Die Inszenierung wurde gemeinsam mit den Studierenden während der Proben erarbeitet. Bedingt durch die im Regelstudienbetrieb parallel stattfindenden Pflichtveranstaltungen und Püfungen konnten während des Sommer 1994 nur wenig Unterrichtseinheiten zur Projektarbeit genutzt werden.
Insgesamt standen zwei Wochen zu Beginn und eine Woche am Ende der Semesterferien zur Verfügung.
Die Studierenden arbeiteten empirisch. Gespräche, welche die künstlerische Arbeit begleiteten, machten gleichzeitig den intellektuellen Wert des gesamten Projektes für die Studierenden erfahrbar. Sie hatten die Möglichkeit, durch stückbezogene Improvisationen selbst ein Ergebnis zu finden. Ein Grobraster gewährleistete, daß sich trotz der knappen Zeit ein schlüssiges Konzept entwickeln konnte.
Wir gingen von den spezifischen Gegebenheiten des Konversationsstückes aus: d.h. kein Schauspiel im engen Sinn, sondern eine Wortkomposition im Form einer Wortsonate in vier Sätzen und einem Aprèslude. Das Thema ist die Identität. Reinhard Döhl hat bereits mehrere Komversationsstücke geschrieben. Dieses jedoch speziell für den letzten Teil der Gertrude-Stein-Trilogie.
Ein wesentliches Element des Stückes ist der klassische griechische Chor. Er treibt die Gespräche voran, er erzählt die Biographien der drei Frauen, er kommentiert Ereignisse, er schafft Atmosphäre, er spielt den advocatus diaboli, er zieht das Fazit: darum gibt es keinen möglichen weg des entkommens.
Die Rolle des Chores als advocatus diaboli wurde durch die Übertragung der entsprechenden Stellen der Chortexte auf einen Chorführer deutlich gemacht.
Gegenspielerinnen des Chores sind die Sprecherinnen. In Assoziationsketten reihen sie ein Ereignis an das andere, sie sprechen miteinander, zueinander, gegeneinander und auch an einander vorbei.
In der fiktiven Konversation (Quasidialoge) geht es um die Wesenheiten der beiden Künstlerinnen Gertrude Stein und Else Lasker-Schüler und um die Wesenheit der Lebenspartnerin Steins, der Frau, Alice B. Toklas, sowie um die inneren und äußeren Möglichkeiten, die künstlerische und die jüdische Wesenheit auszuleben.
Gertrude Stein tut dies in Frankreich, Else Lasker-Schüler versucht es in Deutschland. Alice B. Toklas erlebt ihre Wesenheit als Frau und als Lesbierin.
Das Schau-Spiel, welches sich dem Zuschauer darstellt, ist die ähnlichkeit, wie es im Stück heißt, und das gesprochene beispiel ist ein zeichen.
Dieses gesprochene Beispiel einer fikltiven Begegnung endet mit den letzten verbürgten Worten Gertrude Steins: was ist die antwort - in diesem fall was ist die frage.
Der Hauptakzent der Inszenierung liegt auf dem gesprochenen Wort. Das sprachliche Zeichen steht im Vordergrund. Andere theatralische Zeichen, die kinesischen Zeichen, die Zeichen des Raumes, die non-verbalen akustischen Zeichen und die Zeichen der äußeren Erscheinung sind sparsam verwendet. Jedoch spielen Zeichen generell in der Inszenierung eine wichtige Rolle.
Der Davidsstern bestimmt als optisches Zeichen den Bühnenraum und definiert das Spiel. Durch Stühle ist in den 12 Schnittpunkten die Möglichkeit gegeben, das Thema, "die reise nach jerusalem", zu spielen. Das 'Seßhaft-werden' und das 'Den-Besitz-aufgeben', das 'Vagabundieren' wird sichtbar. Dabei sind mit dem Davidsstern einerseits Beziehungslinien gegeben, auf denen sich die Sprecherinnen bewegen können, andererseits gibt es ein Zentrum, in das man eintreten und aus dem man heraustreten kann. So kann sich über Umweg und Rückwege das Imaginäre entfalten.
Symbolisch wird mit dem Davidsstern als Zeichen auch das Medium Schrift, d.h. das Urmaterial der Schrift auf die Bühne gebracht: die Fläche. Als das der Schrift zugehörige Schreibinstrument fungiert in diesem Fall die Stimme.
Dem Davidsstern ist mit einem Spiegel ein weiteres optisches Zeichen hinzugefügt. Er ist für Alice B. Toklas und für Else Lasker-Schüler ein wichtiges Requisit. Er steht als Symbol für die Leere. Ein Meister des Tao vergleicht den Spiegel mit dem menschlichen Geist. Er sagt: Der Geist des vollkommenen Menschen ist wie ein Spiegel. Er hält nichts fest, aber er weist nicht ab. Er nimmt auf, aber er hält nichts.
Die nonverbalen Zeichen werden besonders im dritten Satz deutlich. Er reiht Ereignisse aneinander. Diese Ereignisse sind kleine Abenteuer, Gertrude Stein und Alice B. Toklas berauschen sich z.B. in der Eßszene fast an den Worten, die sie zur Schilderung dieser Ereignisse benutzen.
In den Texten Gertrude Steins und Else Lasker-Schülers geht es nicht um Erzählen und Beschreiben, sondern um das Sichtbarmachen einer geraden Spur, frei von jeglichem sich Schlängeln. Diese Ereignisse sind gewissermaßen ein Schnitt, in die Zeit gezogen. Die Definitionen drücken sich primär in der stimmlichen Geste aus. Die Sprecherinnen/Spielrinnen stellen die drei Frauenfiguren nicht dar, sie bedeuten vielmehr diese Frauenfiguren.
Durch die Collage von Texten Steins und Lasker-Schülers ernstehen Eindrücke, welche in ein Ergriffensein von der 'Sache' als Ereignis umgesetzt werden: es war morgen was gestern war - eine Erinnerung an die Zukunft.
Die sprachlichen Zeichen haben im, Konversationsstück, wie schon erwähnt, eine starke Wertigkeit.
Die sprachliche Gegenüberstellung der Schriftstellerinnen Gertrude Stein und Else Lasker-Schüler im Spiel Reinhard Döhls bietet die Möglichkeit, mit Sprache nicht nur als Symbolsystem umzugehen. Die Sprache als reines Kommunikationsmittel und als Mittel zu sozialen Kontakten stellt sich in Frage. Die Erkenntnis, welche Möglichkeiten Sprache nicht enthält, ist nachvollziehbar. In Sprache kann sich auch Unbegreifliches erkennbar machen. Es zeigt sich, daß die Systematik des Unbegreifbaren erlernbar ist. Das Stück bietet die Möglichkeit, unsere Wirklichkeit in einer anderen, neuen Art von Syntax, der Sprache, zu erfahren. Neue Landschaften der Sprache können entdeckt werden.
Die Herausforderung ist, Sprache nicht nur als Möglichkeit zu benutzen, Inhalte zu vermitteln, sondern der gesprochenen Sprache einen Rhythmus zu geben, den Inhalt in Rhythmus aufzulösen und umzuformen, eine fixierte Sprache zum Raum eines Spiels zu machen.
Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich das Bedürfnis, in der Inszenierung mit Zeichen zu arbeiten.
Die verschiedenen theatralischen, speziell die sprachlichen Zeichen unter dem Gesichtspunkt der Sinngebung durch Sinnentleerung, waren Schwerpunkte in der Vorgabe des Rasters für die Inszenierung.
Gertrude Stein, Alice B. Toklas und Else Lasker-Schüler werden nicht auf die Bühne gebracht, um dem Zuschauer im traditionellen Sinn 'Leben' und 'Wirklichkeit' vorzutäuschen.
Beide Autorinnen haben die zeitgenössische Literatur geprägt. Die Art ihres Schreibens ist zeichenhaft. Beide bringen gewissermaßen das Subjekt ins wanken. Durch die Sinnbefreiung und Sinnentleerung wird der Zuschauer angeregt, den verbrauchten Worten neuen Sinn zu geben.
Gertrude Stein und Else Lasker-Schüler bewirkten eine Umwälzung der Sprache. Döhl läßt sie, die sich zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind, sich begegnen. Durch diese Begegnung entsteht auch eine Begegnung zweier Jüdinnen. Beide lebten ihr Judentum und ihre Kunst auf der Basis ihrer Entität/Identität unterschiedlich aus.
Gertrude Stein leistete in der politischen Situation ihrer Zeit Widerstand dadurch, daß sie nicht floh. Else Lasker-Schüler konnte nicht wählen. Sie mußte bleiben und fragte warum eigentlich? Sie beging Weltflucht.
In der fiktiven Begegnung der beiden Autorinnen, in der Begegnung von zwei gegensätzlichen und auch wieder ähnlichen Arten des Schreibens, durch zwei 'Sprachen' kommt es zur "reise nach jerusalem".
Deutlich zeigen sich im Gespräch der drei Frauen die Zeichen der Gewalt. Und gerade durch die 'Erschütterung des Sinns' im sprachlichen Bereich entsteht im Stück eine Wachheit, eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Wort 'Gewalt'.
was ist die antwort. in diesem fall, was ist die frage, endet das Stück mit den Worten Steins.
[1994, aus Programmheft zur Uraufführung von "Es war morgen was gestern war [...]"