Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Wilhels Raabes Horacker | Fallbeispiel 1

Daß Raabe Bänkelsang und Bänkelsangparodie nicht unvertraut waren, läßt sich dem Gesamtwerk ablesen. So spricht Minchen in "Altershausen" "von dem was so bei der Orgel auf dem Jahrmarkt gedruckt verkauft wird und bei der Arbeit - in der Küche, auf dem Felde und im Garten - von uns armen dummen Dingern gesungen wird zum Vergnügen" (38). In der "See- und Mordgeschichte" (sic, R.D.) "Stopfkuchen" räsoniert Heinrich Schaumann: "Von allen Menschen, so auf Erden um diese grausame und erschreckliche Historie herum wandelten, schnüffelten und sich die Köpfe zerbrachen, hätte von Rechts wegen ich der letzte sein sollen, dem das Vergnügen, sie vor einer gemalten Leinwand und zu einer Drehorgel kundzumachen, aufgehalst werden durfte." (39)

Auffällig häufen sich die Hinweise auf Bänkelsang und Bänkelsangparodie aber im "Horacker". Zum Beispiel durch den Hinweis auf einen "neuen Böckler, Schinderhannes, baierschen Hiesel oder Hundsattler" (S. 410), renommierte Räuber des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Andenken sowohl auf dem Jahrmarkt wie in einer volkstümlichen Räuberliteratur fortlebte, aber auch an Kontur verlor, wenn Raabe aus dem Schinderhannes, der mit bürgerlichem Namen Johannes Böckler hieß, in der Aufzählung zwei Räuber macht (= Böckler, Schinderhannes).

Diesen historischen Räubern, denen Raabe noch den 1715 in Dresden hingerichteten Philipp Mengstein alias Lips Tullian (39a) zugesellt (S. 330 f.), wobei Raabes Quelle wahrscheinlich eine Fabel Christan Fürchtegott Gellerts (= "Der Hund") ist - diesen historischen Räubern stellt Raabe mit Rinaldo Rinaldini (S. 327, S. 330, S. 367) eine populäre Räuberfigur der Trivialliteratur an die Seite:

In des Waldes tiefsten Klüften
und in Höhlen tief versteckt,
ruht der allerkühnste Räuber,
bis ihn seine Rosa weckt.
Diese Romanze bzw. ihr ursprünglicher Ort, der Roman des Goethe-Schwagers Christian Vulpius, auf den Raabe zitierend anspielt, haben dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts auch eine Möglichkeit geboten, politische Passivität zu kompensieren. Das ist interpretatorisch nicht unbedeutend, da es neben der von Raabe zitierten Romanzenfassung mit offenem Schluß, die die Liebe des edlen Räubers besingt, eine Jahrmarktsfassung mit moralisch eindeutig gewendetem Ende gibt - exemplarischer Beleg einer Rezeptionswendung, wie ich sie bereits skizziert habe.(40)

Neben diesem Räuber-Arsenal begegnen dem Leser im "Horacker", ebenfalls auf den Bänkelsang verweisend, die Bezeichnungen "Mordgeschichten" (S. 310) und "Horackerhistorien" (S. 310; gleich zweimal auf S. 419), ist die Pfarrersfrau von Gansewinkel sicher: "Diese Geschichte wird noch mal gedruckt auf dem Jahrmarkt verkauft! [...] Ich kaufe sie mir selbst zum ewigen Angedenken, das steht fest" (S.350).

Bereits diese Belege machen sehr wahrscheinlich, daß Raabe bei der Geschichte des mutmaßlichen Räubers Horacker den hier einschlägigen Bänkelsang gleichsam als Folie benutzt hat. Ein noch genaueres Lesen aber zeigt, daß eine Bänkelsangparodie den Roman stofflich angeregt haben muß. Die Raabeforschung konnte bisher "literarische Einflüsse [...] nicht mit Sicherheit" feststellen (S. 544). Sie hat mit Immermanns "Münchhausen" und Fieldings "Joseph Andrews" aber ganz offensichtlich auch in der falschen Richtung gesucht.

Ich darf, in gebotener Kürze, vorausschicken, daß Raabes Roman von einem aus der Besserungsanstalt entwichenen Jugendlichen erzählt, der sich im Wald verborgen hält. Ein Mundraub macht ihn in der Fama alsbald zum Mörder und Schrecken der Gegend. "Vergebens", heißt es im 5. Kapitel "hatte der Staatsanwalt der Ortsgelegenheit sozusagen auf seine Ehre im Kreisblatt versichert, daß wenig oder eigentIich gar nichts an den fürchterlichen Gerüchten sei; vergebens versicherte er jedem, der ihn hören wollte, mündlich, daß, wenn Horacker selbst kein Phantom sei, der Räuber Horacker unbedingt als Mythus aufgefaßt werden müsse. Kein Mensch, kein Bauer und noch viel weniger irgendein Bauernweib glaubte seinen schriftlichen und mündlichen Versicherungen, und selbst mit den Bürgern und Bürgerinnen seiner Kreisstadt hatte er seine liebe Not" (S. 309). So läßt denn die "Fama" ihre "viele tausend Zungen" sprechen und die Horackerhistorien" nehmen immer "kühnere und grellere Formen und Farben"(S. 310) an."Selten waren in kürzerer Frist so viele alte Geschichten aus dem neuen Pitaval und aus Basses Verlag in Quedlinburg aufgewärmt worden wie hier seit dem Tage, an welchem Horacker einem alten Butterweibe aus Dickburen unter den 'Uhlköpfen' über den Weg gesprungen war" (311). Dieses "alte Butterweib" entspricht aber auffällig dem Opfer des "Butterräubers von Halberstadt":

Durch des Huywalds finstre Gründe,
Auf naturverschlungnem Pfad,
Wandert eine alte Butter-
Frau zum Markt nach Halberstadt.
Huh, da plötzlich stürmt des Waldes
Kühner Sohn aus dem Geheg,
Scharf bewehrt bis an die Zähne,
Und vertritt ihr flugs den Weg.
"Sind sie", fragt die Frau erblassend,
Einer dunklen Ahnung voll,
"Nicht vielleicht der Räuber Heising,
Der allhier grassieren soll?"
"Ja, ich bin's du Unglücksel'ge,
Ja, ich bin's der sich dir zeigt,
Und du bist diejen'ge, welche
Nimmer meinem Grimm entfleucht.
Denn mit hochwilkomm'nem Futter
Nahst du mir zu guter Stund'!"
Sprach's und schnitt von ihrer Butter
Schweigend sich ein ganzes Pfund.
Und wie Schuppen von den Augen
Fiel 's der Butterfrau sogleich,
"Sie sind Heising", ruft sie zitternd.
"Bin es!" sprach der Räuber bleich.
"Bin's und sage dir noch dieses:
Meinem Mordstahl fallest du,
Bringst du mir nicht auf dem Rückweg
Brot und Schlagwurst noch dazu!"
Und die Frau erfaßt ein Grausen,
Weiß nicht recht, was sie beginnt;
Und der Heising zieht waldeinwärts,
Uber Stoppeln streicht der Wind.
Schlimme Zeichen schlimmer Zeiten,
Wie man nie erlebt sie hat,
Wenn ein Räuber solchen Untug
Treibt, so nah bei Halberstadt! (41)
Ein solcher Räuber entspricht so gar nicht seinem populären Vorbild, das die Reichen beraubt und den Armen hilft. Als hungriger Wegelager der eine alte, arme Butterfrau überfällt, ist er gleichsam die Parodie seines Vorbilds. Und als solche war "Der Butterräuber von Halberstadt" zunächst auch gedacht. Aber dieser "Unfug" des zum "Butterräuber" verkommenen "edlen Räubers" läßt noch eine zweite, allerdings überraschende Interpretation zu, die Wilhelm Raabe, gegen die Absicht der Parodie, aus den "schlimmen Zeichen schlimmer Zeiten" herausliest, wenn er seinen Horacker aus wirklicher Not ein "altes Butterweib" überfallen läßt, um ihm, zwar nicht ein Pfund Butter, aber "einen Topf mit Schmalz" (S. 328) abzunehmen. Daß es sich dabei wirklich um eine Uminterpretation einer Bänkelsangparodie durch Raabe handelt, belegen weitere, z.T. wörtliche Entsprechungen.

Lautet im "Butterräuber [...]" die Frage: "Sind Sie [...] nicht [...] der Räuber Heising / Der allhier grassieren soll?", wird in Raabes Roman lapidar, aber typographisch hervorgehoben, festgestellt: "Horacker grassierte in der Gegend" (298). Der Bestätigung Heisings: "Ja, ich bin's, du Unglücksel'ge, / Ja, ich bin's, der sich dir zeigt", entspricht bei Raabe die eher klägliche Vorstellung: "Ja, ich bin die Witwe Horacker" (S. 329). Auch der stilechte Auftritt des "Butterräubers" - "plötzlich stürmt des Waldes / Kühner Sohn aus dem Geheg '" - findet in Raabes Roman lediglich noch gerüchtweise statt: "Hinter jedem Busch hervor sprang Horacker" (S. 310). In Wirklichkeit ist sein Auftritt jämmerlich und eines Räubers unwürdig: "Horacker, der Räuber trat aus dem Dickicht; das heißt, er wurde, mit beiden Backen an der Schinkelsemmel der Frau Konrektorin Eckerbusch kauend, von der Witwe Horacker am Jackenflügel aus dem Dunkel des Waldes hervorgezogen; und wenn der Frevier ebenso blutgierig als freßgierig war, so dürfen sich unsere Leserinnen auf eine fürchterliche Szene im nächsten Kapitel Hoffnung machen" (S. 326). Auch dies wieder in versteckter Entsprechung zum "Butterräuber", der mit dem "Mordstahl" droht, "Bringst du mir nicht auf dem Rückweg / Brot und Schlagwurst noch dazu!" Natürlich erfüllt Horacker die "Hoffnung" "auf eine fürchterliche Szene" nicht. Im Gegenteil ordnet Konrektor Eckerbusch an, "was an Vorrat noch vorhanden ist", in den fieberkranken elenden, vermeintlichen Räuber hineinzustopfen. "Halten Sie ihm die Flasche an den Hals, Windwebel! [...] Geben Sie ihm gleich die ganze Wurst ... Mensch, Jammerbild; Horacker, sind Sie es denn wirklich?" (S. 329)

[Auch wenn ohne Bezug zum Fallbeispiel, sei hier wenigstens auf die musikalische Uminterpretation des "Butterräubers" durch Hanns Eisler in der Bearbeitung von Manfred Grabs verwiesen.]

Anmerkungen
38) Braunschweiger Ausgabe (dafür künftig BA), Bd. 20, S. 312.
39) BA, Bd 18, S. 167. - Die folgenden Zitate aus dem "Horacker", BA, Bd 12, sind im fortlaufenden Text mit Seitenangabe nachgewiesen.
39a) Lips Tullian, eigentlich Philipp Mengstein, 1715 in Dresden hingerichteter Räuberhauptmann, wurde auch vor Raabe häufiger in der Literatur bemüht, so in Moritz August von Thümmels "Wilhelmine" im Vergleich: "[...] wie der große Lips Tullian auf dem Richtplatze, da schon der Stab gebrochen ist, noch, für seine Nase besorgt, um eine Prise Rappé bat - noch schnupfte er ihn mit süßer Empfindung in dieser entscheidenden furchtbaren Minute, - reckte darauf mit einem Seufzer den Hals dar, und befand sich in der anderen Welt, ehe er - niesen konnte."
40) Während die Vulpius folgende zersungene Romanze noch im Kommersbuch von 1862 schließt: "Rinaldini, lieber Räuber, / Raubst den Weibern Herz und Ruh; / Ach, wie schrecklich in dem Kampfe, / Wie verliebt im Schloß bist dul", hatte ein fliegendes Blatt um 1840 bereits folgenden Schluß: "Lispelnd sprach das holde Mädchen, / Höre an, Rinaldo mein, / Werde tugendhaft, mein Lieber, / Laß das Räuberhandwerk sein!" / "Ja, das will ich, liebste Rosa! / Will ein braver Bürger sein, - / Und ein ehrlich Handwerk treiben, / Stets gedenken dabei dein."
41) Zit. nach Neunzig (s. Anm. 19).