Reinhard Döhl | Ballade, Bänkelsang, Legende
Christa Reinigs Ballade vom blutigen Bomme | Fallbeispiel 3

Mein letztes Fallbeispiel ist Christa Reinigs "BALLADE VOM BLUTIGEN BOMME":
HOCHVEREHRTES PUBLIKUM
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe gott persönlich
ich verbleibe ganz gewöhnlich
wenn ich auf den tod von BOMME
meinen freund zu sprechen komme
MÖGE IHNEN NIE GESCHEHN
WAS SIE HIER IN BILDERN SEHN
I. Bild
ZUR beweisaufnahme hatte
man die blutige krawatte
keine spur mehr von der beute
auf dem flur sogar die leute
horchen was nach draußen dringt
denn der angeklagte bringt
das gericht zum männchen-machen
und das publikum zum lachen
SEHT DIE HERREN VOM GERICHT
SCHÄTZT MAN OFFENSICHTLICH NICHT
II. Bild
EISentür und eisenbett
dicht daneben das klosett
auch der wärter freut sich sehr
kennt den Mann von früher her
BOMME fühlt sich gleich zu haus
ruht von seiner arbeit aus
auch ein reicher mann hat ruh
hält sein sarg von innen zu
JETZT GEHT BOMME DIESER MANN
UND SEIN REICHTUM NICHTS MEHR AN
III. Bild
SAGt der wõrter grüß dich mann
laß dirs gut gehn denk daran
wächter sieht auch mal vorbei
mach mir keine schererei
essen kriegst du nicht zu knapp
BOMME denn kein kopf muß ab
BOMME ist schon sehr gespannt
und malt männchen an die wand.
NEIN HIER HILFT KEIN DAUMENFALTEN
BOMME MUSS DEN KOPF HINHALTEN
IV. Bild
BOMME ist noch nicht bereit
für abendmahl und ewigkeit
kommt der pastor und erzählt
wie sich solch verdammter quält
wie er große tränen weint
und sich wälzet - BOMME meint
das ist alles interessant
und mir irgendwie bekannt
DENN WAS WEISS EIN FROMMER CHRIST
WIE DEM MANN ZUMUTE IST
V. Bild
AUF dem hof wird holz gehauen
BOMME hilft das fallbeil bauen
und er läßt sich dabei zeit
schließlich ist es doch so weit
daß es hoch und heilig ragt
BOMME sieht es an und sagt
das ist schärfer als faschismus
und probiert den mechanismus
WENN DIE SCHWERE KLINGE FÄLLT
SPÜRT ER DASS SIE RECHT BEHÄLT
VI. Bild
AUFstehn kurz vor morgengrauen
das schlägt BOMME ins verdauen
und da friert er reibt die hände
konzentriert sich auf das ende
möchte gar nicht so sehr beten
lieber schnell aufs klo austreten
doch dann denkt er: einerlei
das geht sowieso vorbei
VON ZWEI PEINLICHEN VERFAHREN
KANN ER EINS AM ANDERN SPAREN
VII. Bild
WÄRe mutter noch am leben
würde es auch tränen geben
aber so bleibt alles sachlich
BOMME wird ganz amtlich-fachlich
ausgestrichen aus der liste
und gelegt in eine kiste
nur ein sträfling seufzt dazwischen
denn er muß das blut aufwischen
BITTE HERRSCHAFTEN VERZEIHT
SOLCHE UNANSTÄNDIGKEIT
DOCH WER MEINT DAS STUCK WAR GUT
LEGT EIN' GROSCHEN IN DEN HUT.
Die Affinität dieser Ballade zum Bänkelsang ist von der Forschung von Anfang an gesehen worden. Karl Riha hat auf sie bereits 1965 hingewiesen und die ersten Nachweise geführt. Allerdings ist Riha, sind die ihm folgenden Interpreten (43) überzeugt, daß es sich bei diesem "bänkelsängerischen Rollenmonolog", der dort einsetze, wo er bei Wedekind und Brecht in der Regel abbreche, bei Inhaftierung und Hinrichtung, - daß es sich bei diesem Rollenmonolog um einen "fiktiven bänkelsängerischen Rahmen" handle, daß Christa Reinig die "Spielform" der Moritat als Mittel ironischer Distanzierung von einem fiktiven Geschehen nutze. Vor allem die von Riha in diesem Zusammenhang bemerkte interpretatorische Offenheit der "BALLADE[...]" ist bis heute unbestritten geblieben. Einerseits nehme der Text in seinem vorgeführten "vitalen Nonkonformismus [...] dem Verhängnis oder Tod die Einmaligkeit". Andererseits sei vielleicht bereits diese Deutung überzogen, sei "Reinigs Ballade" möglicherweise "nichts weiter als ein artistisches sprachliches Spiel in einem vorgegebenen literarischen Muster", eine "ästhetisch-provokative Spielerei, die wohlkalkuliert mit dem Entsetzen" scherze (44).

Eine solche Unsicherheit der Interpreten erklärt sich letztlich wohl aus dem Unvermögen, diesem Text hinter den Sinn zu kommen. Das ist aber durchaus möglich, undzwar in einem Doppelschritt. Erstens, indem man diese "BALLADE [...]" als Reaktion Christa Reinigs auf Oscar Wildes "The Ballad of the Reading Gaol" liest. Das ist bisher, obwohl Christa Reinig selbst darauf aufmerksam gemacht hat (46), nicht geschehen. Folgt man diesem Hinweis der Autorin, kontrastiert ihr "bänkelsängerischer Rollenmonolog" zu der poetischen Emphase Oscar Wildes, stellt er den von Wilde pathetisch in Anspruch genommenen christlichen Erlösungsgedanken durch seine gezielte Banalität in Frage. Den poetischen Anspruch der Wildeschen Ballade kontert Christa Reinig mit der Trivialität der Moritat, die poetische Überhöhung mit der banalen Wirklichkeit. Denn - und das ist zugleich der zweite Schritt - Christa Reinig hat einen echten Bänkelsängerstoff gestaltet: die Geschichte der Gladow-Bande.

Einen brauchbaren Zugang zum Stoff bietet das Heft 14 des SPIEGELs aus dem Jahre 1950; "Eine ganze Hundertschaft Volkspolizisten bot Ostsektoren-Polizeipräsident Waldemar Schmidt täglich als Eskorte auf, um Berlins kapitalste Nachkriegsverbrecherbande im improvisierten Schwurgerichtssaal im Reichsbahndirektionsgebäude Linienstraße zu bewachen. Den Schwarzhändlern in der Linienstraße wurden die numerierten Publikumstickets zu dem Prozeß aus den Händen gerissen. Sogar eingefleischte Westberliner fuhren in die berüchtigte Linienstraße, um Werner Gladow, den18jährigen Al Capone vom Alex, und seine Bande, darunter die Gangsterkönige Gustav Redzinski alias Bomme und Hannes Völpel, hauptberuflichen Scharfrichtergehilfen, zu sehen" (46).

Bereits dieses Zitat belegt, daß Reinigs "BALLADE" alles andere als "stilisierter Bänkelsang" ist, formulieren doch die Zeilen "auf dem flur sogar die leute / horchen was nach draußen dringt" recht genau den Andrang des Prozeßpublikums. Mit dem Spitznamen "Bomme" ist sowohl der Name des 'Helden' als auch ein Rätsel gegeben, denn Franz (nicht Gustav, R.D.) Redzinski wurde im Prozeß nicht zum Tode, sondern nur zu lebenslangem Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt, zum Tode dagegen Werner Gladow, der am 10. Dezember 1950 in Frankfurt/Oder durch das Handbeil hingerichtet wird. Sowohl dieses Handbeil wie das Fallbeil der "BALLADE [...]" bringen den "Scharfrichtergehilfen" Gustav Völpel ("Scharfrichter-Hannes" war sein Spitzname, R.D.) ins Spiel, der zwischen 1946 und 1948 in West- und Ostberlin, sowie in Mitteldeutschland zahlreiche Hinrichtungen vollzogen hatte, mit dem Handbeil dort, mit dem Fallbeil hier. Beim Schwurgerichtsprozeß in der Linienstraße fehlte er allerdings als Angeklagter, denn die Westberliner Polizei hatte ihn "bei einer separaten Einbrechertour" (DER SPIEGEL, S. 8) im April 1949 verhaftet. 1950 von der 5. Großen Strafkammer in Westberlin zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt, starb er 1959, verarmt, eines natürlichen Todes. Dennoch ging offensichtlich Völpel, - "BOMME hilft das fallbeil bauen", "und probiert den mechanismus" - partiell im Balladenhelden auf. Der BOMME der "BALLADE" [...] wäre demnach aus drei realen Personen synthetisiert aus dem hingerichteten Führer der Bande, Gladow, dem "Scharfrichtergehilfen" Völpel und dem "geistesschwachen" "Analphabeten" Redzinski, der dem 'Helden' seinen Spitznamen (Bomme = Kopf) lieh, was der Zeile "BOMME denn dein kopf muß ab" ironischen Nebensinn gibt.

Zu den letzten drei Zeilen des "I. Bildes" liefert Cornelsen einen Schlüssel: "[...] oft hallt der Saal wider von dem Gelächter der Zuhörer über die teils naiven und teilweise unverschämten Antworten der jugendlichen Banditen". Speziell Gladow wird in den Quellen wiederholt als lustiger Vogel geschildert. "Meine Natur ist lustig und fröhlich", charakterisiert er sich selbst gegenüber seinem medizinischen Gutachter; und Cornelsen berichtet, daß der während eines Rundfunkinterviews mit Redzinski hereingeführte Gladow den fotografierenden Reporter angelacht habe: "[...] er lachte überhaupt, so daß die Funkaufnahme wegen allgemeiner Heiterkeit abgebrochen werden mußte". Lassen sich die 3. bis 6. Zeile des "II. Bildes" gleichermaßen auf Völpel (auch in seiner Funktion als Henker), Redzinski und Gladow beziehen, betreffen die letzten beiden Zeilen ausschließlich Gladow. Der einzige "reiche" Mann unter den Todesopfern der Bande war ein Juwelier, und den verwundete Gladow tödlich. Nicht zu entschlüsseln sind die ersten beiden Zeilen des "VII Bildes", denn die mitangeklagte, dann aber freigesprochene Lucie Gladow hat ihren Sohn überlebt, und von einer anderen Mutter ist in den Quellen nicht die Rede. Schließlich entsprechen sich wieder das im Grunde unerschütterliche Verhalten Bommes und die Ruhe, die Gladow während des Prozesses (von wenigen Momenten abgesehen) bewahrt und vor seiner Hinrichtung zur Schau trägt: "Ruhig und gefaßt legt er den Kopf auf den Richtblock".

Andere, ehe vage Entsprechungen führen nicht weiter. Müßig wäre eine Diskussion der Frage, ob Reinigs Kunstfigur BOMME eine Stilisierung des "Räuberhauptmanns Gladow" oder eine Personifizierung der Bande insgesamt darstellt. Dagegen wird als Frage entscheidend, warum Reinig eine solche Kunstfigur (die ja bei der Publizität des Falles via Namen sofort auf diesen verweist) und warum sie die Form des Bänkelsängerliedes wählt? Dazu ist es nützlich, sich die damalige Situation in Berlin, den Hintergrund ins Gedächtnis zu rufen, vor dem die Gladow-Bande agierte. Dieser Hintergrund ist nämlich ziemlich genau die Zeit der Berliner Blockade vom 24. Juni 1948 bis zum 9. Mai 1949, in der "die Stadtkommandanten General Koltikow und Oberst Howley ihren Privatkrieg führten" (DER SPIEGEL, S.85), aber auch Gladow mit seiner Bande Ost- und Westberlin in Atem hielt (will man datieren: vom 15. April 1948 bis 11. Mai 1949).

Gladows Biographie ist, wie die der meisten Bandenmitglieder, geprägt von den letzten Kriegsmonaten, in denen er als Hitlerjunge das Schießen lernte, sowie von der Orientierungslosigkeit der direkten Nachkriegszeit, der speziellen Berliner Situation. Sein Vorbild wurde Al Capone, über den er eine Biographie las: "Ein Mensch wird Verbrecher". Bleibt letzteres in der "BALLADE [...]" unerwähnt, findet die Prägung noch durch die Hitlerzeit, verbunden mit dem vom Gericht in Anwendung gebrachten § 20 des Reichsjugendgesetzes, den die Verteidigung als "ausgesprochen nazistisch" erklärte, da er "noch vom gesunden Volksempfinden" ausgehe", in BOMMES Charakterisierung des Fallbeils ("das ist schärfer als faschismus") ihre denkwürdige Formulierung.

Auch empfand das Volk im Falle Gladows durchaus uneinheitlich. Aus der Sicht der Opfer, angesichts der Toten und Verletzten galten er und seine Freunde als blutrünstige Gangster. Einen "grausamen, brutalen Banditen" nennt ihn Cornelsen, aber im selben Satz gleichfalls einen "naiven unmateriellen Phantasten". "Daß Gladow immer nur an die 'Tat' und nur sehr wenig an ihren materiellen Gewinn dachte", erkannte das medizinische Gutachten über den zur Zeit seiner Verbrechen noch nicht 18jährigen, weise "auf eine gewisse Naivität eines pubertierenden Jünglings hin". Das machte den Gangster auf der anderen Seite zu einem "Räuberhauptmann", die Taten der Gladow-Bande, ihre Überfälle auf Juwelierläden, ihre mehrfachen Entwaffnungen von Volkspolizisten zu einer Räuberpistole. Der Räuber, ganz im Sinne des trivialen Genres, als Volk, das von der immer wieder gefoppten Polizei, dem Staatsorgan gejagt und nicht erwischt wird - ist also die zweite Sicht des Falles Gladow, der drittens noch eine ausgesprochen politische Dimension hatte. Das gilt sowohl für den Prozeß, der "propagandistische Wirkungen haben kann und soll", der, was notabene die merkwürdige Formulierung vom "männchen-machen" erklären könnte, "auch ein politischer Prozeß" war, wie es für die Öffentlichkeit gilt in einer speziellen Verknüpfung von "Räuberhauptmann" und politischer Realität.

Reinig, die sich, bedingt durch ihr "Doppelleben" in Ost- und Westberlin, mit den verschiedenen Aspekten des Falles besonders intensiv beschäftigte, hatte damals u.a. ein Gedicht speziell auf Gladow gemünzt, aus dem sie gesprächsweise zitierte: "Die Polizei schützt uns vor Räubern / Und wer schützt uns vor Polizei?" Diese Zeilen, wie das ganze Gedicht sind nie gedruckt worden. Das Zitat stützt aber die abschließende These, daß in der Wahl des Bänkelsängerliedes eine Parteinahme der Autorin für den ("meinen freund") / für die Räuber implizit enthalten ist, daß die "BALLADE [...]" eine politische Aussage einschließt, die von den Zeitgenossen sehr wohl aufgeschlossen und verstanden werden konnte und sollte. Denn das Bänkelsänger-Alter ego Reinigs konterkarierte mit der "BALLADE VOM ELUTIGEN BOMME" unausgesprochen auch eine Haltung, die Gladow nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilte mit der Begründung: "Er zeigte in einer Zeit des Wiederaufbaues, daß er nicht daran teilnehmen will. Seine Einstellung ist völlig asozial und besonders gesellschaftsschädlich".

Anmerkungen

43) Karl Rihas erster Interpretation (s. Anm. 6) folgten vor allem Wilhelm Große: Christa Reinig: Die Ballade vom blutigen Bomme. In: Peter Bekes u.a.: Deutsche Gegenwartslyrik von Biermann bis Zahl. München: Fink 1982; Karl Moritz: Deutsche Balladen. Analysen für den Unterricht. Paderborn: Schöning 1972; Kurt Bräutigam: Moderne deutsche BalIaden. Frankfurt/M. u.a.: Diesterweg 1968.
44) Große (s. Anm. 43), S. 201.
45) Mein Herz ist eine gelbe Blume. Christa Reinig im Gespräch mit Ekkehart Rudolph. Düsseldorf: Eremiten-Presse 1978.
46) Neben dem SPIEGEL, Jg 4, 1950, H. 14 versammelt aufschlußreiches Material Horst Cornelsen: Werner Gladow, und seine Bande. In: Thomas Brasch: Engel aus Eisen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981. Die erläuternden Zitate im Text nach Cornelsen.