Hörspielgeschichtlich werden die 60er Jahre gerne als Jahre der Krise hingestellt, gelten Peter Hirches "Miserere", 1965, und Günter Eichs "Man bittet zu läuten", 1964, als bevorzugte Studienobjekte, an denen sich technisch formale Änderungen, bzw. bestimmte inhaltliche Verschiebungen beobachten lassen auf dem Wege von einem Hörspiel der Innerlichkeit zur Entwicklung eines sogenannten Sprechspiels seit etwa 1965.
Eine solche Sicht verkürzt die Perspektive, und verdeckt, in welchem Maße seit Beginn der 60er Jahre neben einer Bestandsaufnahme die Hörspielpraxis Weichen stellte für eine Entwicklung zu neuen, offenen Hörspielformen, deren Diskussion Ende der 60er Jahre die erstaunliche Lebensfähigkeit der Gattung erwies.
Eine besondere Bedeutung in diesem Prozeß kommt den Hörspielen des "Nouveau Roman" zu, die - ein literaturgeschichtliches Paradox - nicht von der ORTF gefördert und gesendet wurden, sondern überwiegend im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks entstanden und geschrieben wurden, ja nicht einmal über diesen Umweg in jedem Fall den Weg zurück in die ORTF fanden, deren Hörspielprogramme sich in den 60er Jahren wesentlich mit "Pièces Radiophoniques" behalfen, so als hätte es in den 50er Jahren niemals jenen von Jean Tardieu initiierten, inzwischen legendären "Club d'Essai" mit seinen Rundfunkexperimenten gegeben. Auch die Hörspiele des "Nouveau Roman", oder vielleicht sollte man besser sagen, das "Neue Französische Hörspiel", das seit 1960 bald in größerer Zahl gesendet wird, knüpfen in den wenigsten Fällen an die radiophonischen Experimente des "Club d'Essai" an. Am ehesten noch mit Jean Tardieus "Die Insel der Schnellen und die Insel der Langsamen" oder Jean Thibaudeaus "Die Fußballreportage", die als eine der wenigen Ausnahmen in der ORTF uraufgeführt werden: eine auf das Programm des französischen Rundfunks abgestimmte, halb ironische, halb poetische Auseinandersetzung mit den Formen des Funks und der bewußtseinsverändernden Rolle der gehörten simultanen Welt.
Die anderen Hörspiele, vor allem von Robert Pinget, Michel Butor, Nathalie Sarraute, Daniel Boulanger, Claude Ollier, Claude Simon und Monigue Wittig, stehen ganz in der werkgeschichtlichen Entwicklung ihrer Autoren, ihrem grundlegenden Reflex auf die Eigenmächtigkeit der Sprache, die sich einer komplexen und komplizierten Wirklichkeit zu stellen hat.
Mann kann und muß diese Hörspiele deshalb auch an den theoretischen Überlegungen der "Nouveaux Romanciers" messen. Etwa an Nathalie Sarrautes "L'Ere du Soupçon", den dort von ihr und an anderer Stelle von Alain Robbe-Grillet angenommenen Tod des Helden.
So ist es gewiß kein Zufall, wenn das erste Hörspiel von Claude Ollier, "Der Tod des Helden" überschrieben ist und in einem Dialog zwischen Lektor A und Autor B die Konsequenzen des aus der Literatur verschwundenen Helden durchspielt. Entsprechend der Auffassung, daß an einem bestimmten Punkt in der literarischen Entwicklung Hauptperson des Romans, Autor und Leser zusammenfallen, wird im Hörspiel nach einem am Lektor inszenierten Mord auch am Autor das Todesurteil vollstreckt.
In der Funkerzählung "Die Verwandlung" desselben Autors löst sich der Erzähler aus der Ich-Perspektive, um sich mit den von ihm erfundenen Personen zu identifizieren. Bis schließlich innerhalb des fiktiven Falles der Erzähler als der wahre Schuldige erscheint.
Die Hörspiele der "Nouveaux Romanciers"
entstanden dabei durchaus nicht immer aus dem Bedürfnis, literarische
Themen und Problemstellung in einem anderen Medium versuchen zu wollen.
So bedurfte es im Falle Nathalie Sarrautes, die ursprünglich nie daran
gedacht hatte, eines Tages etwas anderes als Romane zu schreiben, die sich
nicht vorstellen konnte, sich einmal einer anderen Sprache zu bedienen,
so bedurfte es im Falle Nathalie Sarrautes der längeren Überredung
durch den Vermittler und Übersetzer Werner Spies. Erst dann wagte
sie sich an ihr erstes Hörspiel "Das Schweigen", dem geglückten
Versuch, mit einem
Dialog, der ein realistischer Dialog
zu sein scheint, das Hörbar zu machen, "was es in Wirklichkeit unterhalb
des Dialoges gibt, die 'Unterkonversation' ("sous-conversation").
Alles, was man nicht sagt, wurde im Dialog eines solchen Hörspiels gesagt", erinnert sich Nathalie Sarraute 15 Jahre später in einem Gespräch mit Francois Bondy an die Idee zu diesem Hörspiel, an den Einfall, sich einen Mann zu denken, "der schweigt, und der durch sein Schweigen um sich herum ein Unbehagen schafft, das wir alle sehr gut kennen. Es ist eines jener Schweigen, von denen es heißt, sie lasten. Ein Schweigen, das man für gewöhnlich nicht eigens hervorhebt, das aber peinlich wirkt. Ich dachte mir nun", fährt Nathalie Sarraute fort, "es wäre interessant, wie unter einem Mikroskop zu zeigen" was ein solcher Moment des Schweigens für alle Anwesenden bedeutet. Als ein Bewußtsein, das sich davon bedrückt fühlt. Bei mir würden die Leute im Dialog eben das sagen, was sie innerlich empfinden, was im allgemeinen ganz schnell vorbeihuscht und nicht ausgesprochen wird."
Neben der Dialogsituation des "Verhörs" bei Claude Ollier und Robert Pinget führt Nathalie Sarrautes Stimmenspiel zwischen Konversation und "Unterkonversation" eine zweite für das Hörspiel des "Nouveau Roman" bezeichnende Dialogpraxis vor, der zum Beispiel Monique Wittigs Hörspiele "Johannisfeuer" und "Die Massage" mit ihrer forcierten krampfartigen Welt der Pseudo-Unterhaltung formal durchaus verpflichtet sind.
Heinz von Cramer, der wohl wichtigste Regisseur dieser neuen französischen Hörspiele, der mit seinem musikalischen Inszenierungsstil Wesentliches für ihre Vermittlung und Rezeption geleistet hat, hat in einem Gespräch mit Klaus Schöning 1965 dafür plädiert, die beiden Stücke einmal zusammen zu senden, da sie sich derart ergänzten, "daß eines eigentlich das Gegenbild des anderen (sei), daß sie kaum richtig verständlich sind, wenn sie allein gesendet werden, ich meine, in ihrer ganzen kontrastierenden Frechheit."
Was der sensible Regisseur hier erspürt, ist von der bisher nur spärlich vorliegenden Literatur über das Hörspiel des "Nouveau Roman" noch gar nicht recht erkannt worden. Die Tatsache nämlich, daß in seinem Umkreis zwischen den einzelnen Spielen oft auffallende Wechselbeziehungen bestehen, daß sie sich wechselseitig erhellen, oder wie die zwei Seiten einer Medaille kontrastierend zusammentreten.
Das gilt zum Beispiel auch für die beiden Hörspiele Nathalie Sarrautes "Das Schweigen" und "Die Lüge". Und wiederum ist es ein Regisseur, der dies augenscheinlich erspürt hat, Jean-Louis Barrault, der mit den beiden Hörspielen erfolgreich 1967 das "Petit Odéon", die Studiobühne im Théâtre de France" eröffnete, und damit das Interesse Nathalie Sarrautes auch auf das Theater lenken konnte. Ertragreich, wie die folgenden Stücke "C'est beau" ("Das ist schön") und "Elle est là" ("Sie ist da") belegen.
Auch Michel Butors "6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde", das Hörbeispiel unserer heutigen Lektion, fand 3 Jahre nach seiner Stuttgarter Ursendung eine sogar noch spektakulärere Adaption durch die Bühne. 1968 wurde mit dieser umfangreichen Text-Collage anläßlich der Olympischen Winterspiele die Neukonstruktion des "Théâtre Mobile" in Grenoble eröffnet.
Anders als bei Jean Thibaudeau, dessen
auf das Medium abgestimmte Themenstellung das Hörspiel als Form nahelegte,
anders als bei Robert Pinget, der zuvor Theatererfahrung gesammelt hatte,
was seinem von Samuel Beckett übersetzten, von der BBC gesendeten
Hörspielerstling "Die alte Leier" noch abhörbar ist, und auch
anders als bei Nathalie Sarraute, die zu ihren Hörspielversuchen praktisch
überredet werden mußte, sind die Hörspiele Michel Butors
formal-inhaltliche Konsequenzen einer theoretischen und praktischen Werkentwicklung,
die Claude Mauriac im "Figaro" charakterisierte als eine immer wieder ansetzende
"Erneuerung der Möglichkeiten
der Literatur in ihrer materiellsten Form, die man ein für allemal
für festgelegt hielt, nämlich dem Buch."
Vor allem mit seinen Romanen "Passage de Milan", 1954, "Zeitplan", 1956, "Paris, Rom oder die Modifikation, 1958, und "Stufen" 1960, aber auch mit seinen theoretischen Essays galt Butor lange Zeit als Kronzeuge des "Nouveau Roman", bis er 1962 mit "Mobile", der Partitur eines Reiseberichts, die Grenzen des Romans sprengte und mit seinem ersten Hörspiel "Fluglinien" in den Bereich einer neuen Gattung vorstieß.
Als Butor nach der deutschen Ursendung das zweite Hörspiel "6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde" in Frankreich als Buch erscheinen ließ, fühlte sich seine große Lesergemeinde vollends verprellt. "Jetzt dringt er in eine Nacht ein, in die man ihm nicht mehr folgt", faßte Claude Mauriac die öffentliche Meinung zusammen und fragte bzw. konstatierte: "Liest man ihn überhaupt noch? Selbst die Spezialisten verzichten auf die Lektüre."
Auf genaue Lektüre mußten diese Spezialisten aber schon 10 Jahre zuvor verzichtet haben, als Michel Butor seinen Essay "Roman als Suche", 1955, vorlegte und ausführte, in welchem Maße ihm der Roman , die Romanform lediglich Mittel zum Zweck einer schließlichen Formauflösung oder Formüberschreitung war, wenn er dort u.a. folgert, "daß sich jede wirkliche Umwandlung der Form des Romans, jede fruchtbare Suche in diesem Bereich, nur innerhalb einer Umwandlung des Begriffes 'Roman' überhaupt vollziehen" könne, "der sich langsam aber unaufhaltsam (...) zu einer neuen Art Dichtung" entwickle, "die episch und didaktisch zugleich sei, und, daß sich "diese Entwicklung wiederum (...) innerhlb einer Umwandlung des Begriffes Literatur" vollziehe, "die nicht mehr nur als Mittel zur Entspannung oder als Luxus" erscheine, "sondern in ihrer wesentlichen Rolle im Innern des gesellschaftlichen Gefüges und als methodische Erfahrung."
Man könnte, einem Diktum Michel Butors folgend,nachdem ihm alle seine Bücher "rückblickend wie ein einziges Buch erscheinen", davon sprechen, daß alle Veröffentlichungen Butors formale Stationen sind, einer durch Schreiben erfahrbar gemachten Begriffsverwandlung von Literatur.
Diese Literatur sucht nicht nach neuen formalen Methoden, um Inhalte zu fixieren, sondern die jeweils gewählte Form hat inhaltliche Qualitäten. Das wird zum ersten Mal ganz deutlich in "Studie für eine Darstellung der Vereinigten Staaten von Amerika", die eben nicht ein der Topographie und den Erlebnissen folgender und diese schildernder Reisebericht ist, sondern alphabetisch den 50 Staaten der USA folgt, und damit einem, wie Helmut Scheffel festgestellt hat, "in der westlichen Zivilisation außerordentlich verbreiteten Prinzip" der Anordnung. Dieses immer wieder angewandte Grundmuster soll augenscheinlich den Leser davon abhalten, sich auf einen illusionären Nachvollzug einer Reise einzulassen. Helmut Heißenbüttel hat gezeigt, daß ein derart geordnetes, "zeigendes Sprechen", daß eine derartige "Kombinatorik von Zitaten, die nicht als Medium dienen für etwas, das jenseits von ihnen liegt", von Michel Butor auch für seine Hörspiele eingesetzt wird.
In der Tat bietet zum Beispiel "6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde" durch seinen ständigen, oft abrupten Wechsel von Zitat, Dialogpartikeln, Erzähler- und Kommentatortext und Geräusch dem Hörer keine Möglichkeit, sich identifizierend einzuöören, einen - wie auch immer - vermittelten Reiz des Naturschauspiels der Niagara-Fälle zu erleben. Wie die Scherben in einem Kaleidoskop treten die Partikel des Hörspiels vielmehr zu ständig neuen Kombinationen zusammen, in den immer neuen Verbindungen neue Bedeutungen und Sinnzusammenhänge aufscheinen lassend und sie zugleich wieder zurücknehmend. Dem sprachlichen Mosaik entspricht ein Mosaik aus sieben genau zu beachtenden Lautstärken, die der Autor durch Einrückungen im Manuskript der Regie exakt vorgeschrieben hat.
Von einem "musikalischen Strukturprinzip" hat schon Helmut Scheffel im Zusammenhang einer Darstellung der Hörspiele Butors gesprochen. Auch Werner Spies zieht Parallelen zu anderen Gebieten der Kunst und möchte von einem "System der sonoren Perzeption" sprechen, von einer "akustischen Aggressivität, die die Adaptionsfähigkeit des Ohrs und seine Unfähigkeit zur Adaption oder zur Identifikation einschließt." Die sehr ausgewogene Inszenierung Heinz von Cramers scheint beides zu bestätigen. Sie ist, was eine Analyse im Studio schnell zeigen würde, so auskomponiert, daß man keinen der 1005 Partikel dieser Hör-Collage herausschneiden könnte, ohne die Komposition empfindlich zu stören.
Und dennoch beschriebe man damit die Bedeutung dieser - im Sinne einer Heißenbüttelschen Definition - exemplarischen "Hörsensation" nur bedingt. Denn es geht in diesem Hörspiel natürlich auch um die Niagara-Fälle. Allerdings nicht um das wirkliche Naturschauspiel, sondern um vermittelte Natursensation.
Als Sensation einmal vermittelt durch die frühe romantische Beschreibung der Niagara-Fälle durch den Vicomte Francois René de Chateaubriand, die er 1797 in seinen "historischen, politischen und geisteswissenschaftlichen Essay über die alten und modernen Revolutionen unter dem Gesichtspunkt ihres Zusammenhangs mit der französischen Revolution" einlegte, als touristische Sensation zweitens vermarktet und denaturiert.
Beides, Beschreibung und touristische Aufbereitung sind gleichsam die Oberfläche, bis zu der ausschließlich jene Paare oder Jubilare vorzudringen vermögen, die sich dieses klassische Ziel amerikanischer Hochzeitsreisen ausgewählt haben. Sie, die gleichsam im Gestrüpp des Drumherum steckenbleiben, sind in den zahlreichen Dialogpartikeln für den Hörer stets gegenwärtige Wirklichkeit eines nur noch mittelbar erlebbaren Naturschauspiels.
Im Werk Michel Butors gibt es zwei bevorzugte Themen: die Darstellung des Reisens, die zum kompositorischen Grundmuster seines ersten Hörspiels "Fluglinien" wird und die Darstellung eines Ortes, etwa in seinem dritten Hörspiel "Der Bahnhof Saint-Lazare", nach Fotografien von Jean-Pierre Charbonnier. "6.810.000 Liter Wasser pro Sekunde" verbindet in der Collage von zitierter Beschreibung, kommentiertem Touristenrummel und den zahlreichen Dialogpartikeln beides zu einem beziehungsreichen Ganzen. Und hier liegt auch vor allem die hörspielgeschichtliche Bedeutung des Stückes, indem es die Grenzen zum Feature wieder fließend machte und damit - allerdings ohne es zu wissen - an eine Tradition anknüpfte, die Anfang der 50er Jahre durch die Trennung von Hörspiel- und Feature-Redaktion im NWDR abgebrochen wurde.
Ein Vergleich mit Ernst Schnabels "Der 29. Januar", mit den Arbeiten von Alfred Andersch würde zahlreiche Parallelen aber auch Unterschiede ausweisen, die sich aus literarischer Entwicklung und zeitlichem Abstand erklären ließen.
Als der Südeutsche Rundfunk von April bis September 1968 in einer Anthologie neuer Hörspiele aus Frankreich 14 Hörspiele aus dem Umkreis des "Nouveau Roman" sendete, war dies nicht nur stolze Bilanz einer langjährigen Arbeit, sondern zugleich Dokumentation einer veränderten Hörspiellandschaft. Daß der Süddeutsche Rundfunk zum bevorzugten Spielplatz des Neuen Französischen Hörspiels wurde, ist allerdings kein Zufall, wenn man sich erinnert, daß schon zu Beginn der 50er Jahre Arthur Adamov und Eugène Ionesco Gäste auf einer Hörspieltagung des Süddeutschen Rundfunks waren und seither die Kontakte zu französischen Schriftstellern nie abgebrochen waren.
[WDR 9.6.1980]