Laut Ansage hat Reinhard
Döhl sein Hörspiel "Die Mauer oder Morgen ist auch noch ein Tag"
Anfang der sechziger Jahre geschrieben. Wenn es gleichzeitig der Kategorie
der experimentellen Weiterführung des konventionellen Hörspiels
zugerechnet wird, so stellt es, gemessen am derzeitigen Stand des stereophonischen
Hörspiels bestenfalls eine Frühform desselben dar.
Allerdings ist der zunächst
vorherrschende Eindruck, daß es sich um ein Hörspiel herkömmlichen
Stils handelt, bei der "Mauer" vorwiegend auf ein äußeres Merkmal
zurückzuführen. Reinhard Döhl bedient sich eines altbekannten
Mittels der dramatischen Dichtung, der Teichoskopie. Man kann noch weitergehen
und feststellen, daß die Mauerschau. der eigentliche Dreh- und Angelpunkt
für den Ablauf des Hörspiels ist. Dabei avanciert die Mauer zum
Objekt des Beobachters; es werden ihr Entstehen, ihr Wachsen und schließlich
die Folgen ihrer Existenz geschildert. Im klassischen Drama ist sie lediglich
der Standort des Beobachters, von wo aus dieser eine für den ZuSchauer
unsichtbare Handlungsphase schildert, weil deren Kenntnis für die
logische Weiterentwicklung des Dramas unerläßlich ist.
Genaugenommen handelt es sich hier also weniger um eine "Mauerschau", sondern um die Beschreibung eines Mauerbaues, der von zwei Beobachterpaaren (Mann 1, Frau 1 und Mann 2, Frau 2) geschildert wird. Ihre Standorte, dieFenster ihrer Wohnungen, sind so gewählt, daß der eine diesseits, der andere jenseits der Mauer liegt. Es besteht vom Beginn des Hörspiels an kein Zweifel darüber, daß es sich um die Berliner Mauer handelt. Obwohl der aktuelle politische Aspekt des geschilderten Vorganges gänzlich außerachtgelassen ist, weiß der Hörer auch aus den sprachlich bis zur Abstraktion reduzierten Formulierungen der korrespondierenden Berichte ohne jede Schwierigkeit, worum es sich bei "der Mauer" handelt. Die Berichtsdialoge von "hüben und drüben" sind mit äußerster Sorgfalt aufgebaut, die penetrante Genauigkeit und Sachlichkeit der Beschreibung von Ort und Handlung ist mit schärfster Logik ausgedacht und erreicht ohne jede Verkrampfung den erstrebten Effekt: Von beiden Seiten betrachtet liegt das eigentliche Politikum nicht in der einseitigen Begründung oder Infragestellung des unseligen Bauwerks, sondern in den allgemeinsten Folgen, die es für die Menschen diesseits und jenseits der aufgetürmten Steine hat. Damit zielt Reinhard Döhls "Mauer" gleichzeitig auch auf den Fatalismus ab, mit dem Zeit und Gewöhnung Wunden zu heilen pflegen. Raoul Wolfgang Schnell führte Regie bei der stereophonischen Realisation des Stückes. Von einer zweiten akustischen Ebene her verstärkte er noch durch klimatische Zutaten die schon im Text gegebene Möglichkeit der genauen Lokalisierung der Mauerberichte.
[Funk-Korrespondenz Nr. 43,
23.10.1969]