Reinhard Döhl ist zunächst als Vertreter der sogenannten experimentellen Literatur bekannt geworden. Seine Texte arbeiten nicht mit Hilfe der Sprache, sondern in der Sprache. Für Döhl ist Sprache nicht länger der Medium der romantischen Poesie, sondern ein Neuland, in dem es gilt, Entdeckungen zu machen. Das, was sich entdecken läßt, hat für ihn, und das heißt auch, für den heutigen Leser und Zuhörer, mehr Bedeutung als das bedeutende Hintergründige der metaphorischen Redeweise von einst. Döhl hat das nicht nur in der Praxis seiner eigenen Schriftstellerei gezeigt, er hat es auch auf beispielhafte Weise theoretisch-wissenschaftlich entwickelt in einer Arbeit über den Schriftsteller Hans Arp, an dessen Werk ihn besonders der Übergang von neuromantischen Anfängen zu einer bis dahin unbekannten Freiheit im Umgang mit der Sprache interessiert.
Aber das ist nicht alles. Döhl wurde, zumindest in literarisch interessierten Kreisen, auch bekannt, weil er 1960 wegen Gotteslästerung verurteilt, in der Revision 1961 jedoch freigesprochen wurde. Er hatte in einem "Missa profana" benannten Text versucht, die Formulierungen der lateinischen Meß-Liturgie zu mischen mit Aussagen über die aktuelle Situation, hatte den traditionellsten Formeln der Metaphysik eine Gegenwart konfrontiert, soweit sie sich, als Satz, als Zitat, als Schlagwort sprachlich fassen läßt. Diese Collage war von bestimmten Kreisen als Sakrileg empfunden worden. Das sogenannte Experiment mit der Sprache hatte sich hier unmittelbar als Mittel der Aggression erwiesen.
Es scheint mir wichtig, auch für das Hörspiel "Herr Fischer und seine Frau oder Die genaue Uhrzeit", daran zu erinnern, daß Döhl tatsächlich einer der ersten deutschen Schriftsteller war, der Experiment und Agitation in eins nahm. Allerdings nicht, wie es heute propagiert wird, im nurpolitischen Sinne. Döhls Agitation war und ist gerichtet auf das, was dahinter steckt, auf die Frage, wie weit wir noch etwas hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt annehmen und für wahr halten können; auf Metaphysik, philosophisch gesagt, oder auf die Frage, ob Gott tot ist, theologisch ausgedrückt. Auch das Hörspiel, das kommt bereits im Alternativtitel "Die genaue Uhrzeit" zur Sprache, hat einen philosophischen Hintergrund, wenn es auch nicht durch Philosophie zu erklären ist. Die genaue Uhrzeit, von der der Titel spricht, ist nicht eine auf irgendeiner Uhr abzulesende, es ist die Zeit, die, wenn ich so sagen darf, die Weltuhr geschlagen hat, die Stunde des metyphysischen Schicksals.
Wie gesagt, das ist der Hintergrund, und es scheint mir wichtig, auf diesen Hintergrund aufmerksam zu machen. Vordergründig, oder sollte ich sagen: in Mittelgrund? entwickelt Döhl das eigentliche Spiel. Er läßt zwei Sprechpaare zu Wort kommen. Das eine besteht aus dem Herrn Fischer und seiner Frau, erstarrt in den Klischees gutbürgerlicher, wie Ludwig Ehrhard es nannte, Konvention. Im Gegensatz zu dem Märchen, das der Titel assoziiert, ist jedoch keiner der Ehepartner wirklich unzufrieden, gibt es nicht den Butje in de See, der alles gewährt bis an die Grenze der Gottgleichheit, und macht auch nicht die Frau Karriere, sondern der Mann. Das Märchen spielt sozusagen in Anführungsstrichen mit, seine Motive werden frei verwendet. Der letzte Wunsch der Märchen-Fischerfrau, nämlich wie der liebe Gott werden zu wollen, spiegelt sich im Hörspiel in dem Wunsch der Frau Fischer, die Langeweile durch Gotteslästerung zu unterbrechen. Aber Herr Fischer belehrt sie mit Recht, daß sich dadurch nichts Neues ergeben würde. Ionesco und Beckett haben diesem Fischerpaar natürlich ein wenig Pate gestanden.
Den Eheleuten Fischer ist ein zweites Paar entgegengestellt, ein Mann und eine Frau, die sich treffen, miteinander reden, zusammen bleiben, sich lieben, wieder miteinander reden, an die Grenze der Langeweile geraten bis zum großen Monolog des Mannes, nach dem sie beschließen, es auf sich zu nehmen, was immer dieses es auch sein möge. Dies zweite Dialogpaar ist ganz aus einer alltäglichen, ja banalen Redesituation entwickelt und läuft für sich weiter. Der Dialog blendet an einer bestimmten Stelle in die Erinnerungen der Frau Fischer ein, ist aber nicht mit dieser Erinnerung identisch. Er spiegelt etwas, das den Fischers abhanden gekommen ist und von dem sie nicht wissen, ob es überhaupt einmal da war.
Dies Überblenden zweier Duette, um es einmal in einer musikalischen Terminologie auszudrücken, ist vielleicht das Bezeichnendste an Döhls Hörspiel. Das wird nicht aus der Situation heraus motiviert, auch nicht in einer entfernteren allegorischen Ableitung. Die Stimmführung geschieht allein in der Sprache. Das Hin- und Herreden führt zu Stichworten, an die andere Stichworte angeschlossen werden können. Der Mann des zweiten Paares sagt einmal: Sie sollten nicht mehr daran denken. Denken Sie einfach nicht mehr daran. Nehmen Sie ein anderes Stichwort auf. Darum geht es im Grunde: um das Aufnehmen von Stichworten, um das Erkennen von Stichworten, um die Verzweiflung, mit der man nach Stichworten suchen muß. Daraus entwickelt sich das Gerede der Stimmen, daraus entwickelt sich das Spiel der Stimmen.
Bezeichnend ist auch, daß bei aller inhaltlichen Banalität die Duette nicht auflösbar scheinen, selbst die monologisierenden Partien sind auf einen Partner gerichtet, haben Leerstellen, die für einen Partner ausgespart scheinen. Das, was dabei herauskommt, ist jedoch kein Bühnen- oder Handlungsdialog. Das Gesagte hat die Form der Mehrstimmigkeit. Und vielleicht liegt bereits da die Antwort, die unausgesprochen und unaussprechbar den Hintergrund aufhellt. So verloren der Klang der einzelnen Stimme auch erscheinen mag, keine dieser Stimmen ist völlig allein. Wenn Angst mitspielt, unerklärliche und sozusagen existentielle Angst, wenn das Ende des Herrn Fischer, ehe die Spieluhr, neu aufgezogen, wieder zu schnurren anfängt, in kolportagehafter Übertreibung diese Angst zu fixieren versucht, in aller Verlassenheit bleibt das Reden der anderen Stimme daneben hörbar.
[1968; zuerst als Radio-Essay im WDR III, 8.2.1968 gesendet. Druck in: "Almanach 2 für Literatur und Theologie", 1968; gekürzt in Klaus Schöning: "Neues Hörspiel. Texte Partituren", 1969]