiel, als man sich's
erzählte
In einer östlichen
Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.
Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab
die Chausseen
Und nahmen mit sich andere,
die
In zerschossenen Dörfern
stehn.
Sie wollten entrinnen den
Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden
war.
Dieses Land des Friedens, in das die Kinder wollen, ist im Grunde nichts anderes als das Heilige Land, in das Evelyn Roe will. Und wie sie kommen auch die Kinder nicht am Ziel an.
Auf eine weitere Legende, vielleicht die wichtigste im Brechtschen Werk will ich abschließend wenigstens noch hinweisen. Es ist dies die "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration." Und ich verweise auf diese Legende auch deshalb, weil sie im asiatischen Kulturbereich angesiedelt ist.
Damit hat unser sehr stichwortartiger Gang durch ihre Geschichte für die legendenhafte Ballade eine Breite ergeben, die wir beim einleitenden Versuch, den Umfang der Legende zu bestimmen, bereits festgestellt hatten mit dem Hinweis darauf, daß nicht nur der christliche, sondern auch der buddhistische, der hinduistische, der islamische wie der jüdische Kulturkreis eigene Legendendichtungen hervorgebracht haben.
Ihre historische Skizze, so stichwortartig sie war, läßt die abschließende Hypothese zu, daß die legendenhafte Ballade an all diesen Kulturkreisen und ihren Legenden partizipieren konnte und partizipierte, indem sie sich aus ihnen etwas anverwandelte, das sich dem Hörer als durchaus aktuell erschließt, soweit die Legenden, und dies zunehmend, im 20. Jahrhundert aktuelle Passion und aktuelles Martyrium nicht direkt vorführen: im "Kinderkreuzzug" zum Beispiel, oder - und mit ihr möchte ich schließen - in Sarah Kirschs "Legende über Lilja", die vor dem Hintergrund des Auschwitz-Prozesses zu lesen ist:
1
ob sie schön war ist
nicht zu verbürgen zumal
die Aussagen der Überlebenden
Lagerbewohner
sich widersprechen schon
die Farbe des Haars
unterschiedlich benannt
wird in der Kartei
sich kein Bild fand sie
soll
aus Polen geschickt worden
sein
2
im Sommer ging Lilja barfuß
wie im Winter und schrieb
sieben Briefe
3
sechs drahtdünne Röllchen
wandern
durch Häftlingskittel
übern Appellplatz kleben
an müder Haut stören
den Schlaf erreichen
den man nicht kennt (er
kann nicht
Zeuge sein beim Prozeß)
4
das siebte gab einer gegen
Brot
5
Lilja in der Schreibstube
Lilja unterwegs Lilja im Bunker
Schlag mit der Peitsche
den Namen warum sagt sie nichts wer weiß das
warum schweigt sie im August
wenn die Vögel
singen im Rauch
6
einer mit Uniform Totenkopf
am Kragen Liebhaber
alter Theaterstücke
(sein Hund mit klassischem Namen) erfand
man sollte ihre Augen reden
lassen
7
durch die gefangenen Männer
wurde eine Straße gemacht
eine seltsame Allee geplünderter
Bäume tat sich da auf
hier sollte sie gehen und
einen verraten
8
nun brauch deine Augen Lilja
befiehl
den Muskeln dem Blut Sorglosigkeit
hier bist du oft gegangen
kennst jeden Stein jeden
Stein
9
ihr Gesicht ging vorbei
sagten die Überlebenden
sie
hätten gezittert Lilja
wie tot ging ging
bis der Mann dessen Hund
Hamlet hieß
brüllte befahl genug
10
seitdem wurde sie nicht
mehr gesehen
11
andere Zeugen sagten sie
habe auf ihrem Weg
alle angelächelt sich
mit den Fingern gekämmt
sei gleich ins Gas gekommen
- das war
über zwanzig Jahre
her -
12
alle sprechen lange von
Lilja
13
die Richter von Frankfurt
ließen im Jahr 65 protokollieren
offensichtlich
würden Legenden erzählt
dieser Punkt
sei aus der Anklage zu streichen
14
in dem Brief soll gestanden
haben wir
werden hier nicht mehr rauskommen
wir haben
zu viel gesehn.