Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Eine frühe Vorlesung zum Thema

Ich möchte der eigentlichen Vorlesung den Kommentar einiger Zitate voranstellen. Das erste Zitat entnehme ich der Vorrede zu "Balladen und Romanzen der deutschen Dichter Bürger, Stollberg und Schiller. Erläutert und auf ihre Quellen zurückgeführt von Fr(iedrich) Wilh(elm) Val(entin) Schmidt (1787-1831), einem Buch, das der Balladenforschung bisher merkwürdig unbekannt, 1826 in Berlin erschien. Das Buch basiert auf öffentlichen Vorlesungen Schmidts zu diesem Gegenstand, die er an der Berliner Königlichen Universität gehalten hatte. Es dürften dies zugleich die ersten Vorlesungen zu diesem Gegenstand gewesen sein. Und der Wunsch ihres Verfassers, das Buch möge "auch im Gebiet der sogenannten schönen Litteratur Gründlichkeit und Redlichkeit befördern" (S. VII), ist zugleich eine Absage an jeglichen spekulativen, ein Plädoyer für einen philologischen Umgang mit dem Gegenstand, wie mit der Literatur überhaupt. Das ist schon deshalb hier anzumerken, weil die Geschichte der Balladenforschung sich von der Spekulation nicht hat freihalten können und wollen und dabei philologischen Ansprüchen nicht immer genügt hat.

Schmidt beginnt seine "Vorrede" mit der Feststellung und Überzeugung:

"Es ist Thatsache, daß die Balladen und Romanzen[,] woran die hier folgenden Untersuchungen sich schließen, im Gedächtniß und Munde fast des ganzen deutschen Volkes sind. Die Hörsäale unsrer Schulen ertönten seit Beinah dreißig Jahren davon, und was der Jugend früh so lieb geworden, das bleibt ihr im Alter, wenn auch bei ganz veränderter Richtung des Lebens, ein nicht anzutastender Besitz. Den bedeutenden Einfluß dieser Gedichte auf das jetzt heran wachsende Geschlecht können kritische Untersuchungen über sie und ihren Werth weder vermehren noch hemmen. Nicht wie Erscheinungen der Literatur, die, plötzlich Mode geworden, einige Jahre Aufsehen machen -

Schmidt macht hier die Anmerkung, daß "unsre Sprache [...] keine Redenart [habe], welche ein solches wie durch Zauberschlag hervorgerufenes Eindruckmachen zutreffend bezeichnete, wie das französische faire fureur", also -

Nicht wie Erscheinungen der Literatur, die, plötzlich Mode geworden, einige Jahre Aufsehen machen, und dann spurlos verschwinden; vielmehr als eng verwebt mit den Ansichten und Gefühlen der deutschen Mitwelt, verdienen diese Romanzen
ausgezeichnete Beachtung" (S. 111/1V).

Drei Punkte dieses einleitenden Abschnitts der "Vorrede" sind im Zusammenhang der Vorlesung. interessant.

1. die Datierung der Popularität des Gegenstandes: "seit beinah dreißig Jahren". Das ist in der Tat - verglichen etwa it Werther-Fieber und -Mode (vgl. Hillebrand: Die Werther-Krankheit in Europa) - für die Popularität einer Gattung ein beachtlicher Zeitraum, der sich leicht erweitern läßt. Denn rechnet man von 1826 "beinah dreißig Jahre" zurück, kommt man ins Jahr 1797 und damit zu einem in jeder Balladengeschichte als erster Höhepunkt der Gattung ausgewiesenen Datum. Mit 1797 datieren denn auch die ersten von Schmidt behandelten Balladen Friedrich Schillers. Umso auffälliger ist allerdings, daß von dem Partner, mit dem Schiller im Jahre 1797 den Typus der sogenannten Ideenballade entwickelte, keine einzige Ballade Aufnahme in Schmidts Vorlesungen fand. Ich spreche von Goethe und insbesondere von den beiden, ebenfalls 1797 entstandenen, bis heute anstößigen Balladen "Die Braut von Korinth" und "Der Gott und die Bajadere", die im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller damals ausführlich erörtert wurden. Dieses Desiderat ist bei der allgemeinen Wertschätzung Goethes allenfalls damit erklärbar, daß Goethe als Balladendichter damals weniger im öffentlichen Bewußtsein war, zumal sich die genannten wie seine früheren typusbildenden naturmagischen Balladen "Erlkönig" und "Der Fischer" nicht so recht den von Schmidt behandelten Balladen Schillers, Stollbergs und Bürgers fügen wollen.

Das könnte seine Begründung aber auch darin haben, daß Schmidt, wie andere damals, an "der Motivik des Sexuellen" (Laufhütte, Klassik u. Romantik, 118) Anstoß genommen hatte. Schon 1797 hatte Herder dagegen protestiert, daß in den beiden Balladen "Priapus eine große Rolle"ä spiele; 1803 ist er sogar - nach den Worten seiner Frau - "von der Bajadere, die gesungen worden war", "krank [...] geworden". "Er kann nun einmal diese Sachen nicht vertragen". Und noch 1953 vermutet Staiger für "Die Braut von Korinth", sie müsse sich "von der Seele Goethes losgelöst haben" wie ein "ungeheurer Traum, zu dem der Erwachte sich kaum zu bekennen wagt." (Zit. Freund, 5. 35). Zu welcher Erklärung man auch immer neigen mag, beide legen ein die Gattung betreffendes Vor-Urteil Schmidts nahe und wären damit ein frühes Beispiel dafür, daß und wie sehr Vor-Urteile Geschichtsschreibung und Anthologisierung der Gattung bis heute mit bestimmt haben.

Mit den von Schmidt behandelten Balladen Stollbergs und Bürgers erweitert sich der Zeitraum andererseits deutlich über die "beinahe dreißig Jahre" zurück bis in Jahr 1774, in dem Bürger im Göttinger Musenalmanach seine "Lenore" publizierte und damit - hier wenigstens ist sich die Forschung inzwischen einig geworden - die Gattung der Kunstballade etablierte.

Das Zweite, auf das ein Leser der Schmidtschen "Vorrede" achten sollte, ist eine Unsicherheit der Gattungsbestimmung. Denn obwohl alle von ihm behandelten Texte Bürgers, Stollbergs und Schillers heute durch die einschlägigen Anthologien als Balladen ausgewiesen sind, spricht Schmidt entweder von Gedicht und/oder von Balladen und Romanzen und verwendet damit eine Doppelterminologie, die sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen läßt. Daß ließe sich aus einer Unsicherheit der (neuen) Gattung gegenüber erklären. Eine andere Erklärung, die ich bevorzugen würde und für die ich im Laufe der Vorlesung deshalb plädieren möchte, wäre: daß die Ballade von ihren Voraussetzungen her und in ihrer Entwicklung von Anfang an eine fluktuierende Gattung mit fließenden Grenzen war und ist, die einerseits zwar, und darunter durchaus zeitbedingte und modische Tendenzen und Typen ausprägte und auch kräftig herunterwirtschaftete, die aber andererseits sich dank ihrer fließenden Grenzen stets auch zu regenieren vermochte. Und dies bis heute.

Ob man allerdings die Langlebigkeit der Ballade, und das wäre zugleich das Dritte, das zu Schmidts Vorrede anzumerken ist,
ob man allerdings das lange Leben der Ballade damit erklären darf und kann, daß sie eng verwoben sei "mit den Ansichten und
Gefühlen der deutschen Mitwelt", eine These, die noch in Wolfgang Kaysers "Geschichte der deutschen Ballade" (1936)
nachdrücklich vertreten wird, deren letztes Kapitel "Die Ballade als deutsche Gattung" überschrieben ist, ob man - sage ich -
das lange Leben der Ballade von deutscher Wertarbeit herleiten kann, scheint mehr als fraglich. Dennoch gehören Kaysers
Einschätzung von 1936, Schmidts Versuch von 1826, die "Romanzen und Balladen [...] einzeln als National-Eigenthum" zu betrachten, zu zeigen, "woher ihr Inhalt entnommen, welchen Charakter sie in den früheren Darstellungen hatten, und welchen sie jetzt erhalten haben, wodurch sie unter uns einbürgert sind", dennoch gehört dies und anderes mehr als konstitutives Mißverständnis nicht nur zur Rezeptionsgeschichte der Gattung und ist deshalb im Folgenden durchaus mitzubedenken.