Joachim Kuolt
Einführende Bemerkungen zur Ausstellung "Reinhard Döhl: foto / bild" anläßlich der Ausstellungseröffnung am 28.9.1997 im Stuttgarter "Treffpunkt Rotebühlplatz"
mir wird immer rätsel/zweifelhafter, warum ich so unbedingt fotografieren wollte. eine illustration der welt ist nicht möglich und illustrierte bilden die welt nicht ab.
was bilden fotos ab? die wirklichkeit? einen ausschnitt der wirklichkeit? skepsis ist angebracht. zu vieles zeigt sich nicht.
Diese beiden Zitate aus Reinhard Döhls Notizbüchern der frühen 60er Jahre scheinen mir ein geeignetes Motto für die Ausstellung zu sein, zu deren Eröffnung ich Sie heute hier im Treffpunkt Rotebühlplatz begrüßen darf. Denn, um ein mögliches Mißverständnis gleich auszuräumen: "foto / bild" ist – auch wenn der Ausstellungstitel dies auf den ersten Blick suggerieren mag – keine Fotoausstellung. Und Reinhard Döhl war und ist kein Fotograf, auch wenn er in den 50er Jahren viel, ernsthaft und mit Leidenschaft, und immer wieder auch mit überraschenden Ergebnissen fotografiert hat. Mitte der 50er Jahre bewarb er sich sogar mit seinen Fotos an der Hamburger Kunstakademie, wurde aber nicht angenommen: zu sehr sperrten sie sich gegen die Einordnung in eine der damals üblichen Schubladen für 'richtige' Fotografie. Döhls Fotos sind, um eine Formulierung von Rolf H.Krauss aus dem einleitenden Essay des Ausstellungskatalogs zu gebrauchen, keine kanongerechten Amateuraufnahmen (also aufgebaut nach den Regeln des goldenen Schnitts und möglichst scharf), sie sind "auch keine Beispiele für eine künstlerische Fotografie und mit wissenschaftlicher Fotografie haben sie schon gar nichts zu tun. Sie sind unscharf und verwackelt, [...] sie beschäftigen sich mit banalen Motiven, [...] die Bildkompositionen sprechen jeder bildmäßigen Vorstellung Hohn; [...] die gewählten Ausschnitte sind kühn und ungewöhnlich.

Anfang der 60er Jahre gab Döhl das eigene Fotografieren auf. Er mißtraute zunehmend – die einleitenden Zitate belegen es – dem vordergründigen Realitätsanspruch der Fotografie. Dies geschah auch unter dem Einfluß der Lektüre von Walter Benjamins berühmtem Essay über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in dem Benjamin durchaus zwiespältig – oder vielleicht sollte ich sagen dialektisch - der Fotografie einerseits die Qualität eines eigenständigen Produktionsmittels zugesteht, sie aber auf der anderen Seite als bloße Reproduktionsmaschinerie abqualifiziert.

Dennoch hat die Fotografie, sowohl die eigene als auch die anderer Fotografen, einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert im und für das Gesamtwerk Reinhard Döhls. Dies möchte ich im folgenden kurz beleuchten. Wenn Sie sich nachher die Ausstellung ansehen, werden Sie rasch feststellen, daß Bildinhalte und formale Aspekte der eigenen frühen Fotografien auch in den anderen, durchweg späteren Arbeiten Döhls wieder auftauchen. Die sieben jeweils durch zwei Fotografien repräsentierten Themenbereiche Portrait, Stadt, Landschaft, Kreuz, Lampe, Strukturen und Kalligraphisches lassen sich unschwer in anderen Arbeiten der Ausstellung wiederfinden. Das heißt, daß die frühen Fotografien – ich zitiere noch einmal Rolf H.Krauss – gleichsam eine Art Fundus darstellen, in dem bereits fast alle Themen des bisherigen Gesamtwerks wie in einem Nukleus versammelt sind. Man könnte auch sagen, Döhl habe seine Kamera gleichsam als Notizbuch benutzt und sich mittels seiner eigenen Fotografien eine Vorratssammlung von Inhalten und Formen zugelegt, die er später mit anderen künstlerischen Mitteln wieder aufgegriffen und bearbeitet hat. Dies ist der eine Aspekt für die Berechtigung des Ausstellungstitels "foto / bild".

Und noch auf andere Art spielt die Fotografie für Döhls Werk eine Rolle, indem er nämlich vorgefundenes fotografisches Material auf verschiedene Arten bearbeitet, verändert, verfremdet; wobei dieses Verändern und Verfremden angesichts der erwähnten Skepsis gegenüber dem Realitätsanspruch der Fotografie in einem dialektischen Sinn Realität schaffen soll (hierzu die Fortsetzung der zweiten eingangs zitierten Aussage aus den Notizbüchern: doppelbelichtungen sind keine falschen/schlechten fotos sondern deuten etwas von der mehr/vielschichtigkeit der wirklichkeit an. verwackelte fotos halten bewegung fest, unscharfe fotos die unschärfe(n)relation. fotos verändern heißt wirklichkeit herstellen. Hiermit ist der zweite Aspekt angesprochen, der uns den Titel "foto / bild" nahelegte.

Die heute zu eröffnende Ausstellung und der dazu erschienene Katalog stehen im übrigen in einem gewissen Zusammenhang mit der Ausstellung "Werkgruppen der 60er und 80er Jahre", die im Frühjahr 1990 in der Städtischen Galerie Wendlingen zu sehen war, und dem dazugehörigen Katalog mit dem Titel "bilder / buch". Auch in unserer Ausstellung wird neben dem Aspekt Fotografie mehrfach deutlich, daß Reinhard Döhl als Künstler von der Literatur, von den Texten, und den aller Literatur zugrundeliegenden Zeichen, den Buchstaben, Hieroglyphen, Piktogrammen, herkommt. Dies mag auch – zumindest teilweise – daran liegen, daß Döhl aus einem pietistischen Elternhaus mit der dafür üblichen Bilderfeindlichkeit stammt (was wiederum auch die Faszination des Fotografierens erklärt). Es zeigt sich einerseits etwa, wenn er über die geflochtenen Foto-Porträts sagt, sie seien auf diese Art durchlässig wie ein text. ich nenne diese geflochtenen fotos texte. [...] ich habe diese texte gefunden, wo ich sie nicht vermutet habe. ich lese fotos. Zum andern finden sich auch in dieser Ausstellung Arbeiten, die mehr oder minder deutlich schriftkünstlerischen Charakter haben, wobei sie allerdings ästhetisch nicht so sehr der europäischen kalligraphischen – also schönschreibenden - , sondern mehr der japanischen Sho-Tradition nahestehen, die eher den richtigen Ausdruck, wenn Sie so wollen, die Darstellung der Seele eines Begriffs in den Vordergrund rückt. Hier schließt sich der Kreis dann auch insofern, als daß so gut wie alle Zeichen der verschiedenen, von Menschen je benutzten Schriftsysteme letzten Endes auf Bilder zurückgehen.

In den Arbeiten aus dem "Skizzenbuch zu den Kreuzwegstationen" schließlich werden Texte als Bildelemente eingesetzt bzw. den bildnerischen Elementen gegenüber gestellt, womit sich Döhl in gewisser Weise wieder der literarischen Avantgarde-Bewegung der konkreten und visuellen Poesie der 60er Jahre nähert, zu deren 'Gründervätern' und Hauptvertretern er ja gehört(e).

Und noch in anderer Hinsicht haben die Wörter eine wichtige Funktion für die Bilder, indem nämlich die Bildtitel häufig ganz wesentliche, zuweilen für die Bildidee geradezu konstitutive Bestandteile derselben sind; ich verweise hier stellvertretend auf die Arbeiten "Das Kreuz mit der Kirche" oder auf die Collagen-Mappe, deren Titel man entweder als Stuttgarter Leben oder Stuttgart erleben lesen kann.

Reinhard Döhls bildkünstlerische Arbeiten, zumal die im Spektrum zwischen schwarz und weiß gehaltenen, sind in der Mehrzahl intellektuell geprägt: ihr Wechselspiel von Ernsthaftigkeit und Humor erschließt sich beim genaueren Hinsehen, auf den zweiten oder dritten Blick. Von unmittelbarerer sinnlicher Wirkung sind die farbigen Aquarelle. Aber auch sie lohnen den zweiten oder dritten Blick.

9/97