"Ein singendes Wesen schwebte
durch unser Tal (...). Es sang schöner, als ich noch hörte: -
- Niemand, nirgends, nie."
(Die unsichtbare Loge,
erschienen 1793)
167 Jahre später beginnt beginnt Arno Schmidt seinen Roman Kaff mit den Worten "Nichts Niemand Nirgends Nie." Die zwei Leerstriche vor dem "Niemand" der Vorlage erscheinen bei ihm verbalisiert als "Nichts". Im Kaff-Kontext singt allerdings keine engelsähnliche Gestalt - das Wörterquartett alliteriert im Arbeitstakt einer Dreschmaschine.
Ist die verneinende Stabreimkette ein Plagiat? Nein, eher eine Art Hommage. Und ganz bewußt erhält Schmidts letztes abgeschlossene Werk den Titel Abend mit Goldrand (in der Vorlage "Goldrand des Abends"). Zitat und sprachliche Anlehnung drücken stille Anerkennung aus für einen Kollegen, der ihm am nächsten verwandt ist und in fast allen seinen Werken "präsent": JEAN PAUL. Auch er ein Mann der Zettelkästen, des enzyklopädischen Wissens, ein Wortmetz, Sprachbildner, Vollblutschriftsteller... lit-erratische Blöcke beide, und beide nun unter einem elysischen Dach.
Direkt oder indirekt verweisen immer wieder zeitgenössische Autoren auf jenen Wortweltenschöpfer, den Eckhard Henscheid "Deutschlands, vielleicht der Erde" Sprachmächtigsten nennt. Autoren von Profession kennen und schätzen ihn jedenfalls und lesen ihn schon von Berufs wegen. Wie aber steht es ums gemeine Lesevolk?
Spricht es nicht gegen unsere
Schulen, wenn es immer noch Germanistik-Studenten gibt, die auch den zweiten
Teil des Schriftstellernamens französisch aussprechen? Johann Paul
Friedrich Richter = Jean Paul... er ist den meisten fremd.
Schon früh verschreibt
er sich der Poesie, der einzigen zweiten Welt in der hiesigen. Er glaubt
an die intensivierende Wirkung von Literatur und formuliert vorsichtig,
aber im zeitlosen Präsens: "Wenn auch Bücher nicht gut oder schlecht
machen, besser oder schlechter machen sie doch."
Das gilt also auch für heute. Doch immer weniger werden diejenigen, die den Satz auf seine positive Gültigkeit überprüfen. Die Massenmedien haben eine Phase der allgemeinen Entliterarisierung eingeleitet, zudem hat sich das Freizeitverhalten der Lesefähigen geändert.
Die Mehrheit zieht als Masse von Einzelwanderern zur Ego-Gesellschaft, vorbei an Richtungsschildern mit der Aufschrift Besitz, Freizeit, Konsum. Der Weg dorthin ist beschwerlich, ermüdend der Kampf für die Freiheit der Ellenbogen. Doch fit muß sein, wer gut drauf sein will. Dem Körper wird einiges abverlangt, oft bis zur Selbstquälerei, aber auch dem Geist. Denn so wie ein Zuviel an Jogging, Tennis oder Survival-Training manche Leiber in die Knie zwingt, erfährt der Geist Ähnliches, wenn sein Besitzer die frei Zeit hauptsächlich bei Computerspiel, Video- und Fernsehunterhaltung durchbringt. Um abzuschalten, schaltet man den Bildschirm ein, das moderne Freizeitmedium per se, der Zeitvertreiber an sich. Er vertreibt so viel, daß für die altmodische Lektüre nur noch wenig übrig bleibt. Zwar bieten die Menschen immer noch den Anblick, den Hans Wollschläger am erträglichsten bei ihnen findet: wenn sie nämlich lesen. Was aber lesen die meisten? Am wenigsten literarisch anspruchsvolle Romane. Wenn's denn sein muß in mehreren Etappen den abgelagerten Bestseller (ein Geburtstagsgeschenk, falls Fragen kommen), einiges an Kurzprosa und etwas an Gedichten. Der Großteil jedoch betreibt Lektüre primär zur bloßen Information - Das große Computer-Handbuch; oder Wie verbessere ich meinen Aufschlag? -, durchstiert die Gehirnwaschprogramme der Fernseh-Illustrierten, fährt mit Scanner-Blick über das Fette der Tageszeitung und erhascht unterwegs noch zwei, drei Graffiti. Konzentriertes, längeres aktives Lesen, gar von Romanen, bedeutet Mühe, ja Mühsal und schlicht Verlust an Zeit. Das Leben ist doch viel zu kurz, um sich mit Langprosa aufzuhalten.
Das meint auch der TV-Zapper mit eingebeultem Lebenssinn, limitierter Libido und halbverwaistem Herzen. Sein Bedarf an Literatur wird gedeckt, wenn er dem bekannten Literaturkritiker lauscht, der mit wenigen Sätzen gerade die Weichen für ein Autorenschicksal stellt. Es reicht; was läuft auf dem nächsten Kanal? Auch da leicht verdauliche Kurzwaren und Petitessen.
So gehen Millionen Leser verloren. Was sollten sie auch lesen... Jean Paul etwa? - Warum nicht. - Aber der ist doch schon lange tot! - Sind das nicht alle unsere Klassiker? Daß sie in ihren Texten dennoch überleben ist vor allem den Lehr- und Spielplänen zu verdanken sowie der Tatsache, daß Gedichte und bekannte Dramen dem Leser/Zuschauer wie Appetithäppchen und gutbürgerliche Tagesgerichte von der Speisekarte der Literatur meist mundgerecht serviert werden. Jean Pauls wortgewaltige Romane haben es da etwas schwerer, da sie den Leser nicht so schnell abspeisen. Wer sie recht genießen will, braucht ein gutes Besteck, intakte Geschmacksnerven, Kenntnis von den Zutaten - und er sollte sich Zeit lassen beim Kauen, Schlucken und Verdauen.
"Das begreife ich nicht,
der ist noch über Goethe!" ruft Karl Philipp Moritz begeistert aus,
als er Jean Pauls ersten Roman liest. Herder gibt unter dem Eindruck der
Lektüre für Tage seine Arbeit auf. Auch Lichtenberg zeigt sich
beeindruckt von der Wucht der Worteskapaden und der himmelkippenden Bildersprache:
"Einen allmächtigern Gleichnis-Schöpfer kenne ich gar nicht."
Andere Töne kommen
von der Klassik-Firma Goethe & Schiller. Dem schwäbischen Dichter
erscheint Jean Paul "fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist", und
Goethe hämt lyrisch: "Der Chinese in Rom (...), der Kranke".
Nun schadet es wenig zu wissen, daß Jean Pauls Ruhm den von G & S zu jener Zeit geradezu überschattet. Die Mitwelt nennt ihn "den Einzigen". Und kaum ist der Konkurrent - wie auch Freund Schiller - beerdigt, revidiert Goethe sein Urteil und bescheinigt dem "so geschätzten als fruchtbaren Schriftsteller (...) eine unglaubliche Reife".
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts
schon las ihn nur eine kleine Minderheit. Unerfüllt geblieben ist
Börnes Wort, Jean Paul stehe gelassen "an der Pforte des zwanzigsten
Jahrhunderts" und warte lächelnd, "bis sein schleichend Volk ihm nachkomme."
Das aber keucht im Streßdreß oder gähnt zwischen Sein
und Schein vor der Pforte des einundzwanzigsten. Nachgekommen ist es ihm
nicht.
Warum sollte es ihn lesen?
Jean Paul ist nicht nur der geborene Erzähler, sondern auch Deutschlands
erster freier Schriftsteller. Unter schmerzlicheren Entbehrungen hat wohl
kein Autor seinen Beruf begonnen und wohl keiner mit größerer
Hingabe und Lust geschrieben als er. Nein, er kenne keine süßere
Sache als ein Buch zu schreiben - außer: eines zu entwerfen. Und
so erschafft er eine Wortwelt - das Register zählt 104 Werke -, in
der er seine großen Romane ansiedelt: Die unsichtbare Loge, Hesperus,
Siebenkäs, Titan, Flegeljahre, Leben Fibels und den Kometen.
Mit ihnen tritt der Roman als beliebteste Literaturgattung seinen Siegeszug in der deutschen Literatur an. Damals. Der Verfasser betrachtet seine Bücher als "dickere Briefe an Freunde" (seine Briefe entsprechend als "dünnere Bücher" für die Welt). Das intime Verhältnis zwischen Autor und Leser ist kein aufgesetztes, sondern unverwechselbares Kennzeichen Jean Pauls, des Erzählers wie des Menschen.
Zugegeben, diese "dickeren Briefe" machen es dem Adressaten, vor allem dem heutigen, nicht leicht. Immer wieder verführt - scheinbar - die überfließende Erzählfreude den Erzähler zu den witzigsten Abschweifungen, abwegig erscheinenden Einschüben, wahrlich phantastischen Visionen, skurrilen Nebensträngen, zu einem gelehrten Aufsatz, wie aus dem Stand verfaßt, oder zu einer wissenschaftlichen Abhandlung, wie aus der Hand geschüttelt - zu stillen Idyllen, meist der unheimlichen Art, absurden Grotesken und tränenschönen Träumen.
Der oberflächliche Leser
wie auch der verbildete Fachmann stören sich oft daran und nennen's
abwertend "Überladung", "Wucherung" oder "unnötiges Beiwerk".
Es ist weder unnötig noch beigewirkt, sondern gehört als nicht
nur stil- und strukturprägendes Element unverzichtbar zur jeweiligen
Haupthandlung: Gerade die Fülle des "wuchernden Beiwerks" enthält
satirische Seitenhiebe und politische Aussagen zu Mißständen
der Gesellschaft, von denen einige bis heute andauern.
Zeitlebens republikanisch
gesinnt (in des Wortes wahrer Bedeutung), bereitet Jean Paul literarisch
den Weg, um die "Throne" einzuebnen. Dabei erweist er sich als engagierter
Anwalt der Armen und aller, die im Pech der Welt kleben.
"Ich (...) sah, wie man
euch schindet - und die Herren vom Hof haben eure Häute an. Seht einmal
in die Stadt: gehören die Paläste euch, oder die Hundshütten?"
Diese Frage stellt nicht Büchner. Dessen Motto "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" erschallt Jahre später. Und auch die folgenden Sätze stehen nicht im Hessischen Landboten; Flamin spricht sie im 40 Jahre zuvor erschienen Hesperus. "Die bleichen Großen haben überhaupt kein Blut, das wenige ausgenommen, was sie den Untertanen abschröpfen oder was ihnen an den Händen klebt, wie die Insekten kein rotes Blut bei sich führen als das den anderen Tieren abgezogene."
Anders als seine Zeitgenossen Goethe und Schiller begrüßt Jean Paul die Französische Revolution. Scharf distanziert er sich von ihrem Terror, nie jedoch von den postulierten Idealen. Nicht nur deshalb ist er den beiden Weimarer Dichtern suspekt: auch literarisch trennen sie Welten.
Vergleicht man Goethes Wilhelm-Meister-Romane
mit dem Hesperus, werden die Unterschiede deutlicher. Goethe spiegelt
in seiner Erzählwelt den Spätfeudalismus; dabei sieht er die
sozialen Verhältnisse meist als gegeben und die Anpassung des Individuums
an die Gesellschaft als Zeichen der Reife. Sein Gesellschaftsbild spart
das eigentlich Politische ebenso aus wie den Humor.
Nicht so die Romane Jean
Pauls. Sie zeigen, daß die Gesellschaft eine Veränderung dringend
nötig hat. (Und wer mehr über den politischen und philosophischen
Dichter erfahren will, sollte bei Wolfgang Harich nachlesen). Die positiven
Helden beweisen ihre Reife dadurch, daß sie sich hohen Idealen verschreiben,
z.B denen der Revolution. So suggeriert Jean Paul sittliche Vorbilder.
Die "gebildete Persönlichkeit" als Goethesches Ideal ist ihm zu wenig.
(Von einer Romanfigur heißt es: "Er war ein schöner Geist, hatte
aber keinen anderen.")
Jean Paul hält die bürgerlichen
Tugenden hoch, ohne dem Spießer das Wort zu reden. ("Ein Mensch
von Talenten und ein Bürger von Talenten hassen einander gegenseitig.")
Er plädiert für eine Gesellschaftsveränderung mit einer
gerechteren Verteilung der Güter, setzt sich ein für Kultur und
Menschlichkeit und stellt die Unterdrückung der Frau an den Pranger.
Seine "Kriegserklärung gegen den Krieg" ist Teil der Erziehung zum
Frieden und sollte neben den klassischen Dramen im Kanon der Schullektüre
stehen.
Dem Tucholsky-Zitat "Soldaten
sind Mörder" hätte er nicht widersprochen, wohl aber seines daneben
gestellt: "Soldaten sind bezahlte Leichenmacher" - und damit der Zensur
ein Schnippchen geschlagen. In Leben Fibels lesen wir vom Vater
der Titelfigur und seiner Erziehung: "Um ihn [den Sohn] zum Offizier zu
bilden, ließ er ihn nichts lernen." - Zur Masse Mensch macht er sich
tiefe Gedanken und Hoffnungen. Aber keine Illusionen: "Denn, o Freund,
was ist der Mensch, besonders mehr als einer!" - Und als Paar? "Frauen
führen Männer nur dann auf Irrwege, wenn sie selber mitgehen."
Aber gerade im Zeichnen der inneren Zustände des Einzelnen erweist sich der "vielstimmigste unter den deutschen Dichtern" als klarer, philosophischer Maler. Wenige haben wie er über menschliche Erfüllung und Zerrissenheit so tief nachgedacht, keiner hat Gefühle und Empfindungen so anschaulich, ja unmittelbar geschildert, jedenfalls nicht in einer solch "singenden Prosa" (Kommerell), deren Schwingungen die Seele mitbeben läßt. Weder Film noch Bühne erzielen in der Darstellung menschlicher Innenwelt die plastische Dichte der Sprachgemälde Jean Pauls in ihrer einzigen Mischung aus kritischem Zeitrealismus, Phantasie, Philosophie und Humor.
Liebe, Freundschaft, Haß - Glück und Schmerz bestimmen das Schicksal von Albano, Flamin, Roquairol, Linda, Wina, Giannozzo, Walt und Vult... Namen, die in einem Zug genannt werden sollten, sobald die Standard-Laute Werther, Maria Stuart, Faust und Gretchen als Ehrfurchtshaucher dazu herhalten müssen, die Selbstschmeichelei des Bildungsbürgers zu tarnen.
Die Werke dieses polyphonen Dichters sind Augenöffner für eine fiktionale Wirklichkeit, die mehr an Erfahrung und Welt bietet als der reale Lebensbereich des gewöhnlichen Lesers. In ihnen kann er die Menschheit, den Menschen und somit sich selbst mit Gewinn und Genuß studieren. Und wenn diese Bücher die Leser - wie es sich ihr Verfasser wünscht - "besser" machen, tragen sie zudem zur Humanisierung der Gesellschaft bei. Gewiß kein unverächtliches Ziel. Statt weiterzuschleichen sollte man es schleunigst anvisieren mit der Lektüre der Flegeljahre, des Siebenkäs, Hesperus etc.
Oder soll Jean Paul noch länger warten?
Armin Elhardt, Wann kommst du, schleichendes Volk? Plädoyer für einen wartenden Dichter. Edition Wuz Nr. 3, Freiberg 1997.