Stuttgarter Zeitung online
Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom 04.09.2000

LESEZEICHEN
Der Schnupftabak, das Internet und ein Pistolenschuss
Von Rainer Wochele

"Ich versuche gerade, die Höllenmaschine in Gang zu kriegen", sagt er, sitzt in seinem Büro in der Stuttgarter Universität, mausklickt und wartet auf die Zeichen, die Wörter auf der Schirmfläche vor sich. Die Zeichen, die Wörter in der richtigen Reihenfolge. Auf dass sie Sinn ergäben. Aber was ist schon Sinn und was ist Unsinn? Und manchmal ist die falsche Reihenfolge die richtige.

Und weil Reinhard Döhl, der Mann, der da vor seinem Computer sitzt, bei den sprachlichen Zeichen, den Wörtern oft auch die umgedrehte Reihenfolge liebt, sei das Sätzlein, mit dem er da den Gast in seinem Unibüro begrüßt, schnell mal ein bisschen verzwirnt, um zu sehen, ob die Sprache etwas weiß über diesen Reinhard Döhl, das sie nur ausplaudert, wenn man sie verdreht.

Satzverdrehung eins: Die Höllenmaschine versucht gerade, mich in Gang zu kriegen. Stimmt. Er wird in Gang kommen, der Maschinist, wird erzählen und das Erzählte gelegentlich mit Bildschirmausdrucken hinterfüttern. Wird Erinnerungsgänge machen in die Jahre, da man in Stuttgart die Sprache, die Poesie, die Literatur zum Experimentierfeld erklärte, und er wird sich die Erinnerung ab und an mit einer Prise Schnupftabak würzen. Denn das geht zusammen bei Reinhard Döhl, das Altväterliche und das Moderne, der Schnupftabak und das Internet.

Satzverdrehung zwei: Kriegen gerade die Höllenmaschine(n) einen Versuch in Gang? Kommen wir schon dichter ran an den Mann. Zumal wenn wir von der Höllenmaschine der Sprache reden, vom poetologischen Experiment.

Und nun hat Reinhard Döhl die Höllenmaschine Computer zum Laufen gebracht, denn ohne Internetanschluss ist das derzeitige Wirken des Maschinisten nicht denkbar. Der ja, dem Himmel sei Dank, nicht nur Computerist ist, sondern ein künstlerischer Mehrkämpfer von Graden. Einer, der sich im Bereich der Künste "zwischen allen Stühlen" sieht. Reinhard Döhl, 1934 in Wattenscheid geboren, seit vielen Jahren in Stuttgart lebend, ist nicht nur ein Literatur- und Medienwissenschaftler, der bis vor seinem Ausscheiden aus dem Hochschuldienst 1998 an der Stuttgarter Universität gewirkt hat, er ist auch ein in vielfacher Form sich ausdrückender Mann: Gedichte, Prosa, Hörspiele, Stücke, Essays, Internettexte, literarische Gemeinschaftsarbeiten, musikalische Realisationen, bildnerische Arbeiten mit Ausstellungen rund um den Globus. Zudem natürlich wissenschaftliche Veröffentlichungen.

Und Döhl ist vor allen Dingen auch ein namhafter Vertreter der konkreten Poesie, gehörte der Stuttgarter Gruppe an. Jetzt nimmt der massige Mann im grauen Hemd, während hinter ihm auf dem PC der Bildschirmschoner seine Taumeleien vollführt, aus einer Dose eine Prise Schnupftabak und erzählt von dieser literarischen Legende, die in Stuttgart in den sechziger und siebziger Jahren die konkrete Literatur mit zur Blüte gebracht hat. Er erzählt, wie man auf dem Universitätsrechner die ersten Computertexte gemacht hat. Wie er Ernst Jandl, den jüngst Verstorbenen, "der damals plötzlich bei mir angeklopft hat", in einen Almanach aufgenommen hat. "Ernst Jandl", sagt er, "wurde in Stuttgart entdeckt."

Der Mann mit der Schnupftabakdose in der Hand nennt als Kern der Stuttgarter Gruppe die Namen Max Bense, Helmut Heißenbüttel, Reinhard Döhl, Ludwig Harig, Franz Mon, Ernst Jandl, spricht von einer Streitkultur, die man damals entwickelt habe, und bezeichnet den Kopf des wissenschaftlich-literarischen Unternehmens, den Semiotiker Max Bense, als einen Anreger, einen "Impulsgenerator".

"Dinge, die wir in Stuttgart gemacht haben und die in Tokio und in Prag, in Frankreich und in Brasilien wahrgenommen worden sind, sind in Stuttgart mehr oder minder ungekannt", konstatiert Döhl. Und er stellt fest, dass sein bildnerisches Werk in Stuttgart keine offizielle Präsentation gefunden hat. Sein privates Archiv werde nicht nach Marbach, sondern an die Akademie der Künste in Berlin gehen. Und man glaubt es kaum, Reinhard Döhl, dieser gewichtige Exponent der konkreten Poesie, er wurde bisher nicht mit dem Stuttgarter Literaturpreis ausgezeichnet.

Eng Döhls Verbindung jedoch zur Stuttgarter Stadtbücherei im Wilhelmspalais, wo er mit Johannes Auer im Internet etwa den Futuristischen Lesesalon eingerichtet hat. Viele von Döhls Texten sind via Stadtbücherei im Internet zugänglich. Reinhard Döhl spricht sich für eine "dialogische Kunst" aus. Er hat Kettengedichte mit japanischen Autoren verfasst und etwa auch eine poetische Korrespondenz mit der Stuttgarter Lyrikerin Carmen Kotarski ("Döhl ist ein Entdecker und Anreger durch und durch"). Eine Autorin, in deren jüngstem Lyrikband mit dem Titel "ich war eine insgeheime Person" er "mit vollem Respekt" Konstanz und Konsequenz erkenne.

Ja, und dann holt sich Reinhard Döhl aus dem Futuristischen Lesesalon im Internet den Text von Johannes Auer "Kill the poem" her, bei dem man mittels Mausklick Wörter herausschießen kann, auf dass ein neuer Sinn entstehe. Oder ein hübscher neuer Unsinn. Und Döhl greift zur Tabaksdose, schnupft sich eins, schießt klickend mit der Pistole auf dem Bildschirm ins Gedicht auf dem Bildschirm und freut sich diebisch dabei. Und dann niest er.

Reinhard Döhls Texte im Internet unter: www.reinhard-doehl.de
Carmen Kotarski: ich war eine insgeheime Person. Gedichte. Verlag Reiner Brouwer, Stuttgart. 62 Seiten, 28 Mark