Ein Apfel geht um die Welt. Es ist jenes Musterbeispiel Visueller Poesie, das jedem einmal begegnet sein dürfte: In der Silhouette eines Apfels hat sich neben dem vielfach repetierten Wort "Apfel" das kleine Wörtchen "Wurm" versteckt. Das Bildgedicht - eine Kunstform, die vor allem in der Antike und im Barock beliebt war, aber auch viele heutige Literaten und Künstler anzieht -, wurde in viele Sprachen übersetzt und fand Eingang in Schulbücher. Es besitzt einen Zwilling und Drilling. Was es mit dieser Serie auf sich hat und zu welch weitreichenden Schlussfolgerungen sie veranlasst, erklärt Bettina Sorge im Nachwort eines soeben erschienenen Reinhard-Döhl-Lesebuchs wie folgt:
"Der Apfel mit seinem Wurm spielt mit den verschiedensten Bedeutungsebenen: vom einfachen Sprichwort "Da ist der Wurm drin" bis zum mythologischen Urteil des Paris und der Versuchung Evas (was beides bekanntermaßen schreckliche Konsequenzen hatte). Ja selbst erotische Konnotationen dürfen wir dem Apfel und dem ihn heimsuchenden Wurm unterstellen. Dass sich dem Apfel noch ein Blatt ("feuilleton guillotine") und eine Birne ("Père Ubu") zugesellen, ist weitgehend unbekannt. In diesem Lesebuch werden die drei als Postkarten herausgegebenen, zueinander gehörenden Figurata zum ersten Mal gemeinsam veröffentlicht. Wie der Wurm dem Apfel so ist dem Blatt, das aus dem Wort Feuilleton gebildet wird, das Wort Guillotine inhärent. So wie sich das Wort "Apfel" zum Apfel addiert, so addiert sich das "Feuilleton" (franz. "Blättchen") zum Blatt, das dort, wo normalerweise der Kopf eines Verurteilten liegen würde, abgerissen, "guillotiniert" ist. Was hat nun Guillotine mit Feuilleton zu tun, außer dass 8 der 10 Buchstaben dieselben sind und G auf F folgt, was auch nicht wenig zu diesem Spiel beigetragen haben dürfte. Der Name "Feuilleton" wurde am 22.6.1800 von Geoffroy im "Journal des Debats" eingeführt, die Guillotine wurde ab 1792 in der Französischen Revolution eingesetzt. Dem Feuilleton ist also von Anfang an die Guillotine eingeschrieben, wie dem Apfel der Wurm. Die dritte im Bunde ist die Birne (englisch pear, gesprochen wie französisch père gleich Vater), in der sich Alfred Jarrys literarische Figur Vater Ubu aus seinem Stück "Ubu Roi" versteckt. In einer Zeichnung Jarrys, die Ubu darstellt, ist auffällig, wie birnenförmig dieser gezeichnet ist. Döhl hat die Entstehung der "Birne" veranschaulicht. Selbst dem College Pataphysique angehörend und Herausgeber einer kleinen pataphysischen Anthologie, stellt er hier einen Zusammenhang zwischen der Birne, dem Vater, hinter dem wir auch Gottvater vermuten dürfen, und den ihm innewohnenden "Wurm" her, dem grotesk-grauenhaften Ubu. So wie im Apfel der Wurm, im Feuilleton die Guillotine, steckt im Père ein Ubu oder der Teufel. Politik, Gesellschafts- und Religionskritik und das alles verpackt in scheinbar harmloser Gestalt, als Spielerei - auch das ist Pataphysik."
Man staunt und fragt sich: Muss man auf solche Konnotationen selbst kommen? Nein, keine Angst, der Autor setzt für das Verständnis seiner Texte kein universelles, womöglich autoritär vermitteltes Bildungswissen voraus. Es ist ihm - im Gegenteil - daran gelegen, dass seine Texte "offen" gelesen werden: der Leser ist aufgefordert, sich seinen eigenen Reim auf das Gelesene und Geschaute zu machen.
Oft basieren Döhls Texte auf Notizen, die der Autor, bei welcher Gelegenheit auch immer, aufgeschrieben hat.
Döhl: "Seit ich Terminkalender
benutze, hat mich der in ihnen vorgesehene Raum für Notizen
gereizt als Freiraum im Umfeld
bedrückender Termine,
als weißer Fleck, als Leerstelle. Später habe ich angefangen,
in diesen Freiraum Reflexe auf Daten und Termine einzutragen, Erinnerungen
an Lektüren, Ideen, die mir wichtiger waren als der alltägliche
Termindruck. Wobei ein zusätzlicher Reiz darin bestand, diese Reflexe,
Erinnerungen, Ideen auf möglichst kurze Formeln zu bringen. Das läßt
fragen, ob derartige "notizen" nicht eher privater Natur sind, eigentlich
nicht zu veröffentlichen und für den Leser eine Zumutung. Ich
möchte diese Frage mit einem Nein beantworten. Einmal, weil ich überzeugt
bin, daß der Leser, wenn er sich auf ein Zusammenhänge entdeckendes
Lesen einläßt, diesen "notizen" durchaus etwas entnehmen kann,
das sich - bei ihrer offenen Form - nicht notwendigerweise mit den Intentionen
des Autors decken muß. Zweitens, weil in meinem Verständnis
die "botnanger sudelhefte" schon dann eine Aufgabe erfüllt haben,
wenn der Leser von ihnen angeregt wird, den "Raum für Notizen" in
seinen Terminkalendern auf der Suche nach sinnvollen Widersprüchen
zweckzuentfremden. Vielleicht wird der Leser aber auch angeregt, zum einen
oder anderen der genannten Autoren zu greifen. Hier wäre ich dann
nicht mehr zuständig."
Die angesprochenen "botnanger sudelhefte" mutieren so zu einem munteren Rätselraten, das auf verschiedenen Ebenen abläuft. Hier die ersten 21 Verse des Langzyklus. Wir begegnen nicht nur vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Form von Zitaten aus ihren Werken, Anspielungen auf ihr Leben oder indem sie namentlich aufgerufen werden, sondern auch einigen westfälischen Lebensstationen des Autors:
geboren wattenscheid westfalen
entwickelte sich seit 1934
klucke und er
im sterbejahr eugene manlove
rhodes
an pfarrer ewalds geburtstag
ein sonntagskind
bei uns zu lande
auf dem lande
das sich stadt nennt
nach dem ersten frost grünkohl
heringstipp pannhas pannschieben
pickert rievkooche
stielmus salve luculle
mit pumpernickel nach schloß
bullbergen
mit münchhausen auf
den oberhof
mit annette unter die judenbuche
die einfuhren daniel
peter leberecht kumpel anton
in die klärgruben ihrer
zeit
fast vergessen max und moritz
lies und lene
das verhör der catharina
elisabeth erdmann
und die hinrichtung christoph
beinhorns.
Auch hier wieder: Vertrautes, Fremdes und Vermutetes stehen unmittelbar nebeneinander, warten darauf, entschlüsselt, dechiffriert zu werden. Döhl liebt dieses Spiel mit Variationen und Zitaten, die er querbeet in der gesamten Literaturgeschichte aufsammelt.
"Wer sich ernsthaft mit der Collage beschäftigen will, wird [sie] lesen müssen als ein künstlerisches Ausdrucksmedium und Prinzip, dem es nicht mehr um wie auch immer geartete Darstellung von Welt geht, sondern um den Prozeß einer Wirklichkeitsaneignung, der - anders als bei der traditionellen Tafelmalerei - als Prozeß im Ergebnis sichtbar bleibt."
Nach der künstlerischen Antizipation ist das Ursprungszitat in einen neuen, möglicherweise völlig konträren Kontext gestellt. Gern rekurriert man in diesem Zusammenhang auf einen Text Döhls:
"nichts mehr ist wie es war ist nichts mehr weil nichts ist und nichts war ist nichts mehr wie es war und es sein wird nichts mehr wird sein wie es ist wird nichts mehr sein weil nichts sein wird und nichts ist wird nichts mehr sein wie es ist und es war nichts mehr war wie es sein wird war nichts mehr weil nichts war und nichts sein wird war nichts mehr wie es sein wird und es ist [so isch's no au wieder]."
Döhls Werk ist nicht leicht überschaubar. Viele Künstlerbücher und Drucke sind nur in kleinen Auflagen erschienenen und in der Regel vergriffen, anderes ist verstreut und meist entlegen veröffentlicht oder, für die akustische oder szenische Realisation gedacht, unveröffentlicht geblieben. Das typographische und bildkünstlerische Werk ist überwiegend nur in Ausstellungen und Katalogen zugänglich. Döhl ist ein Grenzgänger. Er changiert zwischen Kunst und Literatur und Wissenschaft.
Der Autor selbst: "Wissenschaftlich komme ich von der Philologie, literarisch von der experimentellen und engagierten Literatur, bildkünstlerisch von der Photographie und der Collage her. Wechsel dieser Tätigkeitsfelder, die für mich nicht eigentlich zu trennen sind, ist Fortsetzung meines Fragens mit anderen Mitteln. Wenn möglich bevorzuge ich den künstlerisch-wissenschaftlichen Dialog. Den Gesprächen und der Arbeit mit meinen Freunden und Schülern verdanke ich viel."
Diese "Guests from far places" kommen in der Hauptsache aus Frankreich, Tschechien, der Türkei und immer wieder aus Japan. Auch Döhls bildkünstlerisches Schaffen steht in einem fortwährenden Dialog mit der Gegenwart und Tradition.
Sibylle Mockler: "Sind Döhls künstlerische Arbeiten so einerseits schrittweise Annäherung an das von Apollinaire prognostizierte akustische und visuelle Buch der Zukunft, so ist andererseits sein künstlerisches, literarisches, wissenschaftliches Werk, die Reihenfolge ist freibleibend, - wenn auch bei jeweils eigener Fragestellung – durchaus Teil eines künstlerischen, literarischen, wissenschaftlichen Dialogs mit wechselnden realen oder ideellen Partnern..."
Im Gesamtwerk Döhl begegnen sich, wie Helmut Heissenbüttel 1968 zusammenfasste, "Experiment und Agitation": "Es scheint mir wichtig, ... daran zu erinnern, daß Döhl tatsächlich einer der ersten deutschen Schriftsteller war, der Experiment und Agitation in eins nahm. Allerdings nicht, wie es heute propagiert wird, im nurpolitischen Sinne. Döhls Agitation war und ist gerichtet auf das, was dahinter steckt, auf die Frage, wie weit wir noch etwas hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt annehmen und für wahr halten können."
Westfalenspiegel, Jg 51, 2002, H. 5, S. 44-48 (mit zahlreichen Abbildungen und Textbelegen) als Vorankündigung von: Reinhard Döhl. Lesebuch. Mit einem Nachwort von Bettina Sorge. Neue Westfälische Literatur Bd. 10. Ardey-Verlag Münster, 2002, 128 S., 13.90 EUR, ISBN 3-87023-132-7