Was man vorgestern, d.h. vor ungefähr hundert Jahren, las, vorlas, sang und liebte - spukt es noch immer in den Köpfen, prägt es etwa sogar noch immer die Erwartungen, wo man heute schlicht genießend, sich willig einfühlend liest und hört und zuschaut? Gewiß, auch in den besseren und guten Häusern treten zum Fest, sei's Weihnachten, Geburtstag oder irgendeine Party, keine Puppenspieler mehr auf; überall hat man ja, wenn es sich auch sehr viel verwirrender darstellt, Entsprechendes auf Wunsch per Knopfdruck parat. Gouvernanten, Muhmen, Elfen, Edelknaben, Heilige und Göttinnen haben ebensowenig noch unmittelbare Gegenwärtigkeit wie Oberförster, Hüttenmeister, Barone, Medizinalräte oder Anspielungen aufs Zigeunerblut noch unmittelbare soziale Signifikanz. Was aber bedeutet das schon. Die Rollen, die solche Etiketts, solche Figurinen spielen, die Funktionen, die sie innehaben, sind - sogar in angegilbtem Zustand - schon deshalb faßlich und vertraut geblieben, weil die Situationen, in denen sie einst aufgetreten sind, noch immer einander ähneln: Situationen süßer und schrecklicher Angst, schlimmer Krankheit, festlicher Erwartung und musikgetragener Erhebung, winterlicher Waldeslust, geselligen Kunstgenusses, romantischer Emphase. In der Vorstellung ungezählter Menschen sind die Figurinen Aspekte dieser Situationen selbst. Aus der Nähe gesehen oft genug recht alltäglich und banal, werden die Situationen erhoben und veredelt durch das Dekor einer vergangenen Zeit, gewinnen sie durch dieses erst Glanz und Bedeutung. Nostalgie erleichtert, belebt, illuminiert und stiftet Vertrauen. Schon deshalb behalten ihre durch Literatur, Musik und Unterhaltungen anderer Art tradierten Versatzstücke, behält die Menge oder Summe dieser Versatzstücke eine eigenartige Realität.
Ein Ausschnitt dieser Realität bot das Material, aus dem Reinhard Döhl sein neues Hörspiel "Ach, Luise, laß..." als "Komposition für den Wörterfunk in sieben ausgewogenen Sätzen" arrangiert hat. Ein begrenzter, nach bestimmten Vorgaben begrenzter Ausschnitt. In jedem der Sätze geht es um Vorstellungen vom Leben der Mädchen und Frauen. Wer seinen Theodor Fontane halbwegs in Erinnerung hat, merkt bald, daß einige von Fontanes Romanen Haupflieferanten waren für das verwendete Material. Aber nicht nur aus ihnen stammen die Zitate, die Reinhard Döhl nach bestimmten Situationen neben- und gegeneinander gestellt und mit Musikzitaten von Chopin bis Wagner, von Beethoven und Schubert bis Humperdinck durchsetzt hat. Auch einige literaturgeschichtlich weniger hoch notierte Romane des 19. Jahrhunderts sind einbezogen, Frauenromane offensichtlich der Marlitt.
Reinhard Döhl ist mit seinem Vorrat an Zitaten, die er um spezifische Situationen des Frauenlebens geordnet hat, nicht analytisch, nicht deskriptiv, sondern scheinbar einverständig und spielerisch umgegangen. Zurückhaltend, auf sympathische, anregende Weise betulich, sich des attraktiven Widerspiels von Signifikanz und Kuriosität im Nebeneinander der Zitate bewußt, hat er sich einen Spaß gemacht und will er Vergnügen machen. Ohne damit irgendwo eine jener Absichten zu verfolgen, die, wenn man sie merkt, verstimmen, setzt er auf zufällige und doch kennzeichnende Assonanzen, auf partielle Spannungen und kleine Widersprüche, auf die Wirkungen, die aus der Häufung ähnlicher Aussagen entstehen, auf den verdeutlichenden Reiz der Wiederholung. Dabei erhellen sich manche Antiquiertheiten und die bis heute wirkende Stabilität mancher Situationen gegenseitig, was eine ganz ungewohnte, geradezu zelebrale Art von Situationskomik ergibt. Hans-Gerd Krogmann, der Regisseur des Hörspiels, akzentuiert dies dadurch, daß er kleine Einbrüche des Aufnahmezustands, der Stimmung im Studio während der Aufnahme des Hörspiels in dieses selbst hereingeholt hat. Das verdeutlicht die Eigenart des in ihm praktizierten Spiels, akzentuiert seinen besonderen Witz, gibt einen Hinweis auf die in diesem Fall angemessene Art und Weise des Zuhörens.
Um das Hörspiel "Ach, Luise, laß..." zu verstehen und genießen zu können, sind spezielle Vorinformationen, einführende Erläuterungen längst nicht mehr unentbehrlich. Aber sie sind auch nicht gerade von Schaden. Man hat mehr von dieser "Komposition für den Wortfunk in sieben ausgewogenen Sätzen", wenn man weiß, daß Fontane und die Marlitt Anteil an ihr haben, und welchen. Es steigert sicher das Vergnügen, wenn man diesen Anteil ohne weiteres selbst erkennt. Das aber ist in einer von Pluralismus auch in Bildungsfragen konstituierten Gesellschaft nicht blindlings zu erwarten.
Die Utopie der konkreten und experimentellen Literatur und Poesie der 60er Jahre, von der Reinhard Döhl herkommt, auch des "Neuen Hörspiels", in dessen Tradition Döhl als Hörspielautor steht, war, daß die Gesellschaft zunehmend sich auch des Faktums bewußt werden könne, der kulturelle Überbau, das Sprachspiel, in dem und mit dem sie lebt, seien ebenso real wie alle anderen Faktoren menschlichen Lebens, und sie deshalb zunehmend ins praktische Bewußtsein einholen werde.
Das ist Utopie geblieben. Solchem Bewußtsein nähern die Menschen sich offenbar phasenweise nur ein wenig an, um sich von ihm wie zwanghaft wieder zu entfernen. Schon länger entfernen sie sich wieder von ihm.
Auch Reinhard Döhl hat daraus Konsequenzen gezogen, und zwar indem er mit seinen Zitaten ans sehr viel bessere Gedächtnis für faßliche Situationen appelliert und statt aufs analytische aufs differenzierte Unterhaltungsbedürfnis setzt. Wie gesagt, "Ach, Luise, laß..." macht sicher auch bei unvorbereitetem Hören Vergnügen. Und doch steckt, wie selbst heute Herkunft und Entwicklung, mehr dahinter. Immer noch macht es Sinn, sich dessen zu erinnern. Umsomehr, als Reinhard Döhl einer der wenigen Autoren ist, die direkt mit Forschung und Lehre kooperieren. Er lehrt Literatur an der Universität Stuttgart. Nach Anfängen mit konkreter Poesie hat er seit Ende der 60er Jahre außerdem nicht nur insgesamt acht Hörspiele herausgebracht, sondern in vieljähriger Arbeit für den WDR auch eine "Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen" entwickelt, die in diesem Jahr abgeschlossen werden soll. Bei aller Lust am erhellenden und unterhaltsamen Spiel mit historischen Zitaten, die auch heute noch etwas bedeuten, ist doch nicht anzunehmen, daß er seine theoretischen Vorkenntnisse und Interessen aufgegeben hat. Und das ist auch nicht der Fall. In einigen Anmerkungen zum Hörspiel "Ach, Luise, laß..." hat Döhl selbst den Zusammenhang angedeutet:
In den 60er Jahren beschäftigte mich ein Projekt, dem ich den Arbeitstitel "Wie man so sagt / wie man so liest / wie man so hört" gegeben hatte, das sich damals aber nicht abschließen ließ. Sein Plan sah eine spezielle typografische Edition der Gedichte "wie man so sagt" und der Prosa "wie man so liest" vor, die verbunden sein sollte mit ihrer akustischen Realisation: "wie man so hört". Die meisten Gedichte und einige Prosa erschienen statt dessen in Form von "Weg-Werfheften" oder wurden vereinzelt in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Als akustische Spiele realisiert sind bisher allein aus "wie man so sagt" der Hörtext "man" (1969/1970) und aus "wie man so liest" das Hörspiel "Hans und Grete oder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" (1970). "Ach, Luise, laß..." ist eine weitere akustische Realisation aus dem Projektteil "wie man so liest" und dort als 'Frauenroman' ausgewiesen.
Reinhard Döhls Hörtext "man" und sein Hörspiel "Hans und Grete oder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" hängen also laut eigener Einschätzung des Autors unmittelbar mit "Ach, Luise, laß..." zusammen. Diese drei Stücke unterscheiden sich in der Tat von Döhls übrigen Hörspielen, z.B. "Herr Fischer und seine Frau oder Die genaue Uhrzeit" und "So etwas wie eine Geschichte von etwas", wiewohl Wahrnehmung und Intention deutlich in die gleiche Richtung weisen: In jedem Fall geht es Döhl um die Identifizierung und Verdeutlichung überindividuell verhängter Abhängigkeiten. Die eine Gruppe seiner Hörspiele zeigt diese auf durch die Akzentuierung verschiedener Arten eines Laufens im Kreis, bei dem Anfang und Ende einander aufhoben, durch die Akzentuierung der Relativität und Auswechselbarkeit von Situationen, der besonderen Beliebigkeit aller Geschichten, die zwar als bedeutungsvoll erlebt, tatsächlich aber Muster, Leerformen sind und mit in sich zuletzt bedeutungslosen Variationen nur immer neu aufgefüllt werden. Die andere Gruppe von Döhls Hörspielen, "Ach, Luise, laß..." zuletzt, demonstriert die Abhängigkeit jedes einzelnen im Sprachspiel, im niemals ganz überschaubaren, wabernden, sich dennoch immer wieder krass verfestigenden Kontext der Grundsätze und Überzeugungen, Gewohnheiten und Regeln, Überlieferungen, Zwänge und Gesetze. Im Hörspiel "Hans und Greteoder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" verbirgt Döhl nicht, daß er etwas und was er demonstrieren will - eben das, was der Titel sagt. Die Regieanweisungen, die der Realisation des Stückes ausdrücklich weiten Spielraum eröffnen, betonen gleichwohl die völlig eindeutige Demonstrationsabsicht. Sie deutet sich an schon mit der Wahl der Namen. Um es mit dem Grimm'schen Wörterbuch zu sagen, wo über Hans - und auch Grete - vieles nachzulesen ist:
das häufige erscheinen des namens veranlaßt, daß derselbe (ähnlich wie Heinz, Hinz, Kunz, vgl. auch die weiblichen namen Grete, Trine), über den engeren kreis des nomen proprium hinaustritt und zunächst als anrede, anruf, bezeichnung männlicher personen gilt, deren specialnamen man nicht kennt oder nicht nennen will, die man daher mit einem auf viele personen gehenden namen bezeichnet und so gewissermaßen mehr ins allgemeine malt...
Genau hierauf kommt es Döhl an - er malt die Individuen mehr ins allgemeine. In einer seiner Regieanweisungen heißt es:
Analog zu den fiktiven Helden als Produkten ihrer fiktionalen Umwelt sind auch die Menschen gesellschaftliche Produkte ihrer Umwelt.
Reinhard Döhl vergegenwärtigt in "Hans und Grete", wie jedermann gefangen ist im sprachlich verfestigten, dominierenden Lebensmuster seiner Umwelt, und zwar am Beispiel ländlichen Lebens. Das Hörspiel stellt neben verallgemeinernd ausgeschriebene Situationen mit Hans und Grete, die einander haben wollen, aber zunächst nicht bekommen sollen, Exkurse in eine ländliche einklassige Volksschule, wo die Schüler mit Sprichwörtern, landläufigen Weisheiten, allgemeinen Grundsätzen traktiert werden - wo sie lernen, sich wie Hans und Grete zu verhalten:
O-Ton: (Hörspiel "Hans und Grete", Manuskript S. 12 - 16, kann vorn und hinten gekürzt werden.)
Erst wenn die ganze Menge der konditionierenden Grundsätze, Regeln und Gewohnheiten, die zuletzt in der Obrigkeit ihre Grundlage haben, verinnerlicht sind, erst wenn sie das geltende Sprachspiel beherrschen, kann der Hans die Grete und kann Grete den Hans bekommen. So demonstriert Reinhard Döhl es in seinem Hörspiel "Hans und Grete oder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm". Das Hörspiel läßt keinen Zweifel, daß Sprachspiel für Reinhard Döhl immer auch - Ideologiespiel, Gesellschaftsspiel ist, daß Sprache, Ideologie und Gesellschaft ganz direkt miteinander zu tun haben, ineinander unauflöslich verschränkt sind, und daß das exemplarische Zitat des Sprachspiels potentiell stets Ideologiekritik und Gesellschaftskritik mit umfaßt. Kein Wunder, daß ihn dies im Zusammenhang seiner demonstrativen, ja sogar didaktischen Absicht dazu gebracht hat, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hat es versucht in seinem kurzen Hörstück "man":
O-Ton: (ziemlich zu Anfang, mit Übergang von man-Zitaten zu sprachgeschichtlicher Erinnerung.)
Was Hörspiele als Sprachspiele lehren, was ihr Inhalt und ihre kritische Reichweite ist, demonstriert Reinhard Döhls Hörstück "man" besonders deutlich und faßlich. Das Stück signalisiert allerdings zugleich besonders auffällig die Problematik und die Grenzen des Verfahrens. Die Intention des Hörstücks läßt sich etwa so beschreiben: in den sprachlichen Erscheinungsweisen des man, eines sozusagen verkümmerten Wortes, welches das Gewohnte, das Übliche, das Angepaßte, das durch alltägliche mehrheitliche Entscheidungen Sanktionierte in die Form sowohl von Übereinkunft als auch von Beliebigkeit bringt, - in den Erscheinungsweisen das man soll verifiziert werden eine verbreitete, ja allgemeine Verweigerung dessen, was den Menschen individuell und gesellschaftlich möglich wäre. Vorgeführt wird, daß das vage man meist aufgeladen ist mit einer Art trüber Allgemeingültigkeit, die fast alles entschuldigt. Ins man kann jeder sich zurücksinken lassen - die Sprache ermöglicht und legitimiert es scheinbar. Tatsächlich aber sind die Formeln des man schon längst nur noch Leerformen.
Döhl demonstriert dies, indem er eine Reihe entsprechender Redeweisen, längst erstarrter Sprachklischees zu Gruppen ordnet und durch mechanische Wort-Versetzungen, also Permutationen in Bewegung setzt und denunziert. Dabei ist jedenfalls andeutungsweise der gewohnte Sinn des man auch zersetzt, wird das Wort aus dem Bereich seiner dunstigen Bedeutungen auch ausgelöst. Doch das Moment der Denunziation überwiegt bei weitem, und dies ist schon der Punkt, wo das sprachkritische Verfahren und die gewiß auch ideologiekritische Absicht Döhls auch ihrerseits Kritik herausfordern. Der Eindruck ist nicht ganz unbegründet, daß dieses Hörstück die bekannte Vorstellung des Philosophen Martin Heidegger vom man als dem Inbegriff der Uneigentlichkeit illustriert, eine Vorstellung, die in jedem Fall sehr bald umzuschlagen pflegt in die Vorstellung von der Masse Mensch als der weitesten Repräsentation des man. Die Vorstellung von Uneigentlichkeit aber ist so schlecht wie jene von der Eigentlichkeit.
Die Frage ist, ob der ideologiekritische Akt Döhls vor allem darin bestand, daß er das Wort man als Zentralwort wählte. Wäre das der Fall, entspräche es gewiß nicht seiner Absicht, die weiter reicht. Und es wäre eine nicht hinreichende Basis für Ideologiekritik in der Sprachkritik. Hier wird die Grenze der vom Sprachspiel aus ansetzenden Literatur erkennbar, und erkennbar wird, daß sie sich aus dem Sprachspiel selbst heraus nicht ohne weiteres überschreiten läßt. Wo dieses auch nur indirekt einen Verweis intendiert über den Inhalt der Sprachteile hinaus, die Spielgegenstand sind, ist der Verweis in seinen eigenen Relationen zu sehen. Und das besagt: Ist Döhls Hörstück "man" eine Illustration zu Heideggers man, der zentralen Vokabel der Uneigentlichkeit, und das ist jedenfalls einzuschließen, so unterliegt das Hörstück derselben Kritik, die auch Heidegger herausfordert. Es fehlt dem Stück etwas, ohne das seine Aussage, sein Inhalt auf bedenkliche Weise einseitig bleiben müssen. Es fehlt ihm jede Dialektik, und ohne Dialektik lassen sich jedenfalls gesellschaftliche und ideologische Phänomene glaubhaft nicht fassen. Die Denunziation eines noch so unbefriedigenden Zustands kann sich trügerisch auswirken ohne den Rückgriff auf seine gesellschaftlichen Gründe.
Es fehlt in Döhls Hörstück sozusagen die Frage: Was konnte man denn, was kann man denn anderes machen, als was man macht? Und: Welche Chance hat man überhaupt, aus dem man, das wohl doch vor allem ein Produkt nicht von Feigheit und Trägheit, sondern tief eingegrabenen Zwanges ist, herauszugelangen? Ist das man nicht unter Umständen einziger Fluchtbereich in der Ohnmacht? Diese Dimension, die ebenfalls eine Dimension des man ist, wenn auch eine häufig verschwiegene, hat auch Döhl nahezu ausgelassen, jedenfalls ist sie nicht thematisiert, obwohl sie sich durchaus sogar in den umgangssprachlichenLeerformeln selbst ausfindig machen läßt.
Überdeutlich war also bei der Konzeption von Reinhard Döhls Hörstück "man" eine bestimmte vorgefaßte Meinung im Spiel, eine Absicht, die unbestreitbare Abhängigkeit der Menschen in einem schon im voraus diagnostizierten Kernpunkt zu fassen und im Sprachspiel zu demonstrieren. Das hat ins Hörspiel eine etwas zu deutliche Spur Didaktik gebracht. Diese Spannung aber, die Spannung zwischen Spiel und Lehrabsicht, sie ist durchaus konstitutiv für Döhls Hörspiele, und sie ist für diesen Autor unentbehrlich. Sie mindert nicht sein schmales, hauptsächlich Hörspiele umfassendes literarisches Oeuvre, sie zeichnet es vielmehr - samt der in ihr begründeten Problematik - aus. Und sei es nur, weil in der neueren Literatur aller Art, anders als zeitweilig früher, didaktische Absichten ziemlich spärlich, vielleicht zu spärlich sind.
Gegenüber dem Hörstück "man" und auch dem Hörspiel "Hans und Grete oder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" wirkt Döhls neues Hörspiel "Ach, Luise, laß..." geradezu unterhaltsam, spielerisch, offen. Als habe der Autor diesmal nichts lehren, höchstens auf dies und jenes aufmerksam machen wollen. Und doch hat Döhl sein Konzept nicht geändert, sondern nur gelockert und variiert. Seine Absicht ist nicht mehr, etwas inhaltlich schon Vorgewußtes aufzuzeigen im Material jener eigenartigen, die Menschen konditionierenden Realität, die in Sprache aller Art gespeichert und in Zitaten so vielfältig aus ihr abrufbar ist und fast unbewußt permanent aus ihr abgerufen wird. Aber seine Absicht ist immer noch, diese Realität bewußt zu machen oder bewußt zu halten, die tatsächliche Abhängigkeit von ihr am Beispiel spüren zu lassen. Jene Funktion, die im Hörstück "man" die Idee - oder das Ideologem - der im Wörtchen man zentrierten Uneigentlichkeit hat, ist auf die Situationen im Mädchen- und Frauenleben übergegangen, die von Zitaten aus einer bestimmten, noch heute massenwirksam nachwirkenden historischen Literatur zugleich konstituiert und reizvoll umspielt sind. Auf dem Grundkonzept der konkreten und experimentellen Literatur und des Neuen Hörspiels beharrend, akzentuiert Döhl in "Ach, Luise, laß..." spielerisch mehr das Moment der Erkundung, des eher unpräjudizierten Umgangs mit den Materialien, der ganz unvorhersehbare Reize und Erhellungen ergibt.
Selbst dabei zeigen sich ideologie- und gesellschaftskritische Akzente, die jedoch nunmehr nicht sogleich verallgemeinert, nicht rationalisiert werden, sondern schlicht als sie selbst ins Auge springen oder auch nur im Verborgenen wirken. Besonders deutlich zeigt sich in "Ach, Luise, laß...", daß und wie bestimmte Sprachstücke - auch musikalischer Art - die einmal die originäre, prägende Fassungskraft eines Zugriffs auf die Realität selbst hatten, ins Beliebige und Unterhaltliche verkommen können. Das ist gewiß angelegt schon dadurch, daß Döhl, ohne die Unterschiede zu betonen oder die unterschiedliche Herkunft der Zitate für die Hörer auch nur anzuzeigen, Theodor Fontane und die Marlitt nebeneinander bestehen läßt. Wenn damit aber eine Absicht verbunden war, so rechtfertigt sie sich ganz unverkennbar aus dem Material selbst. Das eine wie das andere ist längst zu Versatzstücken für nostalgische Bedürfnisse geworden. Das mit diskreter Impertinenz in den Untertitel des Hörspiels eingesetzte Wort ausgewogen - "Komposition für den Wörterfunk in sieben ausgewogenen Sätzen" - gewinnt einen weiteren, einen spezifisch medienkritischen Sinn: wo man, wie üblich, alles und jedes ineinander rührt und miteinander verkocht, wo das unterscheidungslose Nebeneinander herrscht, da verliert das einzelne, auch wenn sich dabei Belustigendes ergibt, seinen Eigengeschmack.
Noch ein Grund mehr, sorgfältiger als gewohnt zu achten auf die Realität des kulturellen Überbaus, der in Sprache aller Art unabsehbar gespeicherten, durchaus Welt bedeutenden Vorformulierungen, mit denen wir leben. Hans und Grete lassen grüßen, dem man droht eine neue Dimension aus der massenhaften Software - man ist vielleicht auch schon längst, sie belachend, in ihr angekommen. Zwar nicht mehr als auslösender Faktor, dennoch als wesentliches Moment auch des Hörspiels "Ach, Luise, laß..." also Ideologie- und Gesellschaftskritik als Sprachkritik.
Reinhard Döhl zählt als Autor weder zu den radikalen Innovatoren noch zu den Erfolgreichen. Doch mit Hartnäckigkeit und Konsequenz verfolgt er sein durchaus begrenztes Konzept, unbekümmert um Moden und Beifall, und er sichert ihm schon dadurch eine gewisse Tradition. Er trägt damit bei, der konkreten und experimentellen Literatur Tradition zu schaffen, und das ist notwendig und sinnvoll schon deshalb, weil diese Literatur ihre Basis in einer längst unzweifelhaften Erkenntnis hat - der Erkenntnis von der Eigenbedeutung aller Sprache.
Es gibt leider nur wenige solcher Autoren mit begrenztem, doch fundiertem Anspruch, während es so viele, zu viele Autoren mit völlig unbegründeten hohen Ansprüchen gibt. Man hätte Grund, Autoren wie Reinhard Döhl wichtig zu nehmen, ihre Hervorbringungen sorgsam zu registrieren und zu diskutieren, sich ihrer Verdienste bewußt zu werden. Denn Autoren wie Döhl setzen Bausteine, die unentbehrlich sind, soll Literatur und mit ihr das Hörspiel Bestand haben, Rang zurück- und neugewinnen als unentbehrliches Medium der Einsicht in das, was wirklich ist, was vorgeht, was geschieht, womit die Menschen sich herumzuschlagen haben.
[WDR, anläßlich der Erstsendung von "Ach Luise, laß", 1985]