Was diese restaurative Balladenerneuerung in die Sackgasse führte, war das Mißverständnis und die Verabsolutierung eines ihrer Ansätze, die Bestimmung der Ballade als einer "nordischen" Dichtart. Mit "nordisch" war im Kontext der Wiederentdeckung der Volksballade, der Entstehung der Kunstballade im Umfeld des Sturm und Drang ein Stichwort gegeben, das sich wie ein roter Faden durch die Reflexion der Gattung zieht. Noch 1943 bestätigte Max Kommerell der Ballade eine "mehr nordische Gebärdensprache". Das ist - in der richtigen Relation gelesen - zwar durchaus ein Aspekt der vielfältigen, komplexen Gattung, aber eben nur ein Aspekt. Wer Goethe als Kronzeugen für die Ballade als einer "nordischen" Dichtart zitiert, sollte hinzu fügen, daß Goethe praktisch im gleichen Atemzug auch von "Balladenwesen und Unwesen" spricht, sein Diktum also - bezogen auf die Balladenpraxis - durchaus relativiert: zu einem Ingredienz. Das bestätigen bereits an der Oberfläche die beiden genannten Balladen "Die Braut von Korinth" und "Der Gott und die Bajadere", die aus dem gleichen Jahre stammen wie die beiden Briefzitate, nämlich aus dem Balladenjahr 1797.
Bereits dieses Datum, nach der Italienischen Reise, nach Fertigstellung und Publikation der "Iphigenie" und des "Tasso" verbietet es, Goethes Hinweis auf das "Nordische" jener Tendenz zuzuschlagen, die sich in den Vorlesungen Schmidts von 1826 andeutet, 1846 in der von Ignaz Hub herausgegebenen, äußerst erfolgreichen Anthologie "Deutschland's Balladen- und Romanzendichter [...]. Eine Auswahl des Schönsten und charakterisch Wertvollsten" klar zutage tritt. Er habe, schreibt Hub im Vorwort zur ersten Auflage, die bis 1864 viermal aufgelegt wird und dabei um ein Dreifaches anschwillt, -
Er habe, schreibt Hub im Vorwort zur 1. Ausgabe, in seiner Auswahl Proben jener literarischen Form zusammengetragen, die als "beliebteste und nationalste Dichtungsart der Deutschen [...] noch täglich mit nicht versiegender Liebe ihre Feier und Anerkennung im Munde des Volkes findet". Balladenanthologie wird zu Balladenideologie, wie es Gerhard Köpf (Die Ballade. Probleme in Forschung und Didaktik, 5. 267) auf die Formel bringt.
Was hier bereits greifbar wird, verschärft sich in der noch zu schreibenden Geschichte der Balladen-Anthologien. Und es bekommt eine immer eindeutigere Stoßrichtung, als sich Börries von Münchhausen um die Jahrhundertwende anschickt, die "nordische" Ballade zu erneuern, die er "in den Eigenarten niederdeutscher Stämme, im Nebel und in der Diesigkeit niederdeutscher Landschaften verankert sieht" (Hinck, 6).
Ich ergänze zitierend aus den "Meisterballaden" von 1923:
"Und doch ist gerade hier das tiefste und klarste Wissen lebendig, und in einer nordischen Ballade liegt mehr Weistum als in hundert italienischen Sonetten und französischen Romanzen."
In einem von Münchhausen eingeleiteten "Niederdeutschen Balladenbuch" aus dem Jahre 1925, ist sogar davon die Rede, daß "alle Ballade aus dem Norden von den Blaublonden her über die staunende Welt" gekommen sei. Von hier bis zur Degradierung der Ballade zur politischen Gebrauchsware bedarf es nur noch eines kleinen Schritts.
In diesen Entwicklungskontext fügt sich Wolfgang Kaysers 1936 erschienene, 1943 neu aufgelegte "Geschichte der deutschen Ballade", wie bereits die einleitenden Sätze des Vorworts ablesen lassen:
"Balladendichtung. Ein Stück Welt öffnet sich, in dem es dröhnt von dem Hufschlag anstürmender Pferde, Rüstungen blitzen, herrische Rufe werden laut, es gibt nur Sieg oder Tod im Zusammenprall, aber über dem Sterbenden noch steht das Ziel, dem er treu blieb, und der einzelne wird zu einem aus der Schar der ewig männlichen Kämpfer. Oder ein anderer Ausschnitt: da lauert hinter dem Menschen eine größere Macht, kündet sich im Rauschen des Waldes oder des Meeres oder im nahenden Sturm an, ballt sich zusammen, überfüllt und vernichtet ihn. Und wieder ist es kein Ausschnitt aus einer einmaligen Zufälligkeit; wir spüren nicht mehr einen Dichter, der da spricht, sondern werden mitgerissen in dieser Welt des Ungesicherten und Schicksalhaften. Wir erkennen die Weltausschnitte als zu uns gehörig und verbindlich an."
Was Kayser dann im Verlaufe seiner Untersuchungen als "Unterarten" der Ballade vor allem herausstellt, die Geister-, die Schauerballade, die naturmagische, die Schicksalsballade, die historische, die Ritter- und die Heldenballade, summierte und vereinseitigte zugleich die Ballade zur "nordischen" Gattung, und dies so nachdrücklich und scheinbar endgültig, daß Walter Müller-Seidel 1963 bei einem Versuch, die "Umrisse" einer Geschichte der Ballade noch einmal nachzuzeichnen, resignierte: es sehe "ganz so aus, als habe die Ballade in Deutschland ihre Geschichte gehabt", von einem "gestörten Verhältnis" sprach. Und an anderer Stelle: "Die Zeit der Ballade in den uns geläufig gewesenen Formen ist gewesen." Wolle man sich "des Begriffs in neuerer Dichtung noch fernerhin bedienen", so könne dies nur "in einem veränderten Sinne" geschehen.
Arno Holz' satirische Auseinandersetzung
mit der Balladomanie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Bankerott einer
Balladenerneuerung nordischer Couleur, der Konkurs des wissenschaftlichen
Diskurses und schließlich die Resignation, daß es
sich bei der Ballade nurmehr um eine
museale Gattung handle, die allenfalls auf der Schule noch ein kümmerliches
Dasein friste - immerhin kann - wie ich kürzlich der Zeitung entnahm
- ein ehemaliger Kultus- und Sportminister dieses Landes Ludwig Uhlands
"Schwäbische Kunde" auswendig hersagen - das alles würde noch
keine Vorlesung rechtfertigen.
Offensichtlich gelang es aber weder ihren Dichtern noch ihren Interpreten, die Ballade gänzlich mundtot zu machen. Im Gegenteil: seit den 60er Jahren nimmt die Balladenproduktion - wenn auch unter anderen Vorzeichen - erneut größeren Umfang an. 1975 wird zum zweitenmal in ihrer Geschichte von einem Balladenjahr gesprochen. Und auch die Forschung hat die Weichen neu gestellt. Vor allem zwei Autoren sind hier vor anderen zu nennen: Karl Riha und Walter Hinck. Erstmals 1965, also in unmittelbarer zeitliche Nähe zu Müller-Seidels Resignation, legt Karl Riha mit "Moritat, Song, Bänkelsang" einen ersten Versuch "Zur Geschichte der modernen Ballade" vor, dem er 1975 mit "Moritat, Bänkelsong, Protestballade" einen Versuch "Zur Geschichte des engagierten Liedes in Deutschland" folgen ließ. Riha setzt mit Arno Holz ein. Sein wesentlicher Ansatz liegt darin, daß er die Ballade in den sozialen Kontext stellt, ihre auch formale Aktualität betont, indem er den Balladenbegriff in Richtung Bänkelsang, Moritat und politisches Lied erweitert. Ob dieser Ansatz auch historisch, d.h. für die ganze Geschichte der Gattung fruchtbar gemacht werden kann, wird unter anderem im Laufe der Vorlesung zu fragen sein. Desgleichen, ob die Kritik Hartmut Laufhüttes, in Rihas Arbeiten herrsche vollkommene begriffliche Sorglosigkeit, zurecht besteht.
1968, also drei Jahre nach Riha, legt
Walter Hinck mit "Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht" eine
kritische Bestandaufnahme und den "Versuch einer Neuorientierung" vor,
indem er - dem nordischen Typus den Typus einer Legenden-
Ballade an die Seite stellt, der der
Geschichte der Ballade von Anfang an eingeschrieben gewesen sei. Ein wichtiger
Beleg für Hinck ist dabei Goethes "indische Legende" "Der Gott und
die Bajadere", der exemplarische Autor von Legenden-Balladen im 20. Jahrhundert
Bertolt Brecht, der auch in Rihas Überlegungen zu Bänkelsang
und Ballade eine zentrale Rolle spielt.
Natürlich hatte auch Kayser in seiner Geschichte Brecht nicht übergehen können, aber für ihn war Brecht Negativbeispiel eine Autors, für den es "keine sittlichen Wertungen" gebe, für ihn waren Brechts Balladen "verbindlicher Ausdruck eines Kulturideals, das nur die animalischen Triebe als Werte anerkannte" (beide Zitate S. 274).
Kritisierte Hartmut Laufhütte im Falle Rihas die begriffliche Sorglosigkeit, kritisiert er im Falle Hincks "die Art, in welcher der [...] obsolet gewordenen 'nordischen' als weiterhin lebensfähiges Pendant die 'legendenhafte' Ballade" gegenübergestellt werde. Abermals ginge es "um 'Weltverständnis und menschliche Grundhaltungen'", also eine Sichtweise, die bereits die Balladengeschichte Kaysers bestimme.
Demgegenüber versucht Laufhütte selbst einen "wissenschaftlich vertretbaren und praktikablen Balladenbegriff" zu erarbeiten. Dafür stützt er sich auf einen Balladen-Kanon, der "möglichst gleichmäßig dasjenige" repräsentiere, "was sich als der 'kleinste gemeinsame Nenner' ausgrenzen läßt", also aus Texten besteht, "die alle Theoretiker und Historiker der Gattung als zu deren unanfechtbarem Bestand gehörig angesehen haben bzw. ansehen". (Dies und alle anderen Zitate aus dem Nachwort Laufhüttes aus der von ihm edierten Anthologie "Deutsche Balladen Stuttgart 1991).
1979 hat Laufhütte seinen Versuch einer "Grundlegung der Gattungsgeschichte", "Die deutsche Kunstballade" vorgelegt. Untersucht werden 21 Balladen von Bürger bis Heine, mit dem Ergebnis eines vorläufigen Gattungsmodells, einer Modellformel, von denen Praktikabilität Laufhütte so überzeugt ist, daß er sie ein weiteres Mal im Nachwort einer von ihm besorgten Balladenanthologie des Jahres 1991 wiederholt.
Was für sie charakteristisch ist, ist die Betonung des Strukturellen, der teleologischen (Teleologie: Lehre von Zweck und Zweckmäßigkeit im Natur- und Menschenleben) Struktuierung des Balladenvorgangs. Das ist, wenn man so will, eine radikale Gegenposition zu jener "Weltausschnitt"-Definition, die Kaysers Vorwort für die Ballade bestimmte. Ich möchte, um dies deutlicher zu machen, Kaysers bereits zitierte Definition wiederholen und ihr Laufhüttes Gattungsmodell folgen lassen.
Zunächst also noch einmal Kayser:
"Balladendichtung. Ein Stück Welt öffnet sich, in dem er dröhnt von dem Hufschlag anstürmender Pferde, Rüstungen blitzen, herrische Rufe werden laut, es gibt nur Sieg oder Tod im Zusammenprall, aber über dem Sterbenden noch steht das Ziel, dem er treu blieb, und der einzelne wird zu einem aus der Schar der ewigen männlichen Kämpfer. Oder ein anderer Ausschnitt. Da lauert hinter dem Menschen eine größere Macht, kündet sich im Rauschen den Waldes oder des Meeres oder im nahenden Sturm an, ballt sich zusammen, überfällt und vernichtet ihn.
Und wieder ist es kein Ausschnitt aus einer einmaligen Zufälligkeit! wir spüren nicht mehr einen Dichter, der da spricht, sondern werden mitgerissen in diese Welt des Ungesicherten und Schicksalhaften. Wir erkennen die Weltausschnitte als zu uns gehörig und verbindlich an."
Dagegen Laufhütte (hier zitiert nach dem Nachwort seiner Anthologie):
"Die Ballade ist eine episch-fiktionale Gattung.
Sie ist immer in Versen, meist gereimt und strophisch, manchmal mit Benutzung refrainartiger Bestandteile und oft mit großer metrisch-rhythmischer Artistik gestaltet.
Sie kennt alle Arten epischer Fiktionsbildung.
Von anderen episch-funktionalen Gattungen unterscheidet sie ihre spezifische teleologische Vorgangsstrukturierung, deren Indirektheit sowohl in der Relativierung der gestalteten Themen als auch in der fehlenden Explikation der Darstellungsziele besteht.
Auswirkungen der balladenspezifischen Indirektheit sind eine gewisse Bandbreite von Möglichkeiten der Vorgangsstrukturierung, die von einem Situationstyp bis zu einem Konzentrationstyp reicht, denen beiden Begrenztheit und scharfe Konturierung der gestalteten Vorgänge eigen sind, ferner das Angebot exemplarischer oder sinnbildlicher Deutungsschemata, die der Leser auf der Grundlage eigener Erfahrungen zu konkretisieren hat.
Dies zu tun, wird er durch die ebenfalls gattungsspezifische Verwendung einer Kombination suggestiv-unmittelbarer und distanzierter, zu rationalen Zugängen stimulierender Darbietungsweisen genötigt, in deren Dienst auch alle formalen Bestandteile der Ballade stehen.
Die Gegenstände der Ballade können ernsthaft und humoristisch oder ironisch behandelt werden, vordergründig wirksame Behandlungsart und Darstellungsanliegen müssen keineswegs kongruent sein.
Spezifisch balladische Themen gibt es nicht.
Die Geschichte der Ballade ist eine Beschreibung der historischen Konkretisationen der als Variablen ausgewiesenen Bestandteile der Gattungsstruktur." [Letzter Abschnitt 1979: "wird sein"; Gattungsmodells"]
Die Praktikabilität dieses Gattungsmodells wird zu befragen sein. Immerhin hat Müller-Seidel vorsichtige Kritik angemeldet mit dem Hinweis, daß Laufhüttes Darstellung "Über den uns vertrauten Traditionsraum der Kunstballade nicht hinaus"führe (S. XI), daß sie sich "in das unwegsame Gelände einer Gattungsgeschichte der modernen Literatur nicht vorgewagt" habe.
Inzwischen hat Laufhütte zwar eine gründliche Analyse einer modernen Ballade, der "Ballade von der schwarzen Wolke" von Günter Grass, veröffentlicht, aber das will wenig besagen angesichts der Menge an Balladen, die neuere Anthologien für das 20. Jahrhundert verzeichnen, angesichts der Texte, die Laufhüttes Kanon ausschließt.
Müller-Seidels Einwand findet sich im Vorwort eines von ihm zusammengestellten Sammelbandes "Balladenforschung" aus dem Jahre 1980, in dem auch die neuen Forschungsansätze bereits hinreichend zur Sprache kommen. Im gleichen Jahr erschienen ist ferner ein Realienbuch zur "Ballade" von Gottfried Weißert, das einen durchaus brauchbaren Überblick über die "Theorie der Ballade", die "Arten der Ballade" und ihre Geschichte mit den hier einschlägigen Literaturhinweisen bietet. Einschlägige Interpretationen versammelt in der Reihe "Gedichte und Interpretationen" der von Gunter E. Grimm herausgegebene Band "Deutsche Balladen" aus dem Jahre 1988. Er ergänzt eine frühere, 1979 von Walter Hinck herausgegebene Interpretationssammlung: "Geschichte im Gedicht. (Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik)". Durchaus zahlreichere Einzelinterpretationen der letzten Zeit muß sich der Interessierte auf bibliographischem Wege selbst erschließen.
Damit wären, den kleinen Forschungsüberblick
abschließend, nur noch die Balladentexte selber zu bedenken. Eine
Vorlesung wie die geplante, kommt nicht umhin, häufiger als üblich
auf manche Balladentitel nur zu verweisen, was nicht heißt, daß
sie nicht nachgelesen werden sollen. Für die ausführlicher zu
behandelnden Texte ist es natürlich wünschenwert, daß sie
dem Studenten vorliegen. Ich verweise deshalb auf zwei Balladensammenlungen
neueren Datums. Das von Beate Pinkereil herausgegebene "Große deutsche
Balladenbuch" aus dem Jahre 1978, das im Handel gelegentlich noch zugänglich
zu sein scheint. Eine Neuauflage ist in Vorbereitung. Die zweite, in jedem
Fall zugängliche und zugleich erschwingliche Sammlung, "Deutsche Balladen",
1991 von Hartmut
Laufhütte herausgegeben, wurde
schon genannt. Andere, z.T. im Neuantiquariat angebotene Balladenanthologien
sind weniger umfangreich und in jedem Fall weniger nützlich. Im Folgenden
werde ich also so verfahren, daß ich bei Hinweis auf einzelne Balladen
und/oder bei ihrer Interpretation jeweils die Seitenzahlen der Anthologien
Pinkelneils und Laufhüttes angebe. D.h. in der praktischen Anwendung
für die bisher genannten Balladen:
Die Braut von Korinth (Pinkerneil,
94; Laufhütte, 70)
Der Gott und die Bajadere (P 96, L
76)
Erlkönig (P 91, L 66)
Der Fischer (P 90, L 65)
Lenore (P 61, L 36)
Deutsche Literaturballade (nur P 487)
undsoweiter.
Das erste umfangreiche Kapitel der Vorlesung wird Gottfried August Bürger gewidmet sein. Von seinen Balladen werde ich ausführlicher behandeln die -
"Lenore" (Pinkerneil, 61; Laufhütte
36)
"Des Pfarrers Tochter von Taubenhain"
(P 71; L. 48).
Weder bei Pinkerneil noch Laufhütte abgedruckt sind Bürgers "Neue weltliche hochdeutsche Reime etc", die auch unter dem Titel "Europa" zitiert werden, und "Sanct Stephan. Hier ist der Interessierte auf Gedicht- oder Werkausgaben Bürgers verwiesen. Eine Romanze Johann Wilhelm Ludwig Gleims, die vielzitierte "Marianne" ist dagegen wieder leicht zugänglich bei Pinkerneil, S. 37 und Laufhütte, S. 17.