Wie bitte, stellt man 2500 Postkarten aus? Die Frage bewegt uns seit einem Jahr. 2500 Postkarten, jede ist 104 mm breit und 162 mm lang, hat eine Vorderseite und eine Rückseite.
Wir dachten daran, die Karten zu Wegen durchs Palais zu legen, Lebensspuren gleich, sie - bedeutungsschwer - zu Bergen zu stapeln, oder aus ihnen Wurfsendungen zu machen, Vergänglichkeit zelebrierend.
Sicher wußten wir nur eins: Wir wollen diese Postkarten, Mailart von Reinhard Döhl seit den 60er Jahren, zeigen. Von Döhl, der Wissenschaftler ist, Künstler, Schriftsteller, der in Stuttgart lebt und in der ganzen Welt, der Teil der Stuttgarter Schule ist und sich als Botnanger immer wieder an den Grenzen der Stadt stößt.
Heute können Sie sich umschauen, wie aus 2500 Postkarten in dieser Ausstellung Bildfriese entstanden, Zeitfriese, Ideenfriese, witzig und wütend, poetisch und frech, geschrieben und gemalt, collagiert und immer wieder collagiert.
Im Foyer hängt die Kollektion der Grafischen Sammlung [korr. aus: Staatsgalerie]. 1989 bis 1992 schrieb Döhl an Ulrike Gauss Tag um Tag eine Postkarte. Die Kette der Botschaften, Notizen, Gedanken, Impressionen können Sie in der Chronologie des Entstehungsprozesses verfolgen.
Im Treppenhaus sehen Sie Korrespondenzreihen, an Wolfgang Ehehalt gerichtet, in Kunststoff geschweißt. Vorsichtig werden diese Karten im Luftzug bewegt, vorsichtig, denn hier zeigen sich die Karten auch von ihrer möglicherweise intimen Seite. Man kann sie lesen und tut es auch - so wie man verschämt fremde Post liest.
Bei der Präsentation im 1. Obergeschoß wurden die Karten bewußt aus der Chronologie genommen und zu Bildern gelegt, Ein neuer Blick auf eine neue Variante des riesengroßen dialogischen Kartenspiels.
Dialog, das ist eine zentrale Idee im Schaffen von Reinhard Döhl. Döhl sucht den Dialog heftig und unermüdlich, er sucht ihn auf der ganzen Welt, auf allen Ebenen, in allen Medien, von der Postkarte zum Internet. Er stiftet zu Gemeinschaftsproduktionen an, wo es möglich ist und auch wo es nicht möglich ist.
Lassen Sie sich einfädeln in Kettengedichte oder schreiben Sie mit an Döhls und unseren Internetskulpturen zu Gertrude Stein und Helmut Heißenbüttel.
Zunächst aber mögen Sie bestimmt durch die Ausstellung spazieren, die komponiert wurde von unserer Ausstellungsleiterin Gabriele Ott-Osterwold mit ihrem Team und natürlich Reinhard Döhl.
Sie werden künstlerische Dialoge entdecken und dialogische Kunst. Wird das ästhetische Spiel gewinnen? Die Frage stellt sich. Sie sind eingeladen, eine Antwort zu finden. Schicken Sie uns Ihre Postkarte oder eine e.mail. Erste Post ist schon da...
Zur weiteren Inspiration hören Sie nun "Dialoge oder das Stuttgarter kleine Kartenspiel" von und mit Reinhard Döhl.
Ich wünsche Ihnen dialogische Vergnügen.
[Wilhelmspalais Stuttgart, 4. September 1996]