Jeans, ein schwarzer Rollkragenpullover und die Haare länger als die Zeit es erlaubte, so zwang er Stuttgarts ehrbare Hausfrauen einst am hellichten Tag zu Temperamentsausbrüchen. "Existentialitschle", umzischelte es den hageren Studenten der Geisteswissenschaften beiderseits der Königsstraße. Er trug's gelassen. Reichlich öffentliche Verachtung hatte er sich schließlich schon weiter nördlich zugezogen. Undzwar mit einer poetischen Kostprobe seiner munteren Aufmüpfigkeit. In der Studentenzeitung der ehrwürdigen Universität Göttingen hatte Reinhard Döhl 1959 seine "Missa Profana" zur allgemeinen Erregung freigegeben, wodurch sich zwei "freundliche Kommilitonen" zu einer Anzeige wegen Gotteslästerung gezwungen sahen, was dem kleinen Werk alsbald eine weitgestreute Beachtung verschaffte. Bis vor den Bundesgerichtshof brachte es seinen Verfasser. Und der endliche Freispruch des juristisch Bedrängten war möglicherweise mehr dem wortgewaltigen Beistand des Stuttgarter Philosophieprofessors Max Bense zu verdanken als dem literarischen Sachverstand der hohen Gerichtsbarkeit. Den Göttinger Universitätverweis allerdings vermochte dieser Freispruch nicht zu bannen. So folgte der poetische Brandstifter seinem Fürsprecher noch im selben Jahr an die Technische Hochschule Stuttgart. An der Universität der Schwabenhauptstadt lehrt dieser Reinhard Döhl heute als ein wohlgeordneter Professor deutsche Literatur, wozu er in schöner und pflichttreuer Regelmäßigkeit sein Botnanger Häusle verläßt, das ansonsten den poetischen Spötter und Vers-Artisten, den Künstler, den Tabakschnupfer, den Ehemann und Vater Reinhard Döhl genauso gern beherbergt wie den deutschen Professor.
Seine in 30 Jahren gewachsene und inzwischen auch bewurzelte Anhänglichkeit an dieses Stuttgart bei Botnang wird zwar hin und wieder von den Blindschleichen der Kulturbürokratie heftig geprüft, doch mit geradezu lutherischem Trotz weiß Reinhard Döhl sich und seine ähnlich tapferen Freunde stets und beizeiten zu trösten: "Hier bleibe ich und streite".
Streitbar war dieser Mehrkämpfer der Künste schon immer. Damals schon, als sich auch in Stuttgart die Literatur anschickte, konkret zu werden, als in einem eher schäbigen Kollegsaal der hiesigen Hochschule freitags abends unter der inspirierenden Schirm- und Theaterherrschaft Max Benses die literarischen Theorien mit einer Wucht aufeinanderkrachten, die es heute allenfalls noch den Knochen der Balltreiber im Neckarstadion beschieden ist. Hermann Lenz, der nach München entflohene Stuttgarter, beschreibt in seinem Roman "Seltsamer Abschied" einen dieser längst legendären Stuttgarter (Schul-)Abende. "Lachner meldete gegen die These des Langhalsigen mit dem dicken Adamsapfel gewisse Zweifel an, ließ aber alles in der Schwebe und fügte hinzu, auch bei konkreten Gedichten sei ein unerforschlicher Faktor einzukalkulieren, was den Protest des Langhalsigen hervorrief, der sich erhob und gereckten Kopfes, den Arm ausstreckend, darauf hinwies, das alles ausgeleuchtet werden müsse und kein Rest dunkel in einer Ecke hocken und sich mystisch oder mythisch verstecken dürfe, sozusagen." Wie ein "Sektenprediger" immerhin erschien Hermann Lenz dieser "Langhalsige in seinem hochgeschlossenen schwarzen Pullover" und nicht wie den Trottoir-Träpplerinen der Königsstraße als ein höchstverdächtiges "Existentialischtle".
Das Ausleuchten der Verhältnisse hinieden mittels Wort- und Bildzeichen betreibt Reinhard Döhl anhaltend leidenschaftlich. Und nicht nur in seiner wissenschaftlichen Arbeit, auch als Kunstproduzent fühlt er sich den Dadaisten und ihrem entlarvenden Tiefsinn-Jux seelen- und verstandesverbunden. Mit seinen Collagen, seinen Schriftbildern, treibt der 55jährige ungebrochen munter und in fröhlicher Ernsthaftigkeit die Sehnerven seiner Zeitgenossen neuen Erkenntnissen zu. Von Külzelsau bis Tokio, von Wendlingen bis Paris haben es Reinhard Döhls Ansichten von der Welt zu Ausstellungsehren gebracht. Und selbst in Stuttgart kennt sie das aufgeklärte Publikum.
Leicht verschnupft ob der schwäbischen Dickfelligkeit in Kunstdingen zeigt sich Reinhard Döhl gleichwohl nur in gemessenen Abständen. Und sollte ein solcher Eindruck häufiger entstehen, dann liegt dies allenfalls an seiner Schnupftabaksleidenschaft. Aus seiner zweiten Heimat, den alpenländischen Hochgebirgen [recte: dem Bayerischen Wald], hat der Freizeitbergsteiger eine beachtliche Sammlung anmutiger Schnupftabaksflaschen in sein Haus nach Botnang getragen. Und der Schrein ihrer gläsernen Farbenpracht behauptet sich immerhin machtvoll gegen die alle Wände einnehmenden Schätze des Kunstsammlers.
Kunst, Literatur oder Wissenschaft, Reinhard Döhl bevorzugt das "unwegsame und ungespurte Gelände". Die Künste sind ihm Energie gegen "die Kälte der Welt". Und wenn es da heiß hergeht zuweilen, wenn sich Meinung an Meinung entzündet, dann immerhin sind die Menschen mit Leib und Seele bei der Kunst wie beim Leben.
[Stuttgarter Profile. Stuttgarter Nachrichten, 25.10.1989]