Das Werk Günter Eichs zeichnet sich wie kaum ein anderes Werk zeitgenössischer Autoren durch seine Konstanz und Konsequenz aus, auch in der zugrunde liegenden Haltung. Der Entscheidung von 1930: Und Verantwortung vor der Zeit? Nicht im geringsten. Nur vor mir selber entspricht eine Äußerung von 1971: Ich sage nur, was ich mir denke. [...] Sie können nicht von mir verlangen, daß ich anders schreibe als Eich. Und Eich schreibt, was ihm Spaß macht.
Der Überzeugung, daß sich die Aufgabe des Schriftstellers vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt habe, die Eich erstmals 1947 formuliert, wird in verschärfter Form immer wieder neu vorgetragen, zuletzt 1967 in einem Interview: Ich sehe meine politische Funktion in der Möglichkeit, eine Zementierung zu verhindern. Das scheint mir im politischen Sinne eine wichtige Sache zu sein, daß die Sprache im Fluß bleibt, daß sie nicht für reaktionäre Parolen verwendet werden kann.
Zwischen diesen Zitaten findet eine Entwicklung statt, die keine Positionen, keine Haltungen aufgibt, sie vielmehr radikalisiert. Es ist dies die Entwicklung vom Sprachskeptizismus zum Sprachanarchismus, vom Gesellschaftskritiker der "Träume" zum sprachlich wild um sich schlagenden, verbitterten Außenseiter, der verzweifelt gegen eine ihm sinnlos erscheinende Gegenwart den Unsinn seiner "Maulwürfe" richtete. Es ist nicht uninteressant, daß der in der Spätphase einer gelegentlich sogenannten Literaturrevolution ansetzende Dichter am Ende seines Lebens zu jener Position [zurück]-, zu jener Haltung findet, die von Urhebern dieser Revolution eingenommen und vertreten wurde:
Ich würde sagen, ich habe mich vom Ernst immer mehr zum Blödsinn hin entwickelt, ich finde also das Nichtvernünftige auf der Welt so bestimmend, daß es auch in irgend einer Weise zum Ausdruck kommen muß. Ich kann also den tiefen Ernst, den ich früher gepflegt habe, nicht mehr verstehen und kann ihn auch nicht aushalten, vielleicht kann man das, was ich heute mache, auch Humor nennen, aber ich würde es wirklich im dadaistischen Sinne anschauen, nämlich, daß der Blödsinn eine ganz bestimmte Funktion in der Literatur hat, vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt.
Gegen den Wahnsinn der Zeit hatten die Dadaisten den - wie Arp es sagt - Ohne-Sinn der Kunst zu setzen versucht. Allerdings den Weg, den Arp und andere dann gehen, der Weg in die Sprachmystik, in die Bildmystik, geht Eich nicht, er ist ihn vielmehr umgekehrt gegangen.
Wenn Arp sich erinnert: Unter den Dadaisten waren Märtyrer und Gläubige, die ihr Leben opferten auf der Suche nach dem Leben, so ließe sich dieses - auf das Eichsche Werk übertragen - für Festianus Märtyrer sagen, nicht mehr für das, was dann folgt und, wie ich ausgeführt habe, bereits früher einsetzt und angelegt ist.
Aber Eich fand in der Radikaliserung seiner Position nicht nur zum Dadaismus zurück, er fand auch zu einem bezeichnenden Verständnis moderner Sprachexperimente. Gerade weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich diese ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig. Eine Lesung Eichs 1966 auf den "Tagen für neue Literatur" in Hof, die wesentlich von einer sogenannten konkreten, experimentellen Literatur zugerechneten Autoren bestritten wurden, ist hier - zwei Jahre vor Veröffentlichung der ersten "Maulwürfe" - ein von den bisherigen Biographen nicht erwähntes, bezeichnendes Indiz am Rande.
Die wesentlichste Konstante ist Eichs grundsätzliche Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen, sich mit Hilfe der Sprache der Wirklichkeit zu nähern. Auch hier finden sich im Eichschen Werk weiträumige Entsprechungen. Hieß es 1956 in "Der Schriftsteller vor der Realität": Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit, sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen, sagt es Eich 1971: Ich will nur eine Realität gewinnen. Ich gewinne sie durch das Wort.
Erst mit einer so gewonnenen Realität läßt sich nach Eich gegen eine ihm immer unerträglicher erscheinende Wirklichkeit, die sich für ihn wiederum bezeichnenderweise vor allem sprachlich, als gelenkte Sprache, als Versuch der Sprachlenkung durch die Machthaber fassen läßt, angehen. Von einem inhaltlichen Dagegen-Angehen, von einer engagierten Literatur, oder - wie er es selbst sagt - einem Engagement mit dem Holzhammer hält er nichts.
Es scheint mir vor allem wichtig, daß Veränderung und Entwicklung nicht durch den Inhalt geschieht, sondern durch die Sprache, daß wir also unablässig bemüht sein müssen, die Sprache nicht festwerden, gerinnen zu lassen, sie so zu erhalten, daß sie nicht benutzbar ist von irgend welchen Mächten, daß dies eine Sprache ist, die immer in Bewegung bleibt und jedes Festgefügte gleich wieder zerrissen wird und in der Politik nicht verwendbar ist, daß die Sprache also so bleibt, daß Weltveränderung mit ihr immer möglich ist, daß sie nicht zementiert wird.
Die Entscheidung Eichs, die Welt als Sprache zu sehen, ist als politische Entscheidung der Versuch, mit einer Sprache, die in Bewegung bleibt, Welt zu verändern. Das sollten sich vor allem jene Interpretatoren vor Augen halten, die im Eichschen Werk nach theologischen und metaphysischen Hintergründen fahnden.
Der Weg zu den Eichschen Inhalten führt nur über die Sprache, sie sind wesentlich Sprache wie die Eichschen Figuren, oder besser vielleicht Stimmen Sprachträger sind, und damit Möglichkeiten, etwas zu formulieren, auszudrücken, zu über- setzen. So geht es im "Das Jahr Lazertis" nicht eigentlich um die Geschichte Pauls, ist seine Geschichte vielmehr nur Mittel zum sprachlichen Zweck, Voraussetzung für einen Satz, den Versuch, Widersinnigem einen nur in Sprache möglichen Sinn zu geben: Gewiß, sie konnten alle auch ohne mich sterben, aber ich konnte nicht ohne sie leben.
Ähnliches gilt für die plötzlich in einem wörtlichen Sinne dahinfahrende Hoffnung in "Festianus Märtyrer", für das daran glauben müssen in "Die Brandung vor Setúbal" und vieles andere mehr. Auch in diesen Hörspielen und nicht nur in denen, die Sprache thematisieren, geht es letztlich um Sprache, den Übersetzungsversuch aus dem Urtext.
Dieser Urtext, das ist zur letzten Sendung noch nachzutragen, ist auch romantischer Herkunft. Eich, der seinen Eichendorff gut gekannt hat, wird auch jenen Satz nicht überlesen haben: Das Leben aber [...], mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter, wie ein unübersehbar weitläufiges Hieroglyphenbuch von einer unbekannten, lange untergegangenen Ursprache zum Leser.
Der Dichter wäre demnach - ganz im Sinne Eichs - ein Vermittler, jemand, der dem Leser diese Ursprache übersetzt und sich damit dem Leben nähert. Dieses Übersetzen ist eine sprachliche Tätigkeit, bei Eich ebenso so doppel- und hintersinnig wie seine Formeln.
Peter Horst Neumann, einer der wenigen ernst zu nehmenden Interpreten des Eichschen Werkes, hat auf diesen Doppelsinn nachdrücklich aufmerksam gemacht: Übersetzen und Übersetzen, translatio und transgressio ergeben den Doppelsinn des Übersetzungs-Motivs in Günter Eichs Dichtung. Hier ist die alte Bedeutung des griechischen hermeneuein (übersetzen) lebendig, ein Wort, das auch die Grenzüberschreitung des Götter- und Todesboten Hermes bezeichnet. Als den Prozeß eines solchen "übersetzens" hat Eich sein Dichten verstanden. Wer sich diesem Prozeß überläßt, hat sich entschieden, "die Welt als Sprache zu sehen". [...] Als Übersetzen im acherontischen Sinn dieses Wortes, öffnet sich das Motiv dem Gedanken des Todes, der damit ins Zentrum der Eichschen Poetik rückt. Erst am Ende aller Erfahrungen, in der letzten der uns möglichen Transgressionen sollen wir ganz in jene "Wirklichkeit" hinübertreten, die der Urtext aller vergeblichen Translationen ist.
Man mag zu einer derart religiösen Einschätzung Eichs stehen wie man will, sie hat manches für sich und rückt Eich zugleich wieder in die Nähe einer Sprachmystik, von der bereits die Rede war. - Für unseren Zusammenhang von größerer Bedeutung ist Neumans Nachweis, daß selbst ein so zentrales Motiv wie das von den Interpreten vielfach bemühte Motiv des Todes eigentlich nur über den Weg der Sprache zugänglich wird.
[Exkurs zu Hamann, vgl. Hehres & Triviales [...]. Hamburg: Kaldewey, Kat. 44, 1978, S. 15].
Eichs sprachliche Doppeldeutigkeiten, vor allem an zentralen Stellen seiner Hörspiele, sind eindeutig Versuche, Sprache in Bewegung zu halten, ihrer Zementierung gegenzuwirken. Wo sie zum zitierbaren Formelschatz wurden, mit Hilfe dessen die Interpreten über das Werk verfügen zu können glaubten, wich Eich aus, versuchte er durch Veränderung sich diesem Verfügbarmachen zu entziehen. Auch darum hat er sich mit Recht stets geweigert, zum eigenen Werk erläuternd Stellung zu nehmen. Seine Stellungnahme war das Werk selbst. Und so, wie er die Sprache nicht fest werden lassen wollte, um sie dem (Macht)Zugriff zu entziehen, versuchte er - wie die zahlreichen Fassungen und Varianten auch belegen - sich dem festlegenden, dem zementierenden Zugriff der Interpreten zu entziehen, bis zu jener Grenze, wo er keine andere Möglichkeit mehr sah, als sich von seinen frühen Hörspielen zu distanzieren, wo er Ende der 50er Jahre begann, Stücke radikal umzuschreiben, Hörspiele (und Texte) zu versuchen, denen die Kritik bescheinigte: Eine hörspielfeindlichere Reduktion ist kaum denkbar. Diese Einschätzung und Abwertung des vorletzten Eichschen Hörspiels führt mich zu "Man bitte zu läuten", allerdings noch über einen Umweg. Ich hatte bereits in einer Gegenüberstellung anzudeuten versucht, wie sehr ein Inszenierungsstil, wie er mit Aufkommen der UKW-Technik vor allen von der Hamburger Hörspieldramaturgie unterstützt, vor allem von dem Regisseur Schröder-Jahn entwickelt und praktiziert wurde, bei aller Richtigkeit für zahlreiche Hörspiele der 50er Jahre gerade an Eich vorbeiinszenierte und - von seiner Grundhaltung her - vorbeiinszenieren mußte. Ein Pausen ausspielender, mit bedeutsamer Stille operierender, in seiner Andeutung gleichsam symbolisch überhöhender Inszenierungsstil widersprach - wie ich meine - dem eigentlichen, sprachlichen Anliegen Eichs, für das das Schweigen eine immer zentralere Rolle gewann. So greift er 1962 in "Was ich nicht geschrieben habe", 1968 in einer "Abgekürzten Dramaturgie des Hörspiels" die im letzten Kapitel zitierten Gedankengänge noch einmal gestrafft auf:
Der Lautsprecher kennt kein stummes Spiel, er kann nicht schweigen. Ich hänge dem Schweigen an, vielleicht eine Generationsfrage. Meine unbewußte Aufgabe war es immer, das notwendige Schweigen in Dialog, in Worte zu übersetzen und so, daß es den Charakter des Schweigens nicht verliert. Dieses Paradox besteht im Hörspiel als dramaturgische Notwendigkeit.
Vielleicht ist Eichs Plädoyer für das Schweigen eine Generationsfrage, sicherlich steht er mit dieser Vorliebe aber nicht allein. Erinnert sei an Gomringers berühmte Konstellation "schweigen", an Natalie Sarrautes Hörspiel "Le Silence", an den späten Beckett, an John Cages u.d.T. "Silence" gesammelte Vorträge und anderes.
Die "Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises", 1959, läßt ablesen, daß auch Schweigen bei Eich mehrschichtig zu verstehen ist, Movens für die Herstellung von Literatur aber auch Konsequenz, letztmögliche Reaktion des Dichters auf eine sprachlich total verwaltete Welt, also Widerstand:
Da ich von der Macht und der gelenkten Sprache sprechen will und weniger davon als dagegen, kommt es mir vor allem darauf an, daß das Ärgernis hörbar wird. Freilich sind in allen Ärgernissen Imperative verborgen, aber ich hoffe, daß es mir gelingt, wenigstens einige zu verschweigen. Sie gehören zu den Sätzen, die nur dadurch gut sind, daß sie ausgelassen werden, und haben an der grauen Erkenntnis teil, die die eigentliche Illusion perdue ist: daß die Wahrheiten platt und die Plattheiten wahr sind. Man könnte zum Trappisten darüber werden, aber es hilft nicht.
Eich hat sich nicht auf das stete Stillschweigen, die Ordensregel der Trappisten einschwören lassen, aber er erklärt sich gegen den Imperativ, ja im weiteren Verlauf sogar gegen den Aussagesatz und optiert für die Frage. Im Grunde genommen hat Eich in seinem gesamten Werk die Frage bevorzugt, so ist z.B. der Schluß von "Die Andere und ich", wenn man genau hinhört, sind die Schlüsse von "Festianus Märtyrer", "Das Jahr Lazertis" eher Fragen als Antworten.
Wenn Eich hier so betont für die Frage optiert, wehrt er sich auch gegen den interpretatorischen Mißbrauch seines bisherigen Werkes, gegen das Zitiertwerden. Auch dies wird von Peter Horst Neumann richtig gesehen: Als Zitate werden die Antworten weitergereicht, deren Fragen in Vergessenheit gerieten. [...] Wer Günter Eich zitiert, sollte seine Fragen zitieren.
War Günter Eichs Hörspielproblem, die Aufgabe, der er sich gestellt sah: notwendiges Schweigen in Dialog, in Worte zu übersetzen, oder negativ ausgedrückt: Und auf der anderen Seite: Wie vermeide ich es, es muß also eigentlich ununterbrochen gesprochen werden, wie vermeide ich es aber, daß das Hörspiel sozusagen ein uferloses Geschwätz wird, was also angedreht, und dann läuft das ununterbrochen weiter und ununterbrochen wird geredet, wie vermeide ich es, daß das, daß das Hörspiel zu einem, ja sagen wir ruhig, zu einem Geschwätz wird -
War Eichs Hörspielproblem die Übersetzung des Schweigens in Sprache aber auch das Vermeiden des Geschwätzes, wird er dies in "Man bittet zu läuten" dialektisch umdrehen.
Gleichsam als Versuch, auf seine Fragen aufmerksam zu machen, kann man auch Eichs zahlreiche Hörspielneufassungen Ende der fünfziger Jahre verstehen. Ich wies bereits darauf hin, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Neufassung von "Blick auf Venedig"ist, so daß man von ihr fast als von einer Scharnierstelle im Eichschen Werk sprechen muß. Bei einem zweiten, durch seine Neufassung wichtigen Hörspiel, "Meine sieben jungen Freunde", 1960, stand mit Gustav Burmester ein Mann am Regiepult, der schon 1952 die erste Fassung, "Die Gäste des Herrn Birowski", inszeniert hatte. In einem Gespräch mit Klaus Schöning wird deutlich, daß einige Regisseure durchaus die Veränderung der Hörspiellandschaft erkannten und in Inszenierungen dem neuen Eich gerecht zu werden versuchten:
SCHÖNING: 1952, Sie sagten
es vorhin schon, hatten Sie die erste Fassung des Stoffes, "Die Gäste
des Herrn Birowski", inszeniert. Die Geschichte ist eigentlich dieselbe
geblieben, auch die Rollen finden sich alle wieder. Aber die Struktur hat
sich verändert, die Sprache vor allem. Was hat sich in Ihrer Konzeption
der zweiten Fassung gegenüber der ersten Fassung geändert?
BURMESTER: Ja, da hat sich
sehr viel geändert, aber auch Eich hat sich sehr geändert in
den Jahren. Sein erstes Manuskript und meine erste Inszenierung waren noch
viel romantischer, möchte ich sagen, viel blumiger. Die zweite Zeit
[?, R.D.] ist viel härter, viel - möchte ich sagen - realistischer
im überhöhten Sinn.
[Band-Zitat: Interview WDR]
Im Verlauf des Gesprächs wird Burmester auch auf die Kritiken angesprochen, die zu seiner Neuinszenierung erschienen:
SCHÖNING: Die Kritiken
waren im großen und ganzen sehr positiv. Zwei Kritiker angesehener
Zeitungen schrieben allerdings, was vielleicht keine Kritik sondern eher
eine Erklärung vielleicht ist, sie sprachen von der Regie als einer
asketischen Regie, 1960, wohlgemerkt, und daß hier die Grenze der
Unterkühlung und des Purismus erreicht sei. Das war also vor sechs
Jahren. Glauben Sie, daß man heute auch sagen würde, das wäre
eine asketische ...
BURMESTER: Nein, nein, der
Meinung bin ich gar nicht. Außerdem bin ich ja kein Purist und kein
Asket, das kann man wirklich von mir nicht behaupten. Ich möchte wohl
sagen, daß das vielleicht doch Kritiker älterer Jahrgänge
gewesen sind, die sich noch nicht ganz an die Entwicklung gewöhnt
haben.
[Band-Zitat: Interview WDR].
Diese Entwicklung, an die sich die Kritiker noch nicht gewöhnt hatten, an die sie sich in manchem Fall sicherlich auch nicht gewöhnen wollten, war Eichs immer radikaler vertretene Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen, das notwendige Schweigen in Dialog, in Worte zu übersetzen und zugleich zu vermeiden, daß das Hörspiel sozusagen ein uferloses Geschwätz wird.
1964 dreht Eich dies gleichsam dialektisch um, führt er in "Man bittet zu läuten" das uferlose Geschwätz eines Vertreters gelenkter Sprache, einer Sprachmarionette der Macht vor, demonstriert er hinterlistig und hintersinnig gelenkte Sprache mit ihrer inhumanen Argumentationsweise, ihrer infamen Logik, und damit eine Sprache, gegen die er bisher angeschrieben hatte, gegen die er in seiner Darmstädter Rede so energisch vom Leder gezogen hatte. Diese gelenkte, diese unmenschliche und brutale Sprache läßt - wie schon zitiert - keine Fragen mehr zu: Natürlich ist niemand ohne Fragen, aber sie müssen aus der Welt geschafft werden. Nicht durch Antworten, damit haben sie verhältnismäßig wenig zu tun, sondern mit der Peitsche, da denke ich radikal und realistisch.
Oder: Fragen gehören zum Stuhlgang, gehören in die Kanalisation gespült.
Ja, es bleibt schließlich nicht einmal mehr die sprachlose, ohnmächtige Geste des Widerstands: Die Faust heben! Das könnte euch einfallen.
Wie schon die früheren Figuren Eichs ist auch der Pförtner des Taubstummenheims nur Sprachträger, nicht psychologisch ausdeutbare Figur. Ihn als Höllenpförtner, Pförtner eines säkularisierten Paradieses oder ähnliches zu interpretieren, verfehlt die Eichsche Intention. Seine psychologisierende Ausdeutung in der Erstsendung des Norddeutschen Rundfunks, 1964, unter der Regie Heinz von Cramers, hat eine Verwirrung nur vermehrt, die Eich mit diesem Stück bei Hörspieldramaturgien und Interpreten ausgelöst hatte. Zehn Jahre nach der Erstsendung wagte Heinz Hostnig den Versuch einer Neuinszenierung, indem er an Stelle der verfehlten psychologischen Interpretation eine eigentlich sprachliche, eine rhetorische Sprachlösung versucht, und er zog damit eine Konsequenz, die sich in dem Gespräch mit Gustav Burmester bereits andeutete. Indem Hostnig die Eichsche Figur als Sprachträger versteht, indem sein Sprecher Klaus Schwarzkopf nicht Rolle spricht sondern versucht, das geschwätzige Assoziationsgeflecht rhetorisch zu meistern, also nicht Sprache spielt sondern Sprache spricht, ist dem Regisseur und seinem Sprecher ein interpretatorischer Neuansatz gelungen, der den Eichschen Intentionen, seiner Entscheidung, Welt als Sprache zu sehen, näher kommt als die meisten bisher vorliegenden Inszenierungen. Daß und mit welchen Problemen auch dieser Versuch verbunden war, darüber hat Heinz Hostnig in einer Sendung "Aus der Hörspiel-Werkstatt" Auskunft gegeben, die ich in Ausschnitten zitieren will:
HOSTNIG: Nun, zehn Jahre nach
der Uraufführung, so dachte ich, wäre es an der Zeit, Eich vielleicht
einen Schritt näher zu kommen. Die damalige Inszenierung, so bravourös
sie gemacht ist, ist teilweise - das läßt sich textkritisch
belegen - von jener Ratlosigkeit geprägt, mit der man dem Stück
begegnet war. Vor allem drei Korrekturen schienen mir notwendig:
1. Die psychologische Führung
der Hauptstimme in der alten Fassung müßte in der neuen ersetzt
werden durch eine mehr auf die sprachliche Bewegung gerichtete Führung.
2. Das Intermezzo müßte
angesagt werden, wobei zum besseren Verständnis für den Hörer
der Ton auf Pilzfeinde zu legen wäre.
3. Das Intermezzo selbst
müßte in seinen Bedeutungsbezügen zum übrigen Text
erkennbarer gemacht werden. Worin zum Beispiel unterscheiden sich die darin
auftauchenden Stimmen der Pilzfeinde von denen der Pilzfreunde?
Mit psychologischen Erklärungsversuchen
läßt sich gerade das Intermezzo kaum deuten. Es bleibt unter
diesem Aspekt notgedrungen ein Fremdkörper, kann nicht völlig
verstanden werden. Nur wenn man von der Sprache und den Stilmitteln ausgeht,
erhält das ganze einen Sinn. Im Intermezzo gibt es zum Beispiel im
Gegensatz zum übrigen Text kommunizierende Partner, entwickeln sich
keine Quasi-, sondern echte Dialoge. Dialoge allerdings, in denen die Tongebung
als Transportmittel von Empfindung mehr mitteilt als die logische Begrifflichkeit
der Wörter. Die Realitätserfahrung hatte Eich damals schon längst
gelehrt, daß auf die Wörter kein Verlaß mehr ist. Wer
auf sie baut, produziert nur Mißverständnisse und Quasi-Dialoge.
[Bandzitat,
Hörspiel-Werkstatt]
Im Verlauf der Hörspielwerkstatt geht Hostnig dann genauer auf die konkrete Arbeitssituation ein und belegt mit der Gegenüberstellung von Passagen aus der alten mit seiner neuen Inszenierung das, was er mit der Unterscheidung von psychologischer und rhetorischer Textauffassung anzielt:
HOSTNIG: In der konkreten
Arbeitssituation ist nun entscheidend, wie der einzelne Schauspieler-Sprecher
mit solchen Problemen fertig wird. Ob er sich mit Routine darüber
hinwegmogelt oder ob er sie ernsthaft erkennt. Herr Schwarzkopf erkannte
sie. Ja, er nahm sie so ernst, daß er am Morgen des zweiten Aufnahmetages
aus künstlerischer Gewissenhaftigkeit von seiner Aufgabe zurücktreten
wollte. Daß er ihr dennoch treu blieb, verdanken wir seinem Ehrgeiz
und nicht zuletzt den intuitiven Fähigkeiten, über die jeder
gute Schauspieler in hohem Maße verfügt. Sie mußte nur
aktiviert werden. Auf dieser intuitiven Basis entwickelte sich dann ein
kreativer Kontakt, der in jedem Falle dienlich ist, ob man nun Psychologisches
oder Rhetorisches im Sinn hat. Auf den Unterschied zwischen der psychologischen
und der rhetorischen Auffassung des Stückes möchte ich Sie mit
Hilfe einer Probe aus Textabschnitt 1 der alten Fassung mit Franz Kutschera,
dann der neuen mit Klaus Schwarzkopf aufmerksam machen.
Die Sinngliederung des Textes
erfolgt bei Franz Kutschera unter psychologischen Vorzeichen. Das fällt
besonders auf bei der Stelle:
BAND: Mein freier Tag ist
Mittwoch (bis 'wie bitte?').
HOSTNIG: Kutschera umwirbt
seine unhörbare Telefonpartnerin hin und wieder mit obiger Schmeichelei.
Er steckt in einer Rolle. Der Text ist in erster Linie als Rollenmaterial
dienlich. Dies macht auch die folgende Stelle deutlich:
BAND: Doch, die sind ansteckend
(bis 'das ist es ja.')
HOSTNIG: Daß hier einer
spricht, der gegen das eigene Verstummen unaufhörlich anrennt, wird
aus dem bisherigen Redeverlauf nicht glaubwürdig. Dafür sind
die Pausen zu lang gesetzt zwischen den einzelnen Repliken und Sätzen,
dafür bleibt die dynamische Steuerung zwischen laut und leise zu gleichförmig.
Kutschera berücksichtigt auch hier in erster Linie die äußere
Redesituation. Er läßt sich die Wörter und Sätze mehr
beiläufig einfallen, daß aber zwischen den 'harmlosen Leidenden'
und seiner Redebesessenheit eine Beziehung besteht, daß ihr Stummsein
ansteckend ist, er sie darum haßt, also hassend redet, kommt nur
vage ins Bewußtsein. Kutschera vermittelt eher den Eindruck eines
mürrischen Mannes. Die Pause, die er vor 'Aber dann kommt ein freier
Tag' setzt, zerreißt jedenfalls den Zusammenhang zwischen den Gedanken
an die 'ansteckenden Leidenden' und seiner notwendigen Reaktion: seine
Lage. Kutschera führt eine Konversation - als mürrischer, zu
Schmeicheleien und Zynismen neigender älterer Mann. Ich habe Klaus
Schwarzkopf den Rat gegeben, sich selbst als einen Leidenden vorzustellen,
als einen, der Angst vor der Stille hat, dem, da er hassend redet, im Grunde
auch die Sprache zuwider ist. Er darf sich keine Ruhepölsterchen,
keine Schmeicheltöne erlauben. Er weiß von vornherein, daß
Frau Kallmorgen seine Lage nicht versteht, daß sie kein Einfühlungsvermögen
besitzt, deshalb ist sie für ihn eine Schachtel. Der Text steuert
zielstrebig auf diesen pointierenden Schluß zu. Hören Sie Klaus
Schwarzkopf.
[Bandzitat: Hörspiel-Werkstatt]
Es sei mir abschließend noch eine Bemerkung in eigener Sache gestattet. Sowohl der ausführliche Versuch eines Werküberblicks wie diese daran anschließenden Hinführung zu "Man bittet zu läuten" wollten und wollen nicht mehr sein als ein Versuch, sich einem Werk zu nähern, daß sowohl in seiner Interpretation wie in seinen akustischen Realisationen so gründlichen Mißverständnissen ausgesetzt war, daß es den einen zum schlechten Beispiel eines Hörspiels der Innerlichkeit wurde, von anderen als Argumentationshilfe gegen ein ungeliebtes sogenanntes Neues Hörspiel benutzt wurde. Eichs Entwicklung hat die Phase des Hörspiels der Innerlichkeit durchaus berührt, ohne eigentlich zu ihm beizutragen, und sie hat sich einem sogenannten Neuen Hörspiel genähert, ohne die eigene Position aufzugeben. Diese eigene Position war Eichs Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Eichs Weg war der immer radikalere Ausbau dieser Position. Von hier her, so scheint uns, müßten Interpretation und Realisation noch einmal neu ansetzen. So gesehen ist mein Versuch auch gedacht als ein Plädoyer, Eich noch einmal neu zu lesen und zu inszenieren. Die zitierten Aufsätze und Arbeiten Peter Horst Neumanns und anderer, neue und Neuinszenierungsversuche von Gustav Burmester, dann von Heinz Hostnig sind erste Schritte auf diesem Weg.
WDR 20.12.1976 (VGTHL 31)