Gattungsgemäß beginnen die meisten ernsthaften Beschäftigungen mit dem Gegenstand Ballade, ihren vielfältigen Voraussetzungen und ihrer vielschichtigen Entwicklung beim Pfarrerssohn Gottfried August Bürger (1747-1794), mit dessen "Lenore" - nach inzwischen einhelliger Forschungsmeinung - die Geschichte der Kunstballade einsetzt. Sie steht in den Anthologien in der Regel an erster Stelle, ist zumeist in den Interpretationssammlungen der erste einlässiger behandelte Text.
Neuerdings hat als ein zweiter gewichtiger Balladentext Bürgers "Die Pfarrerstochter von Taubenhain" der "Lenore" fast den Rang abgelaufen, so in Laufhüttes "Die deutsche Kunstballade". Auffallend ausgespart aus Anthologisierung und interpretatorischem Bemühen sind zwei Texte Bürgers geblieben, deren zusätzliche Behandlung es erst wesentlich erleichtert,genauere Einsichten in die Genese einer Gattung zu gewinnen, einer Genese, die sich zwar zu einem Gattungsmodell synthetisieren läßt, dabei aber viel von ihrer Fluktuation, und das heißt auch Lebendigkeit einbüßt. Diese für ihre Entwicklung bis heute charakteristische Fluktuation ist bereits für ihre Vorgeschichte bestimmend. Ich werde deshalb der "Lenore" und der "Pfarrerstochter" als weitere Texte an die Seite stellen die "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime" und "Sanct Stephan". Und ich werde sie nicht in der Reihenfolge ihres Erstdrucks, sondern in der Reihenfolge ihres Entstehens behandeln, d.h. mit den "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime n" beginnen, wobei ich zu zeigen versuche, daß die historische Befragung der Gattungsgenese noch vor Bürger einsetzen muß.
Drum weg mit Schäkerein!
Von süß candirten Zoten
Wird vollends nichts geboten.
Hilarius hält fein
Auf Ehrbarkeit und Mores,
Ihr Herren Auditores.
In Züchten, wie sich's ziemt,
Weil mich vor langem Breie
In solches Schosen scheue,
Meldt ich nur kurz verblümt:
Hier tat mit seiner Schöne
Der Herr sich trefflich bene. -
Nun schwammen mit Geschrei,
In langen grünen Haaren,
Der Wassernixen Schaaren
Hart an den Strand herbei,
Zu sehen das Spectakel
In diesem Tabernakel.
Manch Nixchen wurde roth;
Manch Nixchen wurde lüstern;
Jens neigte sich zum Flüstern;
Dies lachte sich halb todt;
Neptun, gelehnt an's Ruder,
Rief: "Prosit, lieber Bruder!"
Nun dank', o frommer Christ,
Im Namen aller Weiber,
Daß dieser Heid' und Räuber
Bereits gestorben ist.
Zwar... fehlt's auch zum Verführen
Nicht an getauften Stieren.
Wenn auch erst 1777 als Einzeldruck ohne Ortsangabe (bei Dieterich in Göttingen) erschienen, ist die Entstehungggeschichte der "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime" bis ins Jahr 1770 zurückzuverfolgen. Am 28. Januar 1771 antwortet der für das Zusammenwachsen des "Göttinger Hains" bedeutende Heinrich Christian Boie (1744-1806) auf eine Anfrage Johann Wilhelm Ludwig Gleims (1719-1803): "daß er (= Bürger, R.D.) sehr schätzbare Fragmente in seinem Pulte hat, deren Ausführung, wenn man ihn dazu bringen könnte, notwendig ihm einen Namen machen müßte. In meinem Almanache ist das schöne Trinklied (= Herr Bacchus, R.D.) von ihm und Herr Jacobi wird ihnen vielleicht etwas von einer komischen Romanze, Europa, gesagt haben, von der ich ihm Fragmente zeigte und die ich nächstens Ihnen gedruckt zuzusenden hoffe" (zit. Friedrich, 102).
Wann Bürger die "Fragmente" abgeschlossen hat, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Daß aber die "Europa" - wie wohl der ursprüngliche Titel gelautet habe muß - schon vor ihrem Druck als Handschrift verbreitet war, belegt kein geringerer als Goethe, der am 17.2.1775 (einem Jahr, in dem sich Goethe und Bürger sehr nahe standen) aus Frankfurt an Bürger schreibt: "Habe lieb was von mir kommt. Du bist immer bei mir, auch schweigend wie zeither. Deine Europa und Raubgraf sind sehr unter uns" (zit. Friedrich, 143).
Nachweisbar ist schließlich eine letzte Überarbeitung der "Europa" vor dem Erst- und Einzeldruck für den Dezember 1776.
Dreierlei ist dabei festzuhalten.
1. ein relativ langer Entstehungs- und Bearbeitungsprozeß.
2. war Bürger sein Gedicht noch 1776/77 veröffentlichungswert, obwohl er inzwischen mit der "Lenore" und anderen Balladen als Balladendichter reüssiert hatte. Wobei "Sanct Stephan", den wir mit April 1777 datieren können, in direkte Nachbarschaft zum Erstdruck der "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime" rückt. Anders formuliert: Entstehung und Druck der "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime" und des "Sanct Stephan" schließen Entstehung und Erstdruck der "Lenore" ein.
3. läßt der Brief Boies an Gleim die Gattung ablesen, der man die "Neuen weltlichen hochdeutschen Reime" zuordnete: die Gattung nämlich der "Komischen Romanze".
Als Erfinder der "Komischen Romanze" gilt Gleim, der 1756 eine erste, drei Texte umfassende Sammlung "Romanten" vorlegte, aus der die "Marianne" am berühmtesten wurde. Noch 1777 nennt Herder in Bezug auf die "Marianne" Gleim den "ersten und fast einzigen Volkssänger in Deutschland, nachdem er ihm schon 1772 geschrieben hatte: "Sie sind für mich immer ein alter Balladensänger, naiv und stark, stark und naiv, wie wohl selten diese beiden zusammenkommen." (zit Kayser)
Der vollständige Titel der Gleimschen Romanze, die in letzter Zeit endlich auch Eingang in Balladen-Anthologien gefunden hat (Pikulik, 37; Laufhütte 17), lautet:
"Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht, wie auch Heilsamer Unterricht, daß Eltern, die ihre Kinder lieben, sie zu keiner Heirat zwingen, sondern ihnen ihren freien Willen lassen sollen; enthalten in der Geschichte Herrn Isaac Veltens, der sich am 11. April 1756 zu Berlin eigenhändig umgebracht hat, nachdem er seine getreue Ehegattin Marianne und derselben unschuldigen Liebhaber jämmerlich ermordet."
Die Absicht, aus der heraus Gleim diesen "heilsamen Unterricht" erteilt, wird gleich in der ersten Strophe mitgeteilt:
Die Eh ist für uns arme Sünder
Ein Marterstand;
Drum Eltern, zwingt doch keine Kinder
Ins Eheband.
Es hilft zum höchsten Glück
der Liebe
Kein Rittergut;
Es helfen zarte keusche Triebe,
Und frisches Blut.
Die Geschichte, die im folgenden erzählt
wird, ist in der überlangen, an barocke Titelei erinnernden Überschrift
angedeutet. Eine Tochter wird von ihren Eltern durch eine Intrige von ihrem
Auserwählten getrennt und zur Heirat mit einem ungeliebten, dafür
reichen Mann gezwungen. Am Hochzeitsabend wird sie in die Kammer geführt,
"wie man ein Lamm zur Schlachtbank führet". Dennoch ist sie bereit,
ihrem ungeliebten Mann die Treue zu halten, selbst nachdem derselbe ihr
einen Schmuckhändler zuführt, der sich als der einstmals Auserwählte
entpuppt. Aufgefordert zu gehen und im Begriff, dieses auch zu tun, wird
er, werden beide vom Ehemann überrascht und in blinder Eifersucht
erstochen. Durch die nachts ihm erscheinende Marianne verwirrt, bringt
schließlich auch
dieser sich um.
Beim Hören dieser Mordgeschichte
sieht jeder Mann
Mit liebreich freundlichem Gesichte
Sein Weibchen an,
Und denkt: wenn ich es einst so fände,
So dächt ich dies:
Sie geben sich ja nur die Hände,
Das ist gewiß!
Gleim selber verwendet für dieses und die beiden anderen Gedichte, die er - wie die abschließende Moralstrophe leicht ablesen läßt - in aufklärerisch-pädagogischer Absicht geschrieben hatte, die neutrale Überschrift "Romanzen". Also noch ohne das heute vielleicht mißverständliche Epitheton "komisch", bei dem sich allerdings ein Mißverständnis vermeiden läßt, wenn man die "Komische Romanze" mit der "Comedie larmoyante", dem in Deutschland sich etwa zeitgleich ausbreitenden "weinerlichen" bzw. "rührenden Lustspiel" vergleicht. Deren lexikalische Definition ließe sich nämlich mit leichten Modifizierungen durchaus auch für die "Komische Romanze" geltend machen:
'Sie spiele in bürgerlichem Milieu, sei nicht einseitig am kritischen Verstand orientiert, sondern räume dem Gefühl breiten Raum ein; ihre pädagogische Wirkung beruhe nicht auf der Herausstellung des Laterhaft-Lächerlichen; sie wolle das Publikum vielmehr rühren und bewirke dies, indem sie bürgerliches Glück und Tugenden wie Treue und Freundschaft, Großmut, Mitleid, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft demonstriere. So werde sie zu einer "Komödie ohne Komik", bei der die herkömmlichen Gattungsgrenzen aufgebrochen seien, zu einer Zwischenform und damit zugleich zu einem ersten Modellfall für die schrittweise Ablösung der normativen Poetik' (zit. nach Metzler Literatur Lexikon).
Diese Übertragungsmöglichkeit ist bisher so nicht gesehen worden. Das Lexikon, dessen Definition ich gefolgt bin, gibt keinerlei Hinweise, ja kennt nicht einmal die "Komische Romanze" und vermerkt lediglich unter den Stichwort "Romanze", daß in Deutschland Name und Gattung durch Gleim eingeführt worden seien, zunächst als synonyme Bezeichnung für Kunstballade (sic), so im Sturm und Drang, bei Bürger, Goethe, Schiller.
Daß die "Romanze" Gleims, von der Moses Mendelssohn anmerkte, in ihr herrsche ein "Ton", der "ein abenteuerlich Wunderbares mit einer possierlichen Traurigkeit erzähle, - daß diese "Romanze in der Tat eine sich von normativer Poetik ablösende Mischform, in diesem Fall zwischen hoher und niederer Literatur ist, macht Gleims Vorwort bereits deutlich. Dazu muß man einfügen, daß für Gleim Poesie noch nicht subjektive Verlautbarung war, so daß es für ihn durchaus noch legitim war, Muster und auch Inhalte fremder Dichtung für eigene Zwecke nachzuahmen. So und nicht anders ist zunächst der Satz seiner Vorrede zu verstehen:
"Der Verfasser fand in einem uralten französischen Lehrbuch [für Poesie, wie ich ergänze] den Namen und bald nachher in einem französischen Dichter, im Moncrif, die Sache" (zit. Brüggemann, S. 9).
Francois Auguste Paradis de Moncrif (1687-1770) ist längst in Vergessenheit geraten. Was die Literaturlexika über ihn verzeichnen, ist herzlich wenig. Er galt als "geschickter Fechter", war Musiker, Schauspieler, spielte in den Salons eine größere Rolle, und fungierte am Hofe als Vorleser der Dauphine. Sein Werk umfaßt Ballette, Romane, Dramen und Gedichte. Und nur wegen eines der letzteren ist er heute literaturgeschichtlich noch von Bedeutung: der "Constantes amours d'Alix et d'Alexis".
Dies war die von Gleim gefundene "Sache". Aber Gleim hat nicht nur, wie manchmal zu lesen ist, den Text Moncrifs übersetzt; er hat ihn vielmehr in seinem Sinne, für seine Interessen adaptiert. Das beginnt bereits beim Titel, wenn aus "Les constantes amours d'Alix et d'Alexis" bei Gleim eine moralisierende Titelei wird:
"Traurige und betrübte Folgen der schändlichen Eifersucht wie auch heilsamer Unterricht. daß Eltern, die ihre Kinder lieben, sie zu keiner Heirat zwingen, sondern ihnen ihren freien Willen lassen sollen, enthalten in der Geschichte des Herrn Isaac Veltens, der sich am 11. April 1756 zu Berlin eigenhändig umgebracht, nachdem er seine getreue Ehegattin Marianne und derselben unschuldigen Liebhaber jämmerlich ermordet."
Wollte Moncrif bei Hofe bzw. in den Salons vor allem unterhalten, will Gleim dies zwar auch, aber mit moralischer Absicht. Und sein Adressat ist der bürgerliche Leser des 18. 'pädagogischen' Jahrhunderts. Entsprechend ist auch das Personal Gleims bürgerlich. Und er verteilt die Gewichte anders. Aus dem anonymen Hofrat (= conseiller) Moncrifs wird der reiche Isaac Velten, von dem man allerdings nicht genau erfährt, welchen Beruf er ausübt. Da er, "da ihm ein Braten fehlet", "auf die Jagd" geht, könnte er ein reicher Grundbesitzer sein, der allerdings in Berlin, also der Residenzstadt wohnt.
Sein Name gibt nichts weiter her. Isaac war im 18. Jahrhundert ein durchaus gebräuchlicher Vorname. Das gilt auch für den weiblichen Vornamen Marianne. Ob der Vorname des Liebhabers, Leander möglicherweise eine Anspielung auf den später in der Ballade wiederholt behandelten "Hero und Leander"-Stoff ist, was einen tragischen Ausgang implizieren würde, muß bei der Quellenlage offen bleiben.
Gleim verbürgerlicht also das Personal aber auch die Argumentation. So weitet er das einleitende Zwiegespräch zwischen Tochter und Mutter auf das Sechsfache und wendet bereits in der ersten Strophe das eher lakonische
Ah! La richesse la plus belle
Est de s'aimer
in das bürgerlich empfindsame
Es hilft zum höchsten Glück
der Liebe,
Kein Rittergut;
Es helfen zarte keusche Triebe,
Und frisches Blut.
Schließlich läßt Gleim die Geschichte nach dem Mord nicht offen, wie Moncrif; vielmehr richtet sich der Ehemann selbst, nachdem ihm nachts mehrfach seine ermordete Gattin erschienen ist.
Damit übernimmt Gleim zugleich das in Volksglauben, - märchen und -lied tradierte Motiv des Wiedergängers, das in der Geschichte der Ballade bald - zentral etwa in Bürgers "Lenore" - eine größere Rolle spielen und von dem noch zu sprechen sein wird. Für den Moment verweise ich den Interessierten auf das Stichwort Wiedergänger im "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens".
Die neben den genannten Modifizierungen vielleicht wichtigste Änderung Gleims ist aber die Aktualisierung des Stoffes, die Datierung des Mordes auf den 11. April 1756. Ich erinnere daran, daß Gleims "Romanzen" 1756 erschienen. Damit fallen Mordtat und ihr literarischer Niederschlag ins gleiche Jahr, erhält die literarische Darstellung eine Aktualität, wie sie bis dahin nur das Zeitungslied oder der Bänkelsang hatten oder für sich beanspruchten.
Daß das Absicht war, daß
neben der Romanze zugleich der Bänkelsang Gleim zum Muster gedient
hatte, ist von ihm selbst ausdrücklich gesagt worden. Ja Gleim war
sogar überzeugt, mit seinen Romanzen seinerseits für den - wie
er glaubte -
volkstümlichen Bänkelsänger
literarische Muster bereit gestellt zu haben, wenn er der Hoffnung Ausdruck
gibt:
"Je öfter dieser Versuch von den rühmlichen Virtuosen mit Stäben in der Hand künftig gesungen wird, desto mehr wird der Verfasser glauben, daß er die rechte Sprache dieser Dichtart getroffen habe."
[Zur Rezeptiom vgl. Boies "Die Wirtwe" in: Der Göttinger Hain. Reclam, S. 299 ff.]
Allerdings: das Grelle des Bänkelsangs, seine Übertreibungen und auf Effekt zielende Schwarz-Weiß-Malerei lag nicht in Gleims Absicht. Hier mäßigte er im Sinne eines bürgerlich-aufklärerischen Quietismus und nennt dies in der "Vorrede" seiner "Romanzen" auch ausdrücklich als Absicht, wenn er schreibt:
"Die Erregung starker Leidenschaften [...] ist der menschlichen Gesellschaft schädlich. Meine Romanzen sollen sanft nur erregen."
Bevor ich dieses Spurenelement Bänkelsang weiter verfolge, ist zu Gleims und seiner Zeitgenossen Romanzenverständnis noch nachzutragen, daß sie sich bei ihren Bemungen um diese bis dahin in der deutschen Literatur unbekannte romanische Literaturgattung auf unsicherem Boden bewegten. Bezeichnend ist, daß die ersten ernsthaften Bemühungen um die Romanze, die Übersetzungen Johann Nikolaus Meinhards und Johann Georg Jacobis (1740-1814) in die Jahre 1762 und 1767 fallen, also deutlich später datieren, als Gleims erstes Experimentieren mit dieser Gattung. Zweitens übersetzen beide in Prosa, was immer noch eine formale Unsicherheit gegenüber der Gattung signalisiert. Allerdings übersetzen sie nicht den Moncrif, sondern sie bemühen sich um das Vorbild Moncrifs, um den spanischen Manieristen Luis de Gongora (1561-1627) und dessen umfangreicheres Romanzenwerk, das Jacobi, spanischen Quellen folgend, in "Zärtliche", "Lyrische" und "Burleske Romanzen" gliedert. Was Jacobi an Gongoras Romanzen vor allem interessierte, spricht der "Widmungsbrief", als dessen Adressaten wir uns Gleim vorstellen dürfen, klar aus, wenn es dort heißt:
"Als wir einige von diesen Romanzen zusammen durchlasen und Sie das Naive in vielen Stellen bewunderten, sagten Sie mir unter andern, daß die Bekanntmachung derselben unsern Dichtern Anlaß zu neuen Ideen geben würde" (S. 4).
Dieses Naive hat ein Jahr später auch Moncrif anläßlich einer Neuausgabe seiner "Constantes amours d'Alix et d'Alexis" für die Romanze reklamiert, wenn er schreibt:
"Seitdem diese Romanze erschienen ist, hat man die Bezeichnung allen Liebesliedern gegeben, die eine Folge von Strophen aufweisen. Die Romanze hat indessen einen besonderen Charakter, der sie auszeichnet: sie muß eine rührende Handlung enthalten, und ihr Stil muß naiv sein" (Oeuvres, 1768, III, 207).
Um zu verdeutlichen, was hier unter naiv verstanden bzw. mißverstanden wurde, füge ich noch ein drittes Zitat aus einem Brief Meinhards an Gleim aus dem Jahre 1762 hinzu. Meinhard hatte Gleim die Prosaübersetzung einer spanischen Volksromanze und zweier Romanzen Gongoras zugeschickt und dazu angemerkt:
"Ich habe ein paar kleine Romanzen aus dem Gongora hinzugefügt, die in Ansehung der ersten als künstliche oder nachgeahmte betrachtet werden können, und von denen die Spanier ebenfalls eine Menge haben" (zit. nach Pabst, 37).
Gleim, der also außer dem Moncrif auch Gongora gekannt hat, hat diesen Hinweis Meinhards auf das "Künstliche oder Nachgeahmte" offensichtlich überlesen oder nicht ernst genommen, das künstlich Naive der Moncrifschen Vorlage nicht bemerkt. Ihm galt als wirklich naiv, also volkstümlich, was in Wirklichkeit nachgeahmte Naivität und Volkstümlichkeit war. Er hielt für natürlich (dies im Wortsinne des 18. Jahrhunderts), was - mit dem Wort Meinhards - "künstlich" war.
So beruht Gleims Versuch einer volkstümlicheren Dichtung im Falle seiner Anlehnung an das Romanzenmuster auf einem Mißverständnis. Und zwar auf einem folgenreichen Mißverständnis, was noch zu zeigen sein wird.
Von einem Mißverständnis Gleims wird man aber auch im Hinblick auf den Bänkelsang, der zweiten wichtigen Anregung von Gleims "Romanzen" sprechen können. Die Fixierung der Forschung auf die "Marianne" hat zu einer Vernachlässigung der beiden anderen "Romanzen" geführt. Das mag im Falle der dritten zulässig sein. Sie ist von der Titelei, von ihrer Intention her und durch die genaue Datenangabe "20. August 1755" ein schw"äheres Gegenstück zur "Marianne". Auch in ihrem Fall hat man übrigens keinen konkreten Anlaß nachweisen können, so daß man davon ausgehen muß, daß die Datierung fingiert ist, es sich also um Romanzenachahmung und "stilisierten Bänkelsang" handelt. Dieser 1933 durch die Dissertation Erwin Sternitzkes in die Forschung eingeführte Terminus hat einiges für sich, so daß ich ihn fürs erste beibehalten möchte.
"Stilisierter Bänkelsang" ist fraglos auch das Mittelstück der Gleimschen "Romanzen", auch wenn ihm die aktuelle Datierung fehlt. Gleichzeitig führt es in der Vorgeschichte der Ballade noch einmal um einige Jahre zurück, und zwar in eine Zeit, in der Gleim Moncrif noch nicht gekannt haben kann. Die Frage, ob er damals Gongora schon kannte, ist in der Forschung umstritten und kann hier auch deshalb vernachlässigt werden, weil nichts an dem hier zur Debatte stehenden Text Gleims auf Gongora verweist, nicht einmal allgemein in Richtung Romanze.
Vielmehr als eine "Mordgeschichte" teilt Gleim in einem Brief des Jahres 1746 seinem Freund und Dichter der Anakreontik, Johann Peter Uz (1720-1796), ein Gedicht mit, dem er zunächst den Titel "Der neue Jonas" gegeben hatte. "Mordgeschichte", so auch in der letzten Strophe der "Marianne", ist aber nichts anderes als ein Synonym für Moritat und bezeichnet nicht nur Mordgeschichten in einem wörtlichen Sinne, sondern allgemein sensationelle Ereignisse und Begebenheiten.
Was man damals alles unter "Mordgeschichten" subsumierte, zählt exemplarisch der Puppenspieler Niklas auf in Friedrich Wilhelm Gotters (1747-1797) Singspiel "Die Dorfgala" (1772/74). Zur Unterhaltung hat dieser Niklas "Mordgeschichten und Romanzen" anzubieten, darunter "extrafrisch, wie die hamburgischen Austern" Mordgeschichten
Von dem Kaiser Tamerlan,
Von Prinzessin Aschenbrödel,
Von dem blauen Fliegenwedel,
Rotem Käppchen, goldnem Hahn.
Und von Warschaus Blutgerüst,
Beil und Folter, Angst und Reue;
Und vom armen Alibeie,
Der einst war ein deutscher Christ.
Und vom Brand zu Amsterdam,
Wie daselbst ein Satanstempel,
Allen Sündern zum Exempel,
Weggeglommen ist, wie Schwamm.
Und wie an dem Hochzeitsfest
Sich ein Bräutigam ersäufet,
Und vom Stern, der, langgeschweifet,
Zu Berlin sich blicken läßt.
Und wie Räuber hie und da
Post und Passagiere plündern,
Und ein Stamm von Jakobs Kindern
Blühet in Amerika.
Und von einem großen Hause
In Hannovers großer Stadt,
Wo der Geist beim Abendschmause
Stuhl und Tisch verrücket hat.
Gleim erzählt in seiner "Mordgeschichte" von 1746 die Geschichte vom Propheten Jonas, der, in einer Strafaktion Gottes, von einem großen Fisch während eines Sturmes verschluckt und später an Land gespuckt wird. Aber er erzählt sie "neu", bzw. läßt sie als Seemannsgarn erzählen, als - so der jetzt den anderen Romanzen von 1756 angepaßte Titel -
"Wundervolle, / doch / Wahrhafte Abenteuer / Herrn Schout by Nachts, / Cornelius van der Tyt, / vornehmen Bürgers und Gastwirths im Wallfisch / zu Hamburg, / wie er / solche seinen Gästen selbst erzählet. / Aus seiner holländischen Mundart, / in hochdeutsche Reime getreulich übersetzt."
Was diese "Abenteuer" mit den beiden anderen Romanzen verbindet, ist das Thema der treuen Liebe. Was sie unterscheidet, sind "die zeitliche Ungenauigkeit und ihr Erzähler, der Gastwirt im Wallfisch, sowie die Phantastik der Erzählung.
"Nach sechzehn Kriegeszügen" "Zu Wasser und zu Lande" gerät der Held in Persische Gefangenschaft und Sklaverei. Eine Perserin verliebt sich in ihn und befreit ihn. Die Flucht gelingt, weil ihre Liebe so stark ist, daß all ihre Wünsche in Erfüllung gehen. So wünschen sie sich zunächst ein Boot, auf dem sie in einen anderen Hafen entfliehen können. Vor einer ihnen feindlich gesonnen Menschenmenge fliehen sie auf einem zweiten Schiff, mit dem sie in einem Sturm geraten. Ihr Wunsch um Rettung durch einen Wal erfüllt sich gleichfalls. Ein Wal schwimmt herbei, trägt zunächst das Schiff, verschluckt sie dann beide und spuckt sie schließlich in Amsterdam an Land.
Das war 1746 für einen Dichter, der ernst genommen werden wollte, ein kühnes Experiment, was auch erklärt, daß Gleim die Geschichte vom Gastwirt im Wallfisch (!!!) erzählen läßt, als Seemannsgarn tarnt, vor allem aber, daß er sie zunächst nicht zu publizieren wagt. Daß sie dennoch ein ernst zu nehmendes Experiment war, erhellt aus der poetologischen Diskussion der Zeit. Denn diese Geschichte läßt sich einmal lesen als Parteinahme für die von Johann Jakob Breitinger in seiner "Kritischen Dichtkunst" 1740 vertretene These vom "Wunderbaren", das zu gestalten dem Dichter durchaus erlaubt sei, wenn er es als ein wermummntes Wahrscheinliches vortrage, da es nicht nur das "Wahre des Verstandes" sondern auch das "Wahre der Einbildungskraft" gebe.
Breitingers These vom Wunderbaren richtete
sich vor allem gegen Johann Christoph Gottscheds "Versuch einer Critischen
Dichtkunst vor die Deutschen" von 173O, der dem Wunderbaren in der Dichtung
die Berechtigung hatte. Aber in Gottscheds
"Versuch" war in dem Kapitel "Vom
Ursprung und Wachsthume der Poesie auch nachzulesen, daß es ursprünglich
"bey der einfältigen Welt" geschickt gewesen sei, in die Dichtkunst
"kleine Historien oder Fabeln, die etwas wunderbares und ungemeines in
sich enthielten", einzubringen, denn das bezaubere "die sonst ungezogenen
Gemüther. Die wildesten Leute verließen ihre Wälder, und
liefen einem Amphion oder Orpheus nach, welche ihnen nicht nur auf ihren
Leyern etwas vorspielten; sondern auch allerhand Fabeln von Göttern
und Helden vorsungen; nicht viel besser, als etwa itzo auf Messen und Jahrmärkten
die Bänkelsänger mit ihren Liedern von Wundergeschichten, den
Pöbel einzunehmen pflegen." (Zit. nach der Ausg. von 1741, S. 89).
War Gleims "Mordgeschichte" also einerseits Parteinahme für Breitinger, war sie andererseits als "Wundergeschichte" gegen Gottscheds Verdikt gerichtet als ein früher Versuch einer dem Volkstümlichen angenäherten Dichtung, die nun zwar nicht eine "Fabel von Göttern und Helden" vorsang, aber doch einen altehrwürdigen Stoff anspielte und in seiner Erneuerung - der ursprüngliche Titel lautete ja "Der neue Jonas" - gleichzeitig als Seemannsgarn ironisch brach.