Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Arno Holz

Das zweite Zitat, eine kleinen Zitatengruppe, die ich einleitend kommentieren möchte, datiert mit Ende des 19. Jahrhunderts, genauer: mit den Jahren 1886 und 1902. 1886 veröffentlichte Arno Holz erstmals seine Gedichtsammlung "Das Buch der Zeit", und dort, in der Gruppe der "Literarischen Liebenswürdigkeiten", eine "Deutsche Literaturballade" (Werke V, 117 f.).

Deutsche Literaturballade

Kennt ihr das Lied, das alte Lied
vom heiligen Hain zu Singapur?
Dort sitzt ein alter Eremit
und kaut an seiner Nabelschnur.

Er kaut tagaus, er kaut tagein
und nährt sich kärglich nur und knapp.
Denn ach, er ist ein großes Schwein
und nie fault ihm sein Luder ab!

Rings um ihn wie das liebe Vieh
wälzt sich zerknrischt ganz Singapur,
und "Gott erhalte" singen sie,
"noch lange seine Nabelschnur!"

Denn also geht im Volk die Mär,
und also lehrt auch dies Gedicht:
Wenn jene Nabelschnur nicht wär,
dann wär auch manches andre nicht.

Dann hätte beispielsweise Lingg
nie völkerwandernd sich verrannt,
und Wagners Nibelungenring
läg noch vergnügt im Pfefferland.

Uns hätte nie Professor Dahn
Urdeutsch doziert von A bis Z,
und kein ägyptischer Roman
verzierte unser Bücherbrett.

Wolffs Heijerleispoeterei,
kein Baumbach wär ihr nachgetatscht,
und Mirzas Reimklangklingelei
summa cum laude ausgeklatscht.

Dann schlüge endlich unsrer Zeit
das Herz ans Herz der Poesie,
der Rütli schwüre seine Eid,
und unser TelL wär das Genie.

So aber so - frei, fromm und frisch
kaut weiter jener Nimmersatt;
sein eigner Schmerbauch ist sein Tisch,
sein -wisch ein Bananenblatt.

Und um ihn, wie das liebe Vieh,
wälzt sich zerknirscht ganz Singapur,
und "Gott erhalte", brüllen sie,
noch lange seine Nabelschnur!"

Diese "Literaturballade" ist, selbst wenn man ihre Anspielungen nur zum Teil oder gar nicht auflösen könnte, eine unüberhörbare Auseinandersetzung mit literarischen Zeitgenossen, Literatursatire also, die sich allerdings erst aufschließt, wenn man die Anspielungen versteht. Ich gebe deshalb ein paar Erklärungen.
Kennt ihr das Lied, das alte Lied
vom heilgen Hain zu Singapur?
Karl Riha, der in seinem Versuch "Zur Geschichte der modernen Ballade", "Moritat, Song, Bänkelsang" (1965) diese "Literaturballade" gleichfalls zitiert und kommentiert, vermutet, hinter dem einleitenden "Kennt ihr das Lied" verberge sich Goethes
Mignon-Lied: "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn". Das mag mit anklingen. Holz' parodistische Anspielung ist aber viel konkreter, nämlich auf ein Gedicht von Hermann Lingg,
Das Krokodil

In heil'gen Teich zu Singapur
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämlicher Natur
Und kaut an einem Lotosstiel.

Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch, wenn ein schöner Tag ist, lacht's.

(zit. nach Liede II, 290; dort auch zur "Gesellschaft der Krokodile): Dieses Gedicht Linggs, der ja in der "Literaturballade"
namentlich genannt wird, gab der Müchner Dichter"Gesellschaft der Krokodile" den Namen, einer Literatengesellschaft, die Paul Heyse im Winter 1856/57 gründete und die bis 1883 Bestand hatte. Es war dies - hier täuscht Linggs (1820-1905) Gedicht ein wenig - eine durchaus ernste Gesellschaft, in der man sich gegenseitig Neuerscheinungen vorlas und sie besprach, wobei der Humor, - wie der in Holz' "Literaturballade" ebenfalls bedachte Felix Dahn erinnerte, allenfalls "frostig und gezwungen" war (zit. Liede II, 291).

Linggs Gedicht lieferte Holz jedenfalls die Strophenform und ein erstes Stichwort für seine "Literaturballade", deren Zielgruppe die Autoren Lingg, Dahn, Julius Wolff (16.9. (!) 1834-1910), Rudolf Baumbach (1840-1905) und Friedrich Bodenstedt (1819-1892) waren, der mit seinen pseudoorientalischen "Liedern des Mirza Schaffy" (1851) seinerzeit äußerst erfolgreich war. Übrigens wurde erst 1874 bekannt, daß Bodenstedt der Verfasser dieser Lieder war, was erklären könnte, warum Holz hier noch von Mirza spricht. Nimmt man zu dieser Namensliste ferner den stabreimenden Richard Wagner hinzu, wird die Zielrichtung der Holz'schen "Literaturballade" deutlicher:

1. zielt sie auf die epigonale Dichtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ihre Rückgebundenheit, auf die das groteske Bild des an seiner Nabelschnur kauenden Eremiten verweist. Wobei man eher hier als beim Eingangsvers an Goethe gemahnt wird, der 1775 in seinem unter dem Titel "Auf dem See" bekannt gewordenen Gedicht die "Nabelschnur" lyrisch hoffähig machte:

Ich saug an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur
Die mich am Busen hält.
Bezogen auf diesen Text hätte der Eremit der "Deutschen Literaturballade" nichts mehr aus der Welt zu saugen, weshalb er an seiner "Nabelschnur" eben nur noch "kauen" kann, um sich derart "kärglich nur und knapp" zu "nähren" 2. Die zweite Stoßrichtung Holz', und erst das erklärt auch den Titel "Deutsche Literaturballade" zur Gänze, die zweite Stoßrichtung ist die deutschtümelnde historische Balladenproduktion der genannten Autoren, wofür ich mich auf die Nennung weniger Titel beschränken darf: für Dahn z.B. auf die "Gotentreue", "Die Gotenschlacht", den "Gotenzug", für Lingg z.B. auf den "Normannenzug", "Geiserichs Abzug von Rom", "Attila Schwert", für Wolff auf "Die Fahne der Eindundsechziger" undsofort.

Daß diese Autoren auch anderenorts in den "Literarischen Liebenswürdigkeiten" von Holz bedacht werden, sei wenigstens am Rande erwähnt. Wichtig ist: daß Holz' "Deutsche Literaturballade" mit einer Balladentradition satirisch abzurechnen versucht. Daß Holz dabei nicht nur die deutschtümelnde, historische sondern Ballade allgemein meint, hat er noch einmal 1902 in seiner "Blechschmiede", und dort vor allem im "Actus primus" deutlich gemacht: im "Kampf der Skalden, Barden, Minstrels, Lauten-, Lyrenschläger, Lurenbläser, Tubentuter, Dichter, Wagen, Helden, Rosse und Gesänge". Bereits dieser Titel faßt fast (allerdings nur fast!) die ganze bisherige Balladengeschichte und ihr Verständnis schlagwortartig zusammen bis hin zur Anspielung des Eingangsverses der "Kraniche des Ibycus": "Zum Kampf der Wagen und Gesänge". Aber auch andere Balladen Schiller bekommen ihr Fett ab, wenn Holz z.B. den "Herold" in "schillerndstem Pathos"ä "dröhen" läßt:

Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt,
allein, zu zweien oder zu dritt,
um diesen Preis hier zu streiten?
Er stimme die Leyer und trete vor!
Der heiligen Neun geweihter Chor
soll ihm sein Festlied begleiten.

Er reiße sein Maul, er weite den Schlund
und überlasse uns den Befund.

(Werke, VI, 22 f.). Anders als in der "Deutschen Literaturballade" hämmert Holz in seiner "Blechschmiede" nicht nur auf die zeitgenössische Lyrik, und nicht nur auf die Balladendichter ein, sondern seine Literatursatire gerät ihm zu einem Rundumschlag, der auch Schiller und Goethe (ausgelöst wohl durch den Goethekult um 1900), ja den Autor selbst miteinschließt, nicht ohne am Schluß auch Literaturwissenschaft und Philologie im "Chor der Makulaturprofessoren" mitzubedenken. So werden konsequenterweise gegen Ende des ersten Aktes ganze Gattungen der Literaturgeschichte liquidiert: Die Verserzählung, der Romanzenzyklus und die Ballade:
Chor:
Weg, du Epopöe in Stanzen,
abgestanden schmeckt der Bräu.
Heil, Roman dir in Romanzen,
du bist funkelnagelneu!

Plantschneese:
Wat? Roman un denn Romanzen?
Son Jeschmatze und Jeschmuhß!
Danach konnte man ja danzen,
schon als Karl durcht Posthorn bluhs!

Chor:
Ausgeseufzt hat die Romanze,
die Ballade hat gebumst.
Ach, die schöne Pomeranze
ist ins Wasserloch geplumpst!

Doch das "Herz" kanns nicht "verwinden",
süße "Tränen" sind "erglommen";
und das alte Waschweib kann nun
nie damit zu Ende kommen!

(Werke, VI, 116 f.)

Drei Punkte möchte ich, festhalten bzw. ergänzen.

1. Auch Holz nennt noch Romanze und Ballade fast im gleichen Atemzug, läßt seine Bühnenfigur Plantschneese allerdings darauf hinweisen, daß die Romanze tanzbar gewesen sei. Auf diesen Zusammenhang von Ballade und Tanz wird im Laufe des Semesters noch einzugehen sein.

2. Zurecht hat Karl Riha darauf hingewiesen, daß Holz in "Die Blechschmiede" eine "Bänkelsangszene en miniature" integriert
habe. Allerdings ist diese "Bänkelsangszene" nicht dem realen Bänkelsang nachgestellt, sondern dem sogenannten "Salonbänkelsang" zuzuordnen, den "Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten" bzw. den komischen Moritaten der "Fliegenden
Blätter" mit ihrem Wechselspiel von Bild und Text. Wobei hinzukommt, daß Holz hier fraglos auch Wilhelm Busch seine Reverenz erweist. Denn er plaziert sein Bühnen-Alter-Ego, den "Herrn Mitte Dreißig" vor einer "Transparenzleinwand" "auf der sich zunächst, allen ,teuer' , allen ,vertraut', 'überlebensgroß', die bekannte, belorbeerierte, skizzierte, kolorierte Portrait'silunette' des deutschen Volkslieblings ,Balduin Bählamm' zeigt. Die dann folgenden, schnell wechselnden Bilder, auf die der "Herr Mitte. Dreissig", später weitere Spielfiguren zur Illustration ihrer Zweizeiler mit einem Zeigestock "tippen", lassen sich auch als eine Hommage auf Wilhelm Busch hören. Ich gebe eine Probe:

Strahlender als Zinn und Zink
strahlt der deutsche Dichterling!

Sitzen zwei Liebende beieinander,
duftet gleich der Oleander.

Duftet schwül der blaue Flieder,
schwillt dem Mädchen meist das Mieder.

Duftet später der Holunder,
wird das Mädchen merklich runder.

Zittert dann zum Schluß die Espe,
ist sie wieder eine Wespe.

(Werke, VI, 90 f.).

Wie immer man diese Sequenz der "Blechschmiede beurteilen will, als "Bänkelsangszene en miniature", als Anspielung auf die "Moritaten" der "Musenklänge" und "Fliegenden Blätter" oder gar als Hinweis auf Wilhelm Busch - Transparenzleinwand und Zeigestock, die Verbindung von Bild und Text verweisen auf den Bänkelsang und damit auf eine trivialliterarische Gattung, zu der hin die Ballade in ihrer geschichtlichen Entwicklung wiederholt fließenden Grenzen aufweist. Daß Holz den Bänkelsang anspielt in einem Kontext, in dem er andererseits die traditionelle Ballade - und damit übrigens auch eigene Balladen - verwirft, wäre das zweite, was ich festhalten möchte. Und

3., daß sich zeitgleich mit Holz' Absage an die traditionelle Ballade Börries Freiherr von Münchhausen, Lulu von Strauß und Torney und Agnes Miegel anschicken, die deutsche Kunstballade zu erneuern: eine Erneuerung, die wesentlich epigonale Züge trägt und in ihrer Entwicklung zur Ideologisierung der Gattung führte, zu ihrer Indienstnahme für konservative, nationalistische und nationalsozialistische Interessen.