Franz-Norbert Piontek | Poetenwinkel im Internet vernetzt die Szene
Professor Reinhard Döhl hat eine Anthologie über in Schwaben lebende Autoren aufgebaut

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Stuttgart - In Internet gibt es nicht nur Schmuddelecken. Viel ist zu entdecken, sogar Poesie.So auch einen Stuttgarter Poetenwinkel: "Der und die Stuttgarter Schule sind zwei reproduktive Netzgeschichten", erzählt Reinhard Döhl, emeritierter Universitätsprofessor aus Stuttgart.

Unter der Adresse www.Reinhard-Doehl.de schauen namhafte Literaten vorbei: Eduard Mörike, Christian Friedrich Daniel Schubart, Theodor Heuss, aber auch Sebatian Blau. "Der Zugriff ist erstaunlich", sagt der 66-jährige Döhl. "Im Monat etwa 1700 Mal - und das weltweit."

Zusammen mit Johannes Auer von der Stuttgarter Stadtbibliothek hatte Döhl, in Personalunion Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Hörspielautor und Maler, dem Internet literarische Weihen erteilt: aus Ärger, weil die geistigen Freunde zum 75. Geburtstag des inzwischen verstorbenen Helmut Heißenbüttel (1921-1996) nicht eingeladen wurden.

"Wir machen die erstaunlichsten Funde", berichtet Döhl, "Alles kann ausgetauscht werden." So findet im Netz eine Verknüpfüng zwischen unterschiedlichen literarischen Strömungen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt statt. "Es gibt die Mundartdichter, die um den leider verstorbenen Johannes Poethen, und die experimentellen", listet Döhl auf. "Im Netz können wir alle zusammenfügen."

Nicht minder beliebt im Netz ist die Rubrik "Als Stuttgart Schule machte" unter www.stuttgart.de mit dem Link Stadtbücherei. "Da kommen wir auf 800 Zugriffe im Monat", so Döhl. Dort ist ein Kapitel Literaturgeschichte präsent, das in der Stuttgarter Offentlichkeit fast vergessen ist: die Gruppe Stuttgarter Schule, die sich Mitte der 50er Jahre um den Philosophen Max Bense (1910-1990)scharte, bahnbrechend in der Konkreten Poesie und Kunst war. Dazu zählt neben Heißenbüttel und Ernst Jandl auch Döhl.

Als im Jahre 1959 der Computer noch als bessere Rechenmaschine galt, setzte sich diese Künstlergruppe dran, um ihn Kultur einzuhauchen. "Wir wollten dem beibringen zu dichten - und haben ihm das beigebracht. Ich habe keine Berührungsängste mit dem Computer. Wir fingen mit Grafiken am Rechner an", erzählt Döhl.

So schloß sich mit der Literaturoffensive im Netz ein Kreis: "Wir knüpften da an, wo wir damals aufgehört haben." Und diese Aktion wird beachtet. So gab es Präsentationen in Konstanz und auf den Solothurner Literaturtagen. Der gesundheitlich angeschlagene Döhl verpackte in den vergangenen Monaten seine ganzen Bilder, Gedichte und wissenschaftlichen Publikationen und übergab den Nachlass der Akademie der Künste in Berlin. "Meine Koje ist neben Heißenbüttel, Walter Jens und HAP Grieshaber. In Marbach habe ich beim Deutschen Literaturarchiv vergebens angefragt", sagt er bitter. Erstmals werde in Berlin auch sein ganzes Internetarchiv gespeichert bleiben. Für Stuttgart sei dies ein Verlust: Denn nun müsse man nach Berlin, nach Brasilien, Japan, nach Prag und nach England reisen, um mehr über die Stuttgarter Schule zu erfahren.

Mit einiger Wehmut sieht Döhl auf die Entwicklungen im Internet. Was da im Busch ist, ist so revolutionär wie die Erfindung des Buchdrucks", sagt Döhl. "20 Jahre jünger, eine Villa mit lauter Computern und zur Erholung eine konventionelle Bibliothek - das wäre schön!"

Ludwigsburger Kreiszeitung, 6.10.2001