Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Bertolt Brechts Leben des Galilei | Fallbespiel 2

Die Belege für Einfluß und Spuren des Bänkelsangs im und auf das Werk Bertolt Brechts sind so zahlreich, daß Sammy K. McLean 1972 diesem Thema eine umfangreiche Studie "The Bänkelsang an the Work of Bertolt Brecht" (42) widmen konnte. Ihre Ergebnisse müssen im einzelnen nicht wiederholt werden. Doch möchte ich wenigstens ein paar Aspekte im Zusammenhang meiner Ausführungen in Erinnerung bringen bzw. hervorheben.

Anders als Wilhelm Raabe, der seine Kenntnisse von Bänkelsang und Bänkelsangparodie aus der Literatur, allenfalls noch aus dem geselligen Leben von Künstlergesellschaften, denen er angehörte, bezog, hat Brecht seine Erfahrungen 'vor 0rt' gesammelt, auf den Jahrmärkten z.B. in Augsburg und München. Es ist inzwischen unbestritten, daß diese Erfahrungen sich nicht nur im Gedichtwerk niederschlugen, sondern auch in Theorie und Praxis des epischen Theaters ausgewirkt haben. Brecht selbst hat seine Interpreten darauf hingewiesen, daß der "Versuch, dem Publikum die darzustellenden Vorgänge zu verfremden", in einfacher Form bereits "bei den theatralischen und bildnerischen Veranstaltungen der alten Volksmärkte" studiert werden könne. Und er hat im "Kleinen Organon für das Theater" ergänzt: "Den poetischen Historienstil kann man in den Jahrmarktsbuden, Panoramen genannt, studieren. Da das Verfremden auch ein Berühmtmachen bedeutet, kann man gewisse Vorgänge einfach wie berühmte darstellen, als seien sie allgemein und seit langem bekannt, auch in ihren Einzelheiten, und als bemühe man sich, nirgend gegen die Überlieferung zu verstoßen" (§ 67). Wie zur Illustration seiner Thesen hat Brecht mehrfach auch Bänkelsang/Bänkelsänger in seine Stücke funktional eingebaut. D.h. Bänkelsang/Bänkelsänger funktionieren jeweils innerhalb des Spiels und zugleich, für das Publikum, das Spiel verfremdend. Ein geradezu klassischer Fall eines notbedingten Bänkelsangs ist der Auftritt des Kochs und der Titelfigur im 9. Bild der "Mutter Courage [...]": "Werter Herr, Gesinde und Hausbewohner! Wir bringen zum Vortrag das Lied von Salomon, Julius Caesar und andere große Geister, denens nicht genützt. Damit ihr seht, auch wir sind ordentliche Leut und habens drum schwer, durchzukommen, besonders im Winter."

Berühmt und für unseren Zusammenhang am interessantesten ist aber die sogenannte Fastnachtsszene im "Leben des Galilei". Da Brechts Stück fast völlig auf Songs und kommentierende Monologe verzichtet, kommt dieser Szene bereits formal einiges Gewicht zu. Gegenüber dem Gelehrtenmilieu des Stücks und der entsprechend ausgeprägten Dialogform des Disputs kontrastiert der naive Auftritt des Balladensängers auf dem Marktplatz deutlich, wenn er die "ordo ordinum" des Mittelalters burlesk und mit sozialen Konsequenzen umkehrt.

Aufstund der Doktor Galilei
(Schmiß die Bibel weg, zückte sein Fernrohr, warf einen Blick auf das Universum)
Und sprach zur Sonn: Bleib stehn!
Es soll jetzt die creatio dei
Mal andersrum sich drehn.
Jetzt soll sich mal die Herrin, he! Um ihre Dienstmagd drehn."
Vor diesem Bänkellied und Bänkelsängerauftritt, deren Moral McLean auf die Formel bringt: "social revolution should accompany scientific revolution", läßt sich aber bei genauem Zusehen auch das ganze St³ck als eine Art Bänkelsängerauftritt deuten, denn mit ganz wenigen Ausnahmen sind die einzelnen Bilder zwar nicht mit Songs durchsetzt, aber von Vorsprüchen bzw. Vorstrophen eingeleitet, die nicht nur jeweils das einzelne Bild ankündigen, sondern - aneinandergereiht - durchaus einen eigenständigen Text herstellen.
1 In dem Jahr sechzehnhundertundneun / Schien das Licht des Wissens hell / Zu Padua aus einem kleinen Haus. / Galilei Galileo rechnete aus: / Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell.
2 Groß ist nicht alles, was ein großer Mann tut / Und Galilei aß gern gut. / Nun hört, und seid nicht grimm darob / Die Wahrheit übers Teleskop.
3 Sechzehnhundertzehn, zehnter Januar: / Galileo Galilei sah, daß kein Himmel war.
4 Das Alte sagt: So wie ich bin, bin ich seit je. / Das Neue sagt: Bist du nicht gut, dann geh.
Das 5. Bild hat, was es natürlich hervorhebt, als erstes keinen Vorspruch bzw. keine Vorstrophe.
6 Das hat die Welt nicht oft gesehn / Daß Lehrer selbst ans Lernen gehn. / Clavius, der Gottesknecht / Gab dem Galilei recht.
7 In Rom war Galilei Gast / In einem Kardinalspalast. / Man bot im Schmaus und bot ihm Wein / Und hatt' nur ein klein Wünschelein.
8 Galilei las den Spruch / Ein junger Mench kam zu Besuch / War eines armen Bauern Kind / Wollt wissen, wie man Wissen find't. / Wollt es wissen, wollt es wissen.
9 Die Wahrheit im Sacke / Die Zung in der Backe / Schwieg er acht Jahre, dann war's ihm zu lang. / Wahrheit, geh deinen Gang.
Das 10. Bild ist die Jahrmarktsszene mit Bänkelsängerauftritt.
11 Die Tief ist heiß, die Höh'n sind kühl / Die Gass ist laut, der Hof ist still."
Das 12. Bild ist wiederum ohne Vorspruch bzw. -strophe.
13 Und es war ein Junitag, der schnell verstrich / Und der war wichtig für dich und mich. / Aus der Finsternis trat Vernunft herfür / Ein' ganzen Tag stand sie vor der Tür.
14 Sechzehnhundertdreiunddreißig bis sechzehnhundertzweiundvierzig / Galileo Galilei ist ein Gefangner der Kirche bis zu seinem Tode.
15 Liebe Leut, gedenkt des End's / Das Wissen flüchtete über die Grenz. / Wir, die wissensdurstig sind / Er und ich, wir blieben dahint'. / Hütet nun ihr der Wissenschaften Licht / Nutzt es und mißbraucht es nicht / Daß es nicht, ein Feuerfall / Einst verzehre noch uns all / Ja, uns all.
Kann man diese Vorsprüche und Vorstrophen, wie vorgeschlagen, als Ganzes nehmen, als Kommentar eines Bänkelsängers zu der Bilderfolge seiner Tafel, wäre das 10. Bild Bänkellied im Bänkellied. das würde interpretatorisch bedeuten, daß nicht nur das 10. Bild punktuell in der Perspektive des Balladensängers die Entdeckung des Galilei spiegelt. sondern daß beide Bänkellieder parallell gelesen werden müssen. Dem 'Epilog' im 15. Bild wäre also der Beschluß des Liedes des 10. Bildes zur Seite zu stellen:
Ihr, die auf Erden lebt in Ach und Weh
Auf, sammelt eure schwachen Lebensgeister
Und lernt vom guten Doktor Galuleh
Des Erdenglückes großes Abc.
Gehorsam war des Menschen Kreuz von je!
Wer wär nicht auch mal gern sein eigner Herr und Meister?
Umgekehrt müßte der Titel des Liedes des 10. Bildes - "Die erschröckliche Lehre und Meinung des Herrn Hofphysikus Galileo Galilei oder Ein Vorgeschmack der Zukunft" - auch für das ganze Stück geltend gemacht werden. Liegt in dieser doppelten Bezüglichkeit möglicherweise ein Grund dafür, daß Interpretation und Bewertung des Stücks bis heute umstritten blieben?

Anmerkungen

42) Zit. nach Sammy K. McLean: The Bänkelsang and the Work of Bertolt Brecht. The Hague, Paris: Mouton 1972, S. 55.