Reinhard Döhl | Vorläufiger Bericht über Erzähler und Erzählen im Hörspiel

I

1954 gab Otto Heinrich Kühner als einer der ersten Autoren nach dem Kriege eine Sammlung eigener Hörspiele heraus (1), der er "Eine Dramaturgie des Hörspiels, der Funkerzählung und des Features" anhängte, die nach Auffassung Dieter Hasselblatts "zum Knappsten und Besten" gehört, "was zur Charakterisierung der funkeigenen Kunstformen bislang vorliegt" (2), während Eugen Kurt Fischer von "Faustregeln" spricht, "wie sie etwa Otto-Heinrich Kühner aus der Praxis des Schreibens und Hörens heraus entwickelt hat, aber kaum eine dieser Regeln ist allgemeingültig" (3). Sieht man einmal von der langjährigen Kontroverse zwischen Heinz Schwitzke und Friedrich Knilli um literarisches Hörspiel versus totales Schallspiel ab (4), wobei Knilli seiner temperamentvoll vorgetragenen Auffassung heute selbst nicht mehr ganz zu folgen bereit scheint (5), so ist der von Kühner vorgeschlagenen Typologie bis beute eigentlich nie ernsthaft widersprochen worden (6), dagegen wurde sie im einzelnen kritisiert, differenziert und gewichtet. So gilt Schwitzke das Feature nur als "ein Zweig am großen Stamm des Hörspiels", als eine "temperamentvolle und lebenstüchtige, mehr jounalistische Schwesterform", von der allerdings "besonders formal und methodisch" das eigentliche Hörspiel in seiner historischen Entwicklung "vielerlei wichtige Impulse erhalten" habe (7). Der Funkerzählung begegnet Schwitzke mit Mißtrauen: "Auch im Hörspiel gibt es gelegentlich Beispiele dafür, daß der Autor als 'Erzähler' oder 'Sprecher' zwischen den Szenen selbst in Erscheinung tritt. Die Methode wird bisweilen durch die Etikettierung als 'Funkerzählung' entschuldigt, kann aber wohl nie als künstlerisch ganz zureichend empfunden werden." (8) Oder an anderer Stelle: "Ich muß gestehen, daß ich hier Kühner nicht folgen kann, daß ich eine episch-dialogische Mischform immer als bequem, halbgar und chimärisch empfinde, wenn nicht wenigstens der Erzähler auch für den Hörer selbst Figur und Schicksal wird." (9) Schwitzke nimmt dabei zum einen Wolfgang Hildesheimers "Das Opfer Helena" als "Sonderfall" (10), zum anderen "Kühners unvergeßliche Hörspiel-Geschichte 'Die Übungspatrone'" als "formal vorbildlich" (11) aus seiner Kritik ausdrücklich aus.

Kühner ist von Schwitzkes Hörspielauffassung zunächst gar nicht so weit entfernt, wenn er feststellt: "Da man im Hörspiel das Geschehen nur in einer Art Phantasieraum erlebt, muß man es ohnedies mehr als anderswo von innen her erleben. Dies wird von außen her durch den Wechsel der Darstellungsarten, nämlich des Dramatischen, Epischen und Lyrischen unterstützt." (12) "Entscheidend für das einzelne Hörspiel wird es sein, ob der Stoff einen dramatischen, epischen oder lyrischen Kern enthält." (13) Trotz der zugestandenen Schwierigkeit, die "Grenzen zwischen dem Hörspiel und der Funkerzählung (...) zu ziehen", vermutet Kühner: "Vielleicht liegt der Unterschied nur darin, daß bei dem epischen Hörspiel der Dialog, bei der Funkerzählung - oder der Funknovelle - dagegen der Sprechertext überwiegt" (14), wobei ihm interessanterweise die von Schwitzke als "Hörspiel-Geschichte" eingestufte "Übungspatrone" als Beispiel für die Schwierigkeit der Grenzziehung gilt. Ja sie führt sogar im Druck die Gruppe der "Hörspiele" an (15).

Auch für Hasselblatt ist "die Funkerzählung (...) keine Misch- oder Grenzgattung. Sie ist auch nicht aus zufälligen Gelegenheitstreffern von Hörspielautoren zu erklären. In der Funkerzählung manifestiert sich eine eigene Weise des Erzählens, die ohne den Funk kaum in der heute feststellbaren Gestalt aufgetreten wäre." (16) Dabei bedarf es "genau genommen keiner Ursprungserörterung, um nachzuweisen, daß es nicht nur Funk-Erzählungen (l7), sondern die Funkerzählung längst und recht eigenständig gibt. Das Erzählen hat im modernen technischen Publikationsmedium seinen festen Platz und seine nach Hunderttausenden zählende Zuhörerschaft." (18) In der Tat hat das, was Kühner und Hasselblatt Funkerzählung nennen, inzwischen nicht nur durch Rüber und Hasselblatt seine anthologische Sammlung gefunden, sondern sich auch in den Programmen einiger Rundfunkanstalten so etwas wie einen festen Programmplatz erobert.

Wesentlich differenzierter als Kühner unterscheidet Fischer für das "Originalhörspiel", das er in "Die Gattungen des einsinnigen Spiels" vom "Hörspiel als Reproduktion" (19) abhebt, zwischen dem "dramatischen Hörspiel", der "hörszenischen Reportage", dem "epischen Hörspiel", dem "lyrischen Hörspiel", "Mischformen aus dramatischen, epischen und lyrischen Elementen" und dem "Feature". (20) Dabei behandelt er die Funkerzählung wohl nicht von ungefähr sowohl unter dem Aspekt des "epischen Hörspiels" ("Das Originalhörspiel"), wobei er interessanterweise die Bezeichnung Funkerzählung fast gänzlich meidet, als auch unter dem Aspekt der "adaptierten Epik als dramatisches Spiel" ("Das Hörspiel als Reproduktion"): "Einen Schritt weiter" als die Bearbeiter einer epischen Vorlage "gehen die Autoren von Funkerzählungen, die nicht nur formal, sondern auch in der Wahl des Gegenstandes selbständige Gebilde sind, also überhaupt nichts mehr mit Adaptierung zu tun haben, sondern genau wie das Originalhörspiel freie Dichtungen sind." (21) Auch für Fischer ist eine Grenzziehung schwierig: "Die Stimme, die etwas funkgemäß ausspricht, das nicht Literatur sein will und auch nicht Bericht, ist dem Hörspiel und der Funkerzählung gemeinsam. Die Übergänge sind zahlreich. So wollen wir abwarten, ob die praktische Rundfunkdramaturgie mit der Zeit zur reinlichen Scheidung zweier autonomer Kunstformen kommt, oder ob innerhalb der so vielfältigen Möglichkeiten des Hörspiels nicht doch auch weiterhin Raum bleibt für seine Sonderform Funkerzählung." (22)

II

Der bisherige Überblick macht deutlich (23), daß keiner der zitierten Autoren die Existenz einer Funkerzählung eigentlich in Frage stellt, er zeigt aber zugleich Unsicherheiten in ihrer typologischen Einschätzung als Sonderform, als Mischform, als eigenständige Gattung. Die Daten der Erstsendungen der von Rüber und Hasselblatt gesammelten Funkerzählungen - 1956-1963 - lassen zwar seit spätestens Mitte der fünfziger Jahre (24) eine umfangreichere und bewußte Produktion von Funkerzählungen sowohl bei Autoren als auch bei den Runkfunkanstalten erkennen, aber während einzelne Rundfunkanstalten - so z.B. der Süddeutsche Rundfunk - der Funkerzählung einen festen Platz in ihrem Hörspielprogramm zugewiesen haben, zeigen sich andere Rundfunkanstalten gegenüber der Funkerzählung äußerst enthaltsam - so z.B. der Norddeutsche Rundfunk. Das läßt den Schluß zu, daß sich die Funkerzählung als eigenständiger Hörspieltyp bisher noch nicht ganz durchzusetzen vermochte, wobei zu fragen wäre, wieweit hier das Hörspielverständnis einzelner Hörspieldramaturgien als Sperre mitgewirkt hat (25). Aus einem solchen unterschiedlichen Hörspielverständnis erklärt sich auch leicht eine oft kontroverse Bewertung früher, in unserem Zusammenhang interessanter Hörspiele: "Längst und noch einige Jahrzehnte davor gab es Hermann Kessers psychologische Monologerzählung 'Schwester Henriette', eine unverkennbare Fortführung der von Arthur Schnitzler mit 'Leutnant Gustl' oder 'Fräulein Julie' eingeschlagenen Richtung des monologue interieur. Aber auch Hermann Kessers 'Straßenmann' (1930) zeigt eine dramaturgische Prädominanz des Erzählerischen." (26 )

Fischer zitiert zwar diese Auffassung Hasselblatts (27), rechnet selbst aber den "Straßenmann" zum Typ des dramatischen Hörspiels (28), weist in seiner Analyse des Features auf dessen "Reportagecharakter" hin (29) und begreift "Schwester Henriette" wesentlich als monologisches Spiel (3O). Schwitzke schließlich notiert zwar, daß die Hörspiele Kessers "ursprünglich als Prosaarbeit niedergeschrieben" waren, empfindet aber beim "Straßenmann" die "vielleicht als ein Relikt der Erzählfassung" zu verstehende "'Stimme des Autors', die den breitesten Raum einnimmt", als "fragwürdig" (51). Für "Schwester Henriette" ist es ihm sogar "fast unbegreiflich, daß der Text des Stückes nicht mit dem Blick auf die Hörspielverwirklichung, sondern zuerst als Novelle geschrieben wurde" (32).

Es kann hier nicht darum gehen, die divergierenden und kontroversen Auffassungen im einzelnen zu analysieren, wozu auch der zur Verfügung stehende Raum nicht ausreichen würde. Es kann auch nicht darum gehen, in der Auseinandersetzung mit ihnen eine wissenschaftlich stichhaltige Theorie der sogenannten Funkerzählung herauszuarbeiten. Dafür ist die Geschichte des Hörspiels noch viel zu unübersichtlich. Was ich statt dessen versuchen will und kann, ist, einige Teilaspekte herauszustellen, einige historische Voraussetzungen zu beschreiben, um so die Frage nach der sogenannten Funkerzählung noch einmal neu zu stellen und damit vielleicht - wenigstens für einen Teilaspekt - eine wissenschaftliche Hörspielforschung, zumindest im Ansatz, anzudeuten.

III

Jeder Versuch, etwas über das Hörspiel wie auch immer auszusagen, setzt mindestens drei Prämissen voraus, die zwar bekannt, gelegentlich aber zugunsten einer nur am Literarischen des Hörspiels interessierten, bei einer werkimmanenten Analyse und Interpretation des Hörspiels stehenbleibenden Auseinandersetzung in Vergessenheit gerieten, bis Helmut Heißenbüttel sie auf der "Internationalen Hörspieltagung" in Frankfurt/Main (1968) (32a) und vor allem in seinem Aufsatz "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese" wieder einmal nachdrücklich in Erinnerung brachte, wobei er dem Feature innerhalb der Hörspielentwicklung eine zentrale, da mediumspezifische Rolle zuweist: "Wenn der Hörspielentwicklung etwas abzulesen ist, das mediumeigene Gesetzlichkeiten reflektiert, so ist es zunächst nur die Verbindung, die sich von der grundsätzlichen Aufgabe der Information zum illusionären Spiel ziehen läßt. Im Gebrauchscharakter einer populären Hörspielform, die unmittelbar ins Feature übergeht und literarisch-ästhetische Kriterien nur als grob handwerkliche Regeln anerkennen kann, zeigt sich die erste legitime Form, die sich aus dem Medium entwickelt." (33)

Folgende 3 Prämissen müssen also allen weiteren Überlegungen vorangestellt werden:

1. "Das Hörspiel verdankt sein Entstehen einer Auftragssituation. (...). Die Auftragssituation, aus der das Hörspiel entstand, entsprach den Anfängen der Rundfunkprogramme etwa in Deutschland und England." (34) - Diese Auftragssituation gilt aber nicht nur für die Entstehungszeit des Hörspiels, sie gilt eigentlich bis heute. Entsprechend kann Johann M. Kamps davon sprechen, daß "unaufgefordert eingereichte Manuskripte (...) nach der Prüfung durch das Lektorat seltener bis zur Produktion" gelangen "als Auftragsarbeiten" (35), und Kühner kann einer augenscheinlich für die Autoren der Hörspieldramaturgie des Süddeutschen Rundfunks bestimmten Vervielfältigung seines Aufsatzes "Über die Funkerzählung" den einleitenden Abschnitt vorschalten: "Die Hörspielabteilung des Süddeutschen Rundfunks plant, im Winterhalbjahr 1961/62 eine Reihe von Funkerzählungen zu senden, und will zu diesem Zweck einigen Autoren entsprechende Aufträge erteilen. In diesem Zusammenhang scheint es angebracht, eine Definition der Funkerzählung zu versuchen, vor allem ihrer Abgrenzung gegenüber dem epischen Hörspiel auf der einen und der Leseerzählung auf der anderen Seite." (36)

2. "Das Hörspiel hat einen bestimmten (oder nach Tages- und Tageszeitenterminen variierenden) Platz in einem Programm, das ganz bestimmten Schematisierungsregeln unterworfen ist. Kein Hörspielleiter oder Dramaturg kann sich darüber hinwegsetzen, daß er das Hörspiel placieren muß. Alle ästhetischen und werkimmanenten Kriterien müssen auf diesen Placierungszwang bezogen werden. Denn ungesendet ist das Hörspiel nichts als ein Manuskript unter anderen. Hier sind zunächst die Differenzen zu sehen, die das Hörspiel als Literatur von der übrigen literarischen Szene scheiden." (37) Das heißt, jede Analyse und Interpretation wird angeben müssen, von welcher Sorte Hörspiel sie eigentlich spricht, bzw. welche Programmsparte sie meint: denn was unter Hörspiel angeboten wird, reicht vom "angewandten Hörspiel" (38) über die sogenannte Soap Opera, als Spiel aufbereiteten Lehrstoff, auf Stimmen verteilte Texte des Kinderfunks, über Dialekt-, Kriminal-, Science-Fiction-Hörspiele (39) bis zu ambitionierten literarischen Hörspielen, und nur das wenigste wird von den Hörspieldramaturgien betreut. Ja selbst zwischen den Sendetagen und -zeiten und den Programmen müßte man unterscheiden (40).

3. Neben der speziellen Auftragssituation und dem spezifischen Stellenwert des Hörspiels im Programm wird die Analyse und Interpretation bei literarisch ambitionierten Hörspielen auch das literarische Panorama der Zeit mit berücksichtigen müssen, etwa bei der Analyse der Hörspiele Michel Butors, auf die Heißenbüttel in seinem Vortrag rekurriert, den theoretischen Hintergrund des nouveau roman, der auch in unserem Zusammenhang eine Rolle spielen wird, mehr jedenfalls als die wiederholt zitierten Erzählungen Schnitzlers.

Diese drei genannten Gesichtspunkte machen einsichtig, wie kompliziert jede Hörspielanalyse und Interpretation sein muß, und, warum die bisher vorliegende Hörspielliteratur, vor allem bei nicht genügender Berücksichtigung einzelner dieser Aspekte, notwendig widersprüchlich bleiben mußte.

IV

Für unser Thema relativ unergiebig scheinen dabei zunächst die ersten fünf Jahre Hörspielgeschichte, über die wir bisher - trotz mancher Bemühung (4l) - noch nicht genug wissen. Dennoch fallen auf Schwitzkes verdienstvoller "Zeittafel" (42) drei Titel ins Auge, denen selbst dort, wo man nur auf Vermutungen angewiesen ist, für unseren Zusammenhang einige Bedeutung zukommt. Ich meine: "Spuk" von Rolf Gunold (1925), den Roman in Fortsetzungen (!), "Die Katastrophe", von Gramatzki (1925) und "Michael Kohlhaas" von Arnolt Bronnen (1927). Entgegen einer Korrespondentennotiz Ulrich Lautetbachs (43) ist das Manuskript Gunolds bisher nicht aufgefunden worden (44). Aber schon der bekannte Untertitel ist aufschlußreich, weil er als "Gespenstersonate nach Motiven E. T. A. Hoffmanns" auf eine Bestimmte Prosa-Vorlage und - mit allen Vorbehalten - wohl auch auf eine bestimmte Erzählhaltung verweist. Über den Roman in Fortsetzungen, "Die Katastrophe", konnte ich ebenso wenig ermitteln wie über seinen Autor Grammatzki (45). Daß hier allerdings ein Roman in Fortsetzungen über den Funk ausgestrahlt wurde - ob vom Autor, von einem Sprecher gelesen oder auf mehrere Sprecher verteilt, spielt dabei im Moment keine Rolle - signalisiert eine Sendegepflogenheit, die bis heute ihre Tradition bewahrt hat (46).

Wo Sendungen dieser Art von Hörspieldramaturgien (mit) betreut werden, wird man zumeist mit Recht von adaptierter Epik, in vielen Fällen von "adaptierter Epik als dramatischem Hörspiel" sprechen können, die Fischer als "Hörspiel als Reproduktion" vom "Originalhörspiel" unterschieden wissen will. Solche Sendungen haben, soweit es sich um kulturhistorisch wichtige Vorlagen handelt, bei einer äußerst pluralistischen Zuhörerschaft durchaus einen Sinn als Vermittlung musealen Bildungsgutes, als "Kulturübertragungsdienst", wie Knilli etwas hochmütig abwertet (47). "Die Adaptionen von Prosa und Schauspiel halten sich immer noch weitgehend an das Prinzip größtmöglicher Originaltreue, geht es doch darum, dem Unkundigen Kulturgüter nahezubringen oder ins Gedächtnis zurückzurufen, die Lektüre des Buches oder den Besuch der Aufführung zu ersetzen, nicht ohne dabei auf den Erfolg der Vorlage zu vertrauen und damit den Erfolg der eigenen Sendung sicherzustellen." (45) Eine in diesem Zusammenhang literatursoziologisch interessante Beobachtung teilt Klaus Peter Lischka mit: "Vor einiger Zeit habe ich mich an einer Diskussion über Hemingways Roman "For whom the bell tolls" beteiligt (...) Nachher saß ich dann noch mit sieben Beteiligten in einem kleinen Lokal zusammen. Während der Unterhaltung machte ich eine verblüffende Feststellung. Von den sieben Studenten hatte nur ein einziger den Roman von Hemingway gelesen; drei hatten den Film gesehen, einer das Hörspiel gehört, und die restlichen zwei kannten sowohl das Hörspiel wie den Film. Soeben aber hatten sie alle sieben über den Roman eingehend diskutiert." (49)

Auf die Schwierigkeiten derartiger Adaptionen geht Fischer ausführlicher ein: Anders als beim "dramatischen Hörspiel als adaptiertem Bühnenstück", wo der Bearbeiter "ein Kunstwerk, das bereits im Hinblick auf ein vermittelndes szenisches Medium, das Theater, geschaffen wurde, den Gestaltungsbedingungen eines anderen Vermittlungsinstrumentes anpassen" muß, habe es der Bearbeiter epischer Vorlagen leichter. Seine wesentliche Aufgabe bestehe "in der taktvollen Kürzung der Vorlage auf eine der erkundbaren Hörbereitschaft eines Teilnehmerdurchschnitts angepaßte Spieldauer". Schwierigkeiten sieht Fischer vor allem in der möglichen Gefahr, "die gattungsbedingte epische Breite völlig einzubüßen, und nur noch ein Handlungsskelett übrig zu behalten, das fast nur noch aus Dialogen besteht", bzw. bei "Erzählungen mit wenig Dialog, also ausgesprochen epischen Gebilden ohne nennenswerten dramatischen Gehalt", da der Bearbeiter" in den meisten Fällen ganz erheblich kürzen" muß, "es sei denn, er schaffe eine Funkerzählung, die in mehreren Fortsetzungen dargeboten wird und möglichst viel vom Originalwerk in unveränderter Form bieten will" (50). Fischer verweist in diesem Zusammenhang auf die erfolgreichen Fortsetzungssendungen deutscher, französischer, englischer und schweizer Rundfunkanstalten, in denen Romanbearbeitungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausgestrahlt worden seien: "Die deutschsprachige Schweiz hat Jeremias Gotthelf zu neuem Leben erweckt, und bei uns hat man sogar Cervantes' "Don Quijote" in wohldosierten Abschnitten ohne allzu gravierende Kürzungen gesendet." (51)

Einen ganzen Schritt weiter scheinen mir aber schon die von Fischer ebenfalls in diesem Zusammenhang aufgeführten Adaptionen von Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" durch Bronnen, von Johann Wolfgang von Goethes "Novelle" durch Max Ophüls und von Theodor Fontanes "Unterm Birnbaum" durch Günter Eich zu gehen. Fischer wertet sie als einen "gangbaren Mittelweg (...) zwischen Dienst am älteren Kunstwerk, Wirkungssteigerung durch behutsamen Gebrauch radiophonischer Möglichkeiten und eigener Gestaltung mit dichterischen Mitteln" (52). Was allerdings Fischer als "gangbarer Mittelweg" gilt, ist Schwitzke bereits Sakrileg:

"So wurde gar Goethes "Novelle" zum Hörspiel; was als klassisches Beispiel eines ganz bestimmten Typus' und recht eigentlich um der Demonstration reiner Form willen von einer Autorität erfunden worden war, konnte, ohne daß eine literarische Polizei eingriff, zu einem ganz anderen Typus umgebogen und - um eine Wortprägung aus verwandter Gesinnung zu gebrauchen - "zweckentfremdet" werden. Selbst ein so bedeutender Lyriker und Rundfunkintendant wie Friedrich Bischoff, ließ sich von dieser "Doppelpunktdramatik" verwirren, selbst ein so großer Regisseur wie Max Ophüls gab sich dafür her. Besonderer Scherz des Regisseurs: an der Stelle, wo die einsam zurückgelassene Fürstin dem davonreitenden Jagdzug mit dem Teleskop nachblickt, wird die Vortrefflichkeit des Okulars dadurch angedeutet, daß man plötzlich das zuvor schon entrückte, kilometerferne Pferdegetrapp wieder so nahe wie unmittelbar vor der Haustür hört." (53)

Nun ist jener "besondere Scherz" zum einen ein wenn vielleicht auch etwas drastisches Beispiel für das, was Fischer "behutsamen Gebrauch radiophonischer Möglichkeiten" nennt, das Ersetzen von etwas Visuellem durch etwas Akustisches. Zum anderen übersehen, meine ich, beide Autoren einen nicht unwesentlichen Punkt. Könnte man bei Ophüls noch darüber streiten, bei Bronnen und Eich sollte man sicher annehmen können, daß das Aufgreifen und die Adaption einer literarischen Vorlage anders gewertet werden muß als zum Spiel aufgearbeiteter Bildungsstoff, als die Bearbeitung einer epischen Vorlage für Lesefaule.

Schwitzke teilt an anderer Stelle selbst mit, daß Eich die Fontane-Erzählung "besonders" liebe, "weil in ihr die Menschen seiner Heimat auftreten". Im weitesten Sinne vielleicht dem Forschungsproblem des Zitierens im Sinne von Centonen zuzurechnen, ließe sich bei den Adaptionen Ophüls, Bronnens und Eichs von Reproduktionen literarischer Vor-Bilder (in einem wörtlichen Sinne) sprechen, vom Verfügbar- oder Zugänglichmachen jeweils subjektiv geschätzter, vorbildlicher Literatur, wobei die Adaptionen durchlässig bleiben auf das davorliegende Original. Ohne mich hier auf eine Einzelanalyse einlassen zu können (54), läßt sich - meine ich - die Behauptung aufstellen, daß hier ein spezieller Hörspieltyp vorliegt, der in seiner subjektiven Adaption und Filterung einer subjektiv vorbildlichen epischen Vorlage sehr wohl Rückschlüsse über den Bearbeiter als Autor zuläßt, ohne ihn gegenüber seiner Vorlage qualitativ ins Recht zu setzen. Wie sehr Fontane übrigens zur Bearbeitung herauszufordern scheint, mag Emil Merkers Aufsatz "Buch und Hörspiel" andeuten, in dem er beschreibt, wie eine Hörspielbearbeitung der "Effi Briest" ihn überzeugt habe, daß man sehr wohl ein Buch sinnvoll zu einem Hörspiel umformen könne (55).

Auch in diesem Fall müssen wir übrigens wiederum von einer Tradition sprechen, die etwa mit der Bronnenschen Adaption von Kleists "Michael Kohlhaas" einsetzt - das Manuskript ist erfreulicherweise wieder aufgefunden und als Neuproduktion des Hessischen Rundfunks 1953 noch einmal gesendet worden - und der nach 1945 Eichs "Unterm Birnbaum" (1950) ebenso zuzuzählen ist wie Friedrich Dürrenmatts frühes Hörspiel "Der Prozeß um des Esels Schatten" (1952)(56), wobei für Eich seit spätestens 1933 Bearbeitungen von Vorlagen nachweisbar sind, u. a. Hebels, Ljeskows (zweimal), Maupassants, Mérimées.

Nach der "Michael Kohlhaas"-Adaption von 1927 folgen mit Kessers "Schwester Henriette" (1929)(57), mit Kessers "Straßenmann" (58) und Alfred Döblins "Die Geschichte von Franz Biberkopf" (59) (beide 1930) drei weitere, für unseren Zusammenhang in vielfacher Hinsicht aufschlußreiche Hörspiele. Zum Alexanderplatz-Hörspiel gibt es eine etwa gleichzeitige Filmversion (60), und zur alten Fassung von 1930 eine neuere, ausdrücklich als "Bearbeitung", als "Hörspiel nach dem Roman von Alfred Döblin" angekündigte Fassung von Wolfgang Weyrauch (61), zu der er möglicherweise durch seinen Versuch angeregt wurde, die stenographische Nachschrift des einzig erhaltenen Plattensatzes der alten Aufnahme zu überprüfen.

Bevor ich jedoch auf diese Hörspiele eingehe, ist es aus methodischen Gründen notwendig, sich ausführlicher mit der Hörspieldiskussion der Jahre 1927/1929 zu beschäftigen, die also genau zu jener Zeit erfolgte, in der nach Meinung Schwitzkes ein erster, vor allem durch mehr oder weniger dilettantische Begeisterung charakterisierter Abschnitt der Hörspielgeschichte endet, mit der "der neue, endgültige Anfang" eigentlich erst gemacht wird.

V

Diese Hörspieldiskussion liefert nämlich interessante Aufschlüsse über das literarische Selbstverständnis von Produzenten, Dramaturgen und Autoren, macht Probleme und Fragestellungen einsichtig, die aus einer reinen Hörspielanalyse nicht so ohne weiteres, falls überhaupt, abgeleitet werden können. Ich meine hier vor allem Bertolt Brechts "Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks" (62), das Referat Friedrich W. Bischoffs über "Die Dramaturgie des Hörspiels" (63) auf der Sitzung des Programmausschusses der deutschen Rundfunkgesellschaften in Wiesbaden, 1928, und die Berichte und Aussprachen der
Arbeitstagung "Dichtung und Rundfunk" in Kassel, 1929.(64) Alle drei machen bereits beim Anlesen deutlich, daß von keiner Seite nach nun immerhin rund drei- bis fünfjähriger Hörspielpraxis die Kluft bzw. die Spannung zwischen Literatur und technischem Medium völlig übersprungen bzw. abgebaut werden konnte. Und sie bestätigen, was eine bis ins einzelne gehende Analyse früher Hörspielbeispiele erweist: daß jede neue Sendung gleichsam so etwas wie eine neue Versuchsanordnung war, deren Ergebnisse im günstigsten Falle Teilergebnisse blieben, ohne daß man diese Teilergebnisse zu einer übergeordneten Theorie zusammenzubringen vermochte.(65)

Nahezu folgenlos blieben Brechts gesellschaftstheoretische Forderungen gegenüber dem Rundfunk, z. B. "aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen. In dieser Hinsicht würden Sie zum Beispiel schon allerhand erreichen, wenn Sie es aufgäben, für die wunderbaren Verbreitungsapparate, die Sie zur Verfügung haben, immerfort nur selbst zu produzieren, anstatt durch ihre bloße Aufstellung und in besonderen Fällen noch durch ein geschicktes zeitsparendes Management die aktuellen Ereignisse produktiv zu machen." (60) Wir können für unseren Zusammenhang diesen Aspekt, dem sich wesentlich noch die Frage, "wie man Kunst und Radio überhaupt verwerten kann" ("Über Verwertungen"), die Forderung, den "Rundfunk nicht zu beliefern, sondern zu verändern" ("Erläuterungen zum 'Ozeanflug'") zuordnen, ausklammern und uns auf Brechts Interesse an der "Produktion für das Radio" beschränken:

"Was die Produktion für das Radio betrifft, so sollte sie, wie gesagt, erst an zweiter Stelle kommen, aber dafür sehr intensiviert werden. Man hört selten etwas von Arbeiten bedeutender Musiker für Ihr Institut. (...) Was die Hörspiele betrifft, so sind hier ja tatsächlich von Alfred Braun interessante Versuche unternommen worden. Der akustische Roman, den Arnolt Bronnen versucht, muß ausprobiert und diese Versuche müssen von mehreren fortgesetzt werden. Dazu dürfen auch weiterhin nur die allerbesten Leute herangezogen werden. Der große Epiker Alfred Döblin wohnt Frankfurter Allee 244 (Berlin). (...) Mit der Zeit müssen Sie doch auch endlich eine Art Repertoire schaffen können, das heißt, Sie müssen Stücke in bestimmten Intervallen, sagen wir alljährlich, aufführen. Sie müssen ein Studio einrichten. Es ist ohne Experimente einfach nicht möglich, Ihre Apparate oder das, was für sie gemacht werden wird, voll auszuwerten." (67)

Ein Jahr später summiert Bischoff: "Der Begriff der Dramaturgie als Bezeichnung für die theoretische und praktische Wissenschaft, wie ein Drama szenisch aufzubauen ist, setzt, auf das Hörspiel angewandt, voraus, daß das Wesen des Hörspiels, seine Form und Gestalt, bereits eindeutig umschrieben und ästhetisch festgelegt ist. Das ist aber keineswegs der Fall, und so kommt es, daß noch keines der eigens für den Rundfunk geschriebenen Spiele, gemessen an den bisher aufgestellten Theorien über das Wesen des Hörspiels, rückhaltlos zu überzeugen vermochte. Daraus kann gefolgert werden, daß entweder alle bisher aufgestellten Theorien falsch sind und, selbstherrlich wuchernd, das reine Hörspiel erstickt haben oder die Form des Hörspiels ebenso wie seine Ästhetik erst in den Ansätzen vorhanden ist. Der Widerstreit der Meinungen beweist, daß alles noch im Werden ist." (68)

Zwei Gedankengänge Bischoffs sind dann vor allem von Interesse. Zunächst die Überlegung, daß sich aus der Tatsache, daß "Rede und Widerrede im Hörspiel möglichst reine Ausdrucksbewegungen sein müssen, um vom Hörer unmittelbar gefühlsmäßig erlebt werden zu können", ergebe, "daß das Wort funkdramaturgisch in die ursprüngliche Ausdrucksbewegung der Hörsprache aus der Schriftsprache zurückgeleitet werden muß" (69). Dieser Gedankengang kehrt bezeichnenderweise in der Folgezeit immer wieder, auf der Kasseler Tagung z.B., wovon noch zu reden sein wird, oder bei Kühner - der, bewußt oder unbewußt an die Ausführungen Arnold Zweigs anknüpfend, für die "Sprache der Funkerzählung" festhält:

"Sie ist nicht wie die geschriebene oder gedruckte Sprache vorgedacht und vorgeformt. Während die Lesenovelle sich kunstvoll gliedern kann und von Gedanken durchwoben sein darf- der Leser kann ja bei der Lektüre verweilen - muß die Funkerzählung unmittelbar begriffen werden. (...) Im gesprochenen Wort des Funks kehrt man heute wieder zu den Urformen der Dichtung, zum Ursprung des Erzählens zurück, in die Zeit der Rhapsoden, der orientalischen Märchenerzähler und der fahrenden Sänger." (70) In ähnlichem Sinne greift Hasselblatt einen Satz Tania Blixens auf: "Im Anfang war das Erzählen", um zu pointieren: "In der Funkerzählung manifestiert sich eine eigene Weise des Erzählens, die ohne den Funk kaum in der heute feststellbaren Gestalt aufgetreten wäre." (71)

Die zweite Überlegung Bischoffs zielt auf das, was ich Versuchsanordnung genannt habe, und nennt das Hörspiel ein "akustisches Experiment", das - so meint Bischoff allerdings - "von der vorhandenen dramatischen Dichtung ausgehen" müsse, "das Schauspiel als Rohstoff behandeln und einen völligen Umformungsprozeß mit ihm vornehmen, aus dem mit oder ohne Schlacken die Gestalt des Hörspiels hervorzugehen vermag." (72) Bischoff faßt schließlich seine beiden Gedankengänge zusammen, wenn er glaubt, "im Umriß dargelegt zu haben, daß" die Dramaturgie des Hörspiels "beim heutigen Stand funkischer Entwicklung ihre Erkenntnisse aus dem szenischen Aufbau des Schauspiels zu gewinnen hat und insbesondere eine Dramaturgie beseelender Technik und beseelten Sprachklanges sein muß. Die Bescheidung ist nutzbringend, denn wir müssen das Wort, das im Schrifttum erstarrt ist, erst wieder als reinen, seelische Kräfte enthaltenden Klangkörper empfinden lernen." (73)

Aus solchen Überlegungen abzuleiten, daß "das Hörspiel (...) sich in seinen Anfängen als eingeschränkte, gedrosselte Fortführung des Schauspiels" verstanden habe (74), scheint mir jedoch etwas kurzsichtig zu sein. Zum einen existieren ja bereits für die Anfänge der Hörspielgeschichte eine Reihe von Prosa-Adaptionen, verweist Brecht in seinen "Vorschlägen" vor allem auf den "akustischen Roman" und namentlich auf den "großen Epiker Alfred Döblin"; zum anderen betont Bischoff 1929: "daß sich ganz deutlich seit 1927/1928 zwei Richtungen in der Hörspielentwicklung des deutschen Rundfunks erkennen lassen. Die eine sucht das Hörspiel aus dem gültigen Gehalt der poetisch dramatischen Äußerung funkgemäß aufzubauen und weiter zu entwickeln. Der anderen Richtung ist das Wort, die Dichtung nur Mittel zum Zwecke einer völlig neuen in Tempo und Rhythmus dem Filmischen sich angleichenden akustischen Szenik." (75) Bischoff spielt hier wie Brecht auf die sogenannten akustischen Filme an, die aber für unseren Zusammenhang keine wesentliche Bedeutung haben (76). Schließlich hat 1929 Döblin mit dem Vorurteil der Prädominanz des Dramas für das Hörspiel und seine künftige Entwicklung gebrochen. In seinem Vortrag über "Literatur und Rundfunk" auf der Kasseler Arbeitstagung (77) sieht Döblin, ähnlich wie Bischoff, im Rundfunk die Möglichkeit des Gewinns, bzw. des Wiedergewinns der "ursprünglichen Ausdrucksbewegung der Hörsprache" (Bischoff):

"In einer Hinsicht kommt der Rundfunk der Literatur weit entgegen. Die Literatur baut mit der Sprache, welche an sich ja noch immer ein akustisches Element ist. Wenn seit der Erfindung der Buchdruckerkunst fortschreitend die Literatur in unserer Zeit zu einem stummen Gebiet geworden ist, so braucht das nicht unbedingt ein Vorteil zu sein. (...) Die lebende Sprache ist in ungenügender Weise in die geschriebene eingedrungen. (...) Da tritt nun im ersten Viertel des 20. überraschend der Rundfunk auf und bietet uns, die wir mit Haut und Haaren Schriftsteller sind, aber nicht Sprachsteller, - und bietet uns wieder das akustische Medium, den eigentlichen Mutterboden jeder Literatur." (78)

Allerdings schränkt Döblin - hier z.B. erheblich weitsichtiger als später Kühner oder Hasselblatt - zugleich ein, daß das Radio ein "sehr künstliches technisches Mittel ist", betont er, daß "unsere mündliche Sprache (...) vom Kontakt zwischen Redner und Hörer" lebt, daß ferner "die lebende Sprache (...) immer begleitet" ist "von Mimik, von wechselnden Gebärden, von Blicken. Diese Situation kann der Rundfunk nicht erneuern." (79)

In seinen weiteren Ausführungen untersucht Döblin dann, wieweit die vorhandenen Literarischen Gattungen im Rundfunk verwendbar sind, und sieht hier für Essayistik und Lyrik keine besonderen Schwierigkeiten. Dagegen fallen seiner Meinung nach Epik und Dramatik aus den verschiedensten Gründen aus. Im Zusammenhang mit der Epik weist Döblin darauf hin, daß "unser heutiger Roman (...) mit von der Buchform erzeugt" sei.

"Er ist stumm und mehr oder weniger lang, zu schweigen davon, ob er schwer ist. Jetzt tritt das Radio auf, Sprechen wird gefordert, Kürze, plastische Einfachheit. Es sieht so aus, als ob die Sprache ein Vorteil sei (...). Aber das gilt nur für die kommende Epik. (...) Der heutige Roman ist ein Buchroman, und für ihn ist der mündliche Vortrag ein Fehler. Die heutigen epischen Werke vom Don Quichote bis zum Hintertreppenroman würden am mündlichen Vortrag zugrunde gehen, denn er verstößt gegen die Grundintentionen und damit gegen die Natur dieser Werke. Romanen und epischen Werken ist die Breite, Ausdehnung und Fluß wesentlich. Für die Breite, diese Ausdehnung und den Fluß haben wir zur Verfügung die Augen, die über die Seiten weggleiten und die es ermöglichen, innerhalb weniger Stunden zu passieren, wofür ein eventueller Hörer viele Tage braucht, wenn er es überhaupt aushalten kann. (...) Das ist das eine. Und nun das andere ist nicht weniger wichtig. (...) Die mündliche Sprache ist überhaupt schlecht für das bisherige epische Werk. Die tönende Sprache tut nichts Positives hinzu, nämlich das Tönen zum Roman, sondern sie engt die Phantasie ein durch den Stimmklang, die besondere Art der Stimme, ihren Tonfall, der vorn Autor nicht vorgesehen ist. (80). Der eigentliche Ort des Romans ist unstreitig die Phantasie, das geistig sinnliche Mitphantasieren, und darin führt unendlich besser das Lesen; die Konzentration wird hier tiefer, die Ablenkung ist geringer, es erfolgt leichter die notwendige Selbsthypnose, die unter Anleitung des Autors des Romans geschieht." (81) Und Döblin zieht als Summe: "Danach fällt die überaus wichtige und große epische Gattung jedenfalls in ihrer heutigen Form für den Rundfunk aus. Ich sehe von gelegentlichen Kurzgeschichten ab, sie bilden keinen wichtigen Bestandteil unserer Literatur." (82)

Kann nun der Rundfunk zwar nicht - wie Döblin ausgewiesen hat - die "Epik und Dramatik der Literatur" übernehmen, kann er sich aber "Epik und Dramatik auf eigene Weise assimilieren und (...) eine spezifische, volkstümliche Rundfunkkunst, eine besondere, große, interessante Kunstgattung entwickeln. Diese Gattung bat den Merkmalen des Radio - Hörbarkeit, Kürze, Prägnanz, Einfachheit - Rechnung zu tragen. Der Rundfunk hat sein Hörspiel, das bisher mit Ausnahmen fast ganz in den Händen von Dramaturgen liegt, (83) durchaus mit Hilfe der wirklichen Literatur zu entwickeln, denn es ist Sprache und dichterische Phantasie dazu nötig. Er bemüht sich schon, er möge aber und mit ihm der Produzent solcher Werke, mehr als bisher bedenken, daß im Rundfunk jener alte Unterschied zwischen Epik und Dramatik aufhört. Das sind Trennungen der Literatur, welche das Buch und das Theater kennen. Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihren Zweck nutzbar machen." (84)

Nun hat es in der Folgezeit trotz Döblins Zweifel und Verdikt Sendungen epischer Werke und Großwerke durchaus im Rundfunk gegeben. Aber es hat sie - und damit entziehen sie sich wenigstens zum Teil auch seinem Zweifel und Verdikt - in der Form von Adaptionen epischer Vorlagen einschließlich des Don Quichotte und von Kriminal- und Science-Fiction-Romanen gegeben. (85)Und schließlich ließe sich ja auch Döblins "Berlin Alexanderplatz" in der Hörspielfassung von Döblin und Max Bing (dem Regisseur der Erstsendung), und in der Bearbeitung von Weyrauch in diesem Zusammenhang hören. Die Kurzgeschichte, von der Döblin noch absehen zu können glaubt, gilt Hasselblatt eine Generation später unter Anspielung auf die Goethesche Novellen-Definition in Wesentlichem vergleichbar: "Alle Funkspiele (...) haben, im Gegensatz zu Roman, Drama und Gedicht, etwas Episodisches. Darin ähneln sie mehr der short story mit ihrer Inklination zur schlagenden Situation, zur kennzeichnenden Geschehensphase, zur kulminierend stellvertretenden Spannungslage (vielleicht gar zum 'unerhörten Begebnis')." (86) Wobei ich in Parenthese noch hinzufügen möchte, daß sich, ausgehend von Hasselblatts Vergleich und Anspielung, ja leicht der Bogen schlagen ließe zu Bronnens Interesse an Kleists "Michael Kohlhaas", zu Ophüls Versuch, Goethes "Novelle" zu bearbeiten.

Aber bereits auf der Kasseler Tagung ist unüberhörbar auf die Kurzgeschichte als funkgeeignete Prosa hingewiesen worden. In der an die Berichte "Epik" und "Essay und Dialog" anschließenden Aussprache erwähnte nämlich Ernst Hardt "die kurze Epik", "weil sie mir für den Rundfunk wie geschaffen erscheint und noch ausgebildet werden muß. (...) Zweig hat vom Märchenerzähler gesprochen. Gewiß ist das Märchen die Urform aller Epik. Aber gerade das Märchen ist kurz (...) Ebenso gibt es eine Epik, die man in England und Amerika weit mehr pflegt und weit mehr als Kunstform ausgebildet bat, und die die Bezeichnung 'Short Story' führt, die heitere oder ernste Erzählung in knappster Form, die kleine Novelle, die kleine Skizze. Hier scheint mir ein ganz besonderes Gebiet für den Rundfunk zu sein. Gewiß ist hier noch viel zu leisten, und gerade unsere ersten epischen Dichter würden nach meiner Meinung hier ein Feld finden, wenn sie versuchten, nicht mehr in breit ausgesponnenen epischen Gedichten (!), sondern auch in ganz knapper, gedrängter epischer Form sich auszuleben und damit gerade dem Rundfunk etwas zu geben, was ihm gehört." (87)

VI

Die Kasseler Hörspieltagung verrät in Bericht und Aussprache merkwürdige Unsicherheiten auf beiden Seiten, ja gelegentlich könnte sogar fast der Eindruck entstehen, man wolle sich gegenseitig nicht so recht in die Karten sehen lassen. Zwar fordern die Rundfunkleiter und Dramaturgen immer wieder die Mitarbeit der Dichter, aber noch ein Jahr zuvor hatte Bischoff diese Forderung eingeschränkt:

"Die Forderung, die oft erhoben wurde, den Dichtern, die sich um die Form des Hörspiels bemühen, Einblick in die technisch-künstlerische Rüstkammer des Rundfunks zu gewähren, ist meines Erachtens als unwichtig zu bezeichnen gegenüber der Forderung an den Autor, an Hand der vorhandenen dramatischen Literatur vorerst zu studieren, wieweit sie im dreidimensionalen Raum der Schaubühne verankert ist, und welche dramaturgischen Mittel notwendig anzuwenden sind, das auf optisch-visuelle Reize bezogene Sprachgebilde in ein rein phonetisch-akustisches Gesamtkunstwerk umzuwandeln. Gewiß ein Umweg. Aber nur die dramaturgische Bemühung führt zur reinen Hörspieldichtung." (88)

Auf der anderen Seite zeigen sich die Autoren gerne zur Mitarbeit bereit - wie etwa die Kasseler Tagung zeigt -, wenn sie auch gelegentlich dem neuen Medium gegenüber nicht so recht zu wissen scheinen, wie sie sich verhalten sollen. Einig sind sich Rundfunkleiter und Autoren in ihrem Interesse am Publikum, in der Einschätzung, daß man es mit einem vielschichtigen Hörerkreis zu tun habe. Dabei formuliert Kasacks Unterscheidung zwischen "ihrem Wesen nach dramatischen Dichtungen" und "Stücken, die ihrer Art nach Unterhaltungs-, besser Gesellschaftsliteratur, Konversationsstücke sind", die - nur als "Textunterlage" geltend - "mit aller nur möglichen Freiheit und Konsequenz in eine funkgemäße, hörspielgemäße Montage einzurichten" (89) seien, nur die Kehrseite einer Medaille, deren andere Seite sich bei Roeseler so liest:

"Es liegt in der Tat so, daß wir durch die Erfindung der Buchdruckerkunst neben anderem den Schnitt erzeugt haben zwischen denjenigen, die durch feinere und höhere Vorbildung aufnahmefähig geworden sind für das ungemessene Anschwellen der Dichtung der Jahrhunderte, und denjenigen, die es nicht in diesem Maße sind, für die wir aber in der Hauptsache werben müssen." (90)

Entsprechend konnte im gleichen Jahr "Die Werag" (91) in einer Diskussion über das "mannigfache und zusammengesetzte Publikum" als Ergebnis von Hörerzuschriften und "persönlicher Aussprache mit Vertretern der verschiedenen Bildungskreise der Funkhörer" zusammenfassen, "daß die sogenannte werktätige Bevölkerung nach dem künstlerisch-kulturellen Gut (...) am hungrigsten verlangt, ja, daß sie schlechtweg eine kulturelle Haltung des Rundfunks fordert." (92).

Auf der Kasseler Tagung warnt aber Kasack gleichzeitig: "So sehr ich davon überzeugt bin, daß der Rundfunk eine Kulturinstanz sein soll, so sehr glaube ich auch, daß er, abgesehen vom reinen Unterrichtsfunk, kein Apparat für sogenannte Bildungsvermittlung sein darf. Gerade in Hinsicht auf die Funkwiedergabe von Dramen wäre es ganz verkehrt, in den alten Fehler zu verfallen und Kunstwerke, Dichtungen, zu Bildungswerten zu mißbrauchen. Literatur, die lediglich aus Bildungsgründen vermittelt wird, ist tot." (93) Im Gegensatz dazu spricht Roeseler davon, daß man "vielleicht in stillen Nebenstunden den mutigen Versuch" wird "machen müssen, große und bleibende Dichtungen epischer Natur in Abständen, trotz allen Geschreies, den Hörern nahezubringen. Ich weiß nicht, ob es radiohaft ist, wenn man größere Dichtungen vergangener Jahrhunderte, größere Romane, biographische Romane, Romane von Gottfried Keller - Grüner Heinrich - oder von Raabe in wesentlichen Strichen, aber in zurechtgemachter Form, in besonders gearteten und gesprochenen Formen den Hörern nahebringt, um wieder den Hörsinn eines bestimmten Teiles des Volkes, den es noch gibt, zu wecken und zu schulen, und ihm ein wirkliches Erlebnis charakteristischer Art zu bieten. Wir sind in den Sendegesellschaften durch allerhand Umstände mehr oder weniger von der stilleren Menge des Volkes entfernt, sind großstädtisch gesonnene Menschen geworden und haben vergessen, daß in der 'Provinz' eine große Fülle von Pflichten ruft und aufnahmebereite Menschen leben, die den Rundfunk begrüßen und nicht allein die Verherrlichung des Tempos der Zeit erwarten, sondern auch meinen, daß ihnen größere Bildungserlebnisse des deutschen Volkes wiedergeschenkt werden." (94)

Die große Aufgabe des Rundfunks sei es deshalb, neben der "bleibenden großen Dichtung der Vergangenheit auch die zeitgenössische Literatur zu pflegen", und das heißt für Roeseler, nach Mitteln und Wegen zu suchen, "um den Dichter unserer Zeit wieder anzulocken, wirklich vom Schriftsteller zum Sprachsteller sich zu entwickeln, um einen neuen Erzähler aus ihm zu machen", wozu es nötig sei, "neue Romane, neue Erzählungen, neue Kurzgeschichten in Auftrag zu geben und Urerzählungen im Rundfunk zu veranstalten." (95)

Allerdings denkt Roeseler dabei nicht an abendfüllende Sendungen, möchte aber dieser neuen Epik neben der Rundfunkdichtung im Sinne der Döblinschen Mischform eine Nebenrolle zuweisen. Neben dem von Döblin propagierten Hörspiel schwebt also den Teilnehmern der Kasseler Tagung auch so etwas wie eine neue, rundfunkgemäße Epik vor, deren Hersteller ein neuer Erzähler, der "Sprachsteller" (wie Döblin ihn genannt hatte) sein soll. Und diesem Erzähler muß für eine Weile die Aufmerksamkeit gelten, weil manche Eigenschaften von ihm, wie sie Arnold Zweig in seinem Bericht beschreibt, in Kühners Charakterisierung der Funkerzählung, bzw. ihres Erzählers wiederkehren. Wie Kühner geht nämlich schon Zweig gleichsam vor die schriftlich fixierte Literatur zurück:

"Nun haben sich auf der Basis des Hörens zwei große Künste entwickelt, die Musik und die Epik. Das Epische ist in der Geschichte der Menschheit die Kunstgestaltung, die ununterbrochen befruchtet wurde vom Aufnehmen der Welt und ihrer Wiedergabe oder besser Aussprache, Befreiung durch gehörte Sätze. Der Märchenerzähler, der große Rhapsode, hat den Sinn für das Epische geschaffen, lange bevor das Niederschreiben der literarischen Werke jenes Übermaß von Intellektualität hinzufügte, das aus dem Dichterischen das Literarische herausgezüchtet hat. Der Unterschied zwischen Rundfunk und Buch nun stellt die Frage nach dem Plus von Kopfarbeit und Intellektualität, das verlangt wird von dem Leser, aber nicht geleistet werden kann vom Hörer. Wer die Dinge sieht, wie ich sie hier zu betrachten versuche, wird sich auch nebenbei erinnern müssen, daß das lyrische Gedicht ursprünglich von rhythmischen Körperbewegungen durchdrungen, ein Stück gesungenen Tanzes enthält. Das Erzählen einer Geschichte nun ist dasjenige, was dem heutigen Rundfunk die Möglichkeit gibt, gerade wieder auf die hörende, vom Hören, vom Ohr her angeregte Phantasie des Aufnehmenden zu wirken; sich dem Urquell der Erzählungen, dem Epischen, wieder zu nähern; kurz in einem unerhört starken Sinne fruchtbar und anregend vom Ohr her zu wirken." (96)

Und Zweig kommt dabei zugleich auf einen weiteren, während der Kasseler Tagung wiederholt angeschnittenen Punkt, nämlich die Frage nach der Qualität (97), zu sprechen: "Es handelt sich dabei nicht um die Frage, wie seht das einzelne Wort bewußt geschliffen oder gewählt wird, das im Epischen ja den gehörten Eindruck der Erzählung durchaus nicht ausmacht, sondern das vielmehr mit dem leidenschaftlichen Rhythmus des gesprochenen Dichtersatzes als Teilchen eines Ganzen in das Epische strömt." (98) Und Zweig beginnt schließlich den letzten Abschnitt seines Vortrags mit der zentralen Feststellung: "Das von mir angeführte Erzählen kann nicht anders als improvisierend erfolgen." (99)

In der folgenden Aussprache hat vor allem Hardt Zweigs improvisierendes Erzählen, den Vorschlag einer "improvisierten Erzählung als einer möglichen Kunstform" (100) energisch in Frage gestellt und als "künstlerischen Irrtum" bezeichnet. Er hat darauf hingewiesen, daß zum improvisierenden Erzählen ein anwesendes Publikum gehöre, daß der "Anreiz der Geselligkeit" vorausgesetzt werden müsse. Er hat ferner in Erinnerung gebracht, daß bei scheinbar improvisierter Dichtung der Anschein der Improvisation in der Regel einstudiert, vom Künstler erarbeitet sei. Auf der anderen Seite zeigt die Aussprache aber auch, wie ernst man die Funktion des von Zweig vorgeschlagenen Erzählers genommen hat. So greift Hans Kyser Zweigs Rückverweis auf den Märchenerzähler auf: "Arnold Zweig spricht von Märchenerzählern. Für den Rundfunk gibt es nur einen Märchenerzähler: das ist der Reporter. Der erzählt uns wirklich das große Märchen unserer Zeit." (101)

Es ist hier nicht der Ort, den wohl mehr umgangssprachlichen Märchenbegriff Kysers zu diskutieren, wichtig ist mir aber seine Funktionsbestimmung des Erzählers als eines Reporters. Ihr ordnet sich nämlich auf merkwürdige Weise der letzte Abschnitt des "Epik"-Berichts Roeselers zu: "Dazu kommt noch etwas Drittes: der Dichter als epischer Gestalter von Zeitereignissen. So Alfred Braun, der es in besonderer Form verstanden hat, zu Zeitereignissen Stellung zu nehmen und sie vor dem Ohr des Hörers lebendig zu gestalten. Ich möchte diese Reportage von Zeitereignissen als eine epische Kunstform innerhalb des Rundfunks werten, die besonders gepflegt und für die ein besonders befähigter Gestalter gefunden werden muß." (102)

Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß sich Roeseler hier auf Sendungen bezieht, die in Berlin "Aufriß" genannt wurden. In diesen "Aufrissen" ging es wie in den "Hörfolgen" Bischoffs (103) "nicht um mehr oder minder dramatisch empfundene und gestaltete Einzelschicksale, sondern um Zeitkritik, Situationsanalysen, Querschnitte, die das Neben- und Ineinander aufbauender und zerstörender Kräfte erkennbar machen sollten." (104) Braun selbst beschreibt den "Aufriß" als "Versuch, ein Thema der Geschichte oder des Zeitgeschehens, eine Erscheinung des äußeren oder ein Problem des inneren Lebens in Variationen zu behandeln. Dokumentarische Zeugnisse standen neben Spielszenen, realistische Diskussionen neben literarischen Spiegelungen, scheinbar ungeordnet, wie einem Zettelkasten entnommen, und doch innerlich gebunden und die Totalität anstrebend. Vielleicht wird man heute darin das erste Experimentieren an der Form des "Feature" sehen dürfen." (105)

Der Hinweis auf das Feature wird später noch einmal aufzugreifen sein, weil in einer Vielzahl so genannter Hörspiele - z.B. in Ernst Schnabels "Ein Tag wie morgen" - Stimmen ausdrücklich als Erzählerstimmen ausgewiesen werden. Der "Aufriß", bzw. die "Hörfolge", ist überdies der erste mir bekannte Beleg für eine gezogene Verbindung "von der grundsätzlichen Aufgabe der Information zum illusionären Spiel", für eine "Hörspielform, die unmittelbar ins Feature übergeht und literarisch ästhetische Kriterien nur als grob handwerkliche Regeln anerkennen kann" und damit für die "erste legitime Form, die sich aus dem Medium entwickelt." (106) Schließlich schlägt sich von der kurzen Beschreibung des "Aufrisses" jetzt leicht der Bogen zu dem von Döblin entworfenen Hörspielkonzept, von dessen Richtigkeit auf der Kasseler Tagung auch Roeseler völlig überzeugt ist:

"Welcher Art voraussichtlich die künstlerische Gestaltung der Rundfunkdichtung sein wird, das hat Dr. Döblin richtig angedeutet: eine episch-lyrische, balladistisch-dramatische Mischform mit musikalischer Untermalung, wie Sie sie von der musikalischen Seite her kennen und wie sie, glaube ich, auch von der literarischen Seite her in einigen Darbietungen gerade der letzten Zeit schon Wirklichkeit geworden ist. Ich möchte an den 'Lindbergh-Flug', an 'Michael Kohlhaas' erinnern und an eine Darbietung, die auch hier zu nennen ist, an die von Herrn Bischoff angekündigte Abenddarbietung (107). Ich glaube, daß von der Epik und von der Ballade (108) her eine gewisse Befruchtung dieser neu zu schaffenden Rundfunkkunst erfolgen kann, daß gewisse Anregungen von dort aus zu geben sind. Daß aber aus all den Gebieten der Dichtkunst, aus Epik, Lyrik, Ballade und Drama die neue Mischform - nennen Sie sie Singspiel, Fabel, Hörspiel - kommen muß, mit der uns die Möglichkeit gegeben wird, wirklich Abend für Abend eine geschlossene große Darbietung für den Hörerkreis zu bringen, das scheint mir die Aufgabe der Zeit zu sein.

VII

Die Kasseler Arbeitstagung trennt - von einigen in der Aussprache sich andeutenden Querverbindungen zunächst einmal abgesehen - in Bericht und Aussprache deutlich zwischen der Mischform Hörspiel, wo "jener alte Unterschied zwischen Epik und Dramatik" (Döblin) aufhöre, und "Epik" als jeweils eigenständiger Programmsparte und hält damit auseinander, was bis heute noch in den Rundfunkprogrammen getrennt erscheint, im Januar-Programm 1971 des Süddeutschen Rundfunks z.B. in einem Verhältnis von 9 Sendeterminen für "Erzählende Prosa" (110) gegenüber 10 Sendeterminen für Hörspiele, von denen 2 der Funkerzählung vorbehalten sind. (111)

Demnach scheint eine Unterscheidung von Funkerzählung und erzählender Prosa im Rundfunk im Sinne der Unterscheidung Jedeles von Produktivität und Reproduktivität möglich. Daß das nicht ganz einfach ist, deutete schon die Tatsache an, daß Kühners "Dramaturgie" in der Charakterisierung der Funkerzählung dem "Epik"-Bericht Zweigs in manchem verpflichtet ist. Sie ist aber vermutlich mit Werner Brinks "Die Funkerzählung" noch einer weiteren Quelle verpflichtet, in der meines Wissens zum ersten Mal die Bezeichnung "Funkerzählung" verwendet und versucht wird, die Funkerzählung - hier durchaus noch in der Nachfolge der "Epik"-Diskussion der Kasseler Arbeitstagung - vom Hörspiel abzuheben, dem sie sich allerdings in einigen Punkten sehr nähere.

In diesem Aufsatz bedauert Brink, daß die "Pflege der funkeigenen Erzählung" weit "hinter der Anteilnahme am Hörspiel" zurückliege. Und er sucht die Schuld einmal in der mangelnden Erkenntnis der Autoren, daß "auch die Erzählung" "vor dem Mikrophon (...) besonderen Gesetzen" unterliege, zum anderen in einer mangelhaften Förderung "funkeigener Epik" durch die Sendegesellschaften. "Ein Beispiel sei angeführt. Eine Zeitlang gab es im Berliner Programm die sogenannte Erzählung der Woche. Hier wurden Erzählungen gesprochen, die eigens für diesen Punkt des Programms geschrieben wurden. Das aber war es: sie wurden für das Programm des Funks, nicht aber für das Wesen des Funks geschrieben. Es war in diesem Sinne keine funkkünstlerische Schöpfung, sondern vielmehr eine programmtechnische Angelegenheit. Der Erzähler hätte seine Arbeit in der gleichen Form auch drucken lassen, lediglich vielleicht die Erkenntnis, daß man beim mündlichen Erzählen mehr auflockern kann oder sollte, hat ihn dann veranlaßt, weniger sogenanntes Schriftdeutsch zu gestalten, als er es sonst vielleicht tun wurde. Aber von der Auswertung wesentlicherer funkischer Gesetze, die nicht etwa aufgestellt, sondern einfach gegeben sind, wurde kaum Gebrauch gemacht." (112)

Gerade die Auswertung wesentlicher funkischer Gesetze bringt aber interessanterweise die Funkerzählung in die Nähe des Hörspiels:

"Durch den Verzicht auf belastende sprachliche Schilderung und die Beschränkung auf den sprecherischen Ausdruck kann natürlich unter Umständen die Bedeutung der Gespräche zwischen den Gestalten der Erzählung für die Klarheit der Handlung so gesteigert werden, daß diese Form der Funkerzählung sich in manchen Punkt sehr dem Hörspiel - dem im Wort gestalteten Hörspiel - nähert. Man kann sogar noch weiter gehen und die Funkerzählung sehr funkwirksam ganz auf die Form des Gesprächs (113), und dabei besonders des Selbstgesprächs aufbauen, aber auch dann wird sie noch durch einen starken Unterschied gegenüber der Form des Hörspiels gekennzeichnet sein. Das Geschehen in der Umgebung ebenso wie die unmittelbare Handlung spiegeln sich in dieser Form der Funkerzählung wider in den Worten eines oder nur ganz weniger Menschen, während im Hörspiel das gesamte Geschehen und die Beschreibung der Geschehnisorte gewissermaßen von allen vorhandenen Gestalten des Spiels getragen werden. also die einzelnen Gestalten im Grunde ihre eigene Handlung in eigenen Worten ausdrücken Bei der auf das Selbstgespräch aufgebauten Form der Funkerzählung wird uns ein Geschehen übermittelt durch das Belauschen eines Menschen, in dessen Worten es sich widerspiegelt, beim Hörspiel hören wir das Geschehen selbst vor uns abrollen." (114)

Die von mir durch Kursivsatz herausgehobenen Charakteristika lassen sich zur Gänze mit Kessers 1929 in der Funkstunde Berlin erstgesendeten "Schwester Henriette" (115) belegen, die Hasselblatt als früher Beleg dafür gilt, daß es die Funkerzählung eigentlich schon "längst und recht eigenständig" gegeben habe, während sie für Schwitzke eine "sehr frühe, aber zugleich bis heute exemplarische Ausprägung einer bestimmten formalen Möglichkeit des Hörspiels" darstellt, den "wahrscheinlich (...) für immer gültigen Formtypus" des Monologhörspiels. (116) Für Schwitzke ist "Schwester Henriette" "deshalb so wichtig, weil daran zum erstenmal klar wurde, daß der Innere Monolog im Hörspiel eine eigene Funktion besitzt, ein zusätzliches Spezifikum gegenüber der sonstigen literarischen Anwendung. Man kann an diesem Beispiel erkennen, daß es nicht die Kategorie der 'Innerlichkeit' allein ist, nicht eine sozusagen abstrakte Innerlichkeit, die sich am Mikrophon bewährt, sondern eine auf Konkretes bezogene, mit konkreter Wirklichkeit und konkreten Handlungsvorgängen in Spannung befindliche Innerlichkeit." (117)

Bei Einigkeit in wesentlichen Punkten - wie Schwitzke vom Inneren Monolog spricht Hasselblatt von einer "unverkennbaren Fortführung der von Arthur Schnitzler mit 'Leutnant Gustl' oder 'Fräulein Julie' eingeschlagenen Richtung des monologue intérieur"; an "Grenzfälle zwischen Erzählung und psychodramatischer Selbstdarstellung einer erfundenen Figur wie Schnitzlers 'Fräulein Else'" erinnert Schwitzke, "psychologische Monologerzählung" charakterisiert Hasselblatt - bei Einigkeit also in wesentlichen Punkten scheint eine Differenzierung zwischen Funkerzählung und Monologhörspiel recht spitzfindig, scheint, bei Aufhebung "jenes alten Unterschieds zwischen Epik und Dramatik", die typologische Behauptung der Funkerzählung mir vielmehr so etwas wie eine künstliche, im Grunde wenig besagende Gattungskrücke zu sein. Statt dessen würde ich Kessers "Schwester Henriette", schon wegen der Doppelung von Druck- und späterer Funkfassung, als ein Hörspiel charakterisieren, das näher an seiner epischen Vorlage zu hören ist - darin gar nicht so unähnlich den Adaptionen Goethes, Kleists, Fontanes durch Ophüls, Bronnen, Eich -, und allgemein als ein Hörspiel, das als Mischform verschiedenster Herkunftsbereiche mehr "epische" als "dramatische" Züge trägt. Wobei natürlich - und im Gegensatz zur Kasseler Arbeitstagung, wo gelegentlich recht freizügig und wenig differenziert mit den traditionellen Gattungsbezeichnungen umgegangen wird - sehr genau angegeben werden müßte, was hier unter "episch" und "dramatisch" gemeint ist.

Eine solche Auffassung unterstellt die Döblinsche These vom Hörspiel als Mischform aus allen Gebieten der Dichtkunst als richtig, und damit, daß dann natürlich jedes dieser Gebiete im Hörspiel seine erkennbaren Spuren hinterlassen hat. Bezogen auf den durch das ganze 19. Jahrhundert zu beobachtenden Prozeß der Auflösung der klassischen Gattungen wäre das Hörspiel dann eine der daraus resultierenden möglichen Mischformen, gebunden allerdings an ein - wie Döblin richtig gesehen hat - "sehr künstliches technisches Mittel":

"Für die Literatur aber ist der Rundfunk ein verändertes Medium. Formenveränderung muß oder müßte die Literatur annehmen, um rundfunkgemäß zu werden" (118); wobei eine der auch von Döblin und auf der Kasseler Arbeitstagung immer wieder genannten Bedingungen die Sprechbarkeit an Stelle der Lesbarkeit, der "Sprachsteller" (Döblin) an Stelle des Schriftstellers wäre.

Der Innere Monolog wäre dann etwas, das das Hörspiel der erzählenden Prosa verdankt und sich auf seine Weise zu nutze gemacht hat. Der Erzähler wäre ein Zweites, wenn er - ursprünglich als Erzähler in lauschendem Hörerkreis Vorbild für Roman und Novelle (119) - jetzt aus seinem stummen Dasein wieder heraustritt und im Hörspiel Stimme wird. Nicht allerdings in Umkehrung einer literarischen Entwicklung, im Rückgriff vor eine schriftlich fixierte Literatur - wie es in der Literatur über das Hörspiel manchmal anzuklingen scheint - sondern durch das Medium geprägt.

Das wird schnell deutlich, wenn man die Rollen der Erzählerstimme im Hörspiel einmal genauer untersucht, ihre verschiedenen Spielfunktionen überprüft und katalogisiert. Und hier läßt sich an Kessers "Straßenmann" einiges zeigen, einem Hörspiel - oder "Funkdrama", wie es im alten Funkmanuskript lautet (120) -, das ebenfalls ursprünglich Erzählung war und als solche bereits 1926 veröffentlicht wurde. (121)

Auch in der Hörspielfassung - einen hier aufschlußreichen Vergleich mit der Buchfassung muß ich aus Raumgründen aussparen - verleugnet sich Kesser nämlich nicht als Erzähler. In der Ansage wird unter den "Stimmen" als erste der "Autor" genannt, den Kesser in einer dem Manuskript vorgehefteten "funkszenischen Einführung" als "erzählendes Instrument", als "sprechendes Auge" charakterisiert. Nach einem gereimten und dadurch vom eigentlichen "Funkdrama" abgesetzten Vorspiel erteilt der Ansager ausdrücklich dem Autor-Erzähler das Wort: "Aufgepaßt! Hermann Kesser beginnt zu erzählen."

Auf den ersten Blick tragen Kessers Erzählung, die ein Jahr vor der Hörspielsendung am 24. März 1929 in besonderer Bearbeitung vom Autor selbst im Kölner Sender gelesen wurde, und die Hörspielfassung von 1930 durchaus noch Züge der Novelle des 19. Jahrhunderts. Sowohl das tragisch überhöhte Ende Fritz Straßenmanns wie die Tatsache, daß der Novelle ein Ereignis in Berlin zugrunde liegt, dessen Zeuge Kesser im Winter 1923 gewesen ist (122), erinnern ja an die Goethesche Definition der Novelle "als einer sich ereigneten, unerhörten Begebenheit". Aber bei genauerem Hinsehen trägt der Autor-Erzähler zugleich medientypische Züge. Er ist eben nicht nur "erzählendes Instrument", sondern auch "sprechendes Auge", was nichts anderes als metaphorische Umschreibung von Reporter ist. Und diese Personalunion von Autor-Erzähler-Reporter hatten wir ja bereits auf der Kasseler Arbeitstagung vorformuliert gefunden in der Bemerkung Kysers vom Reporter, der "das große Märchen unserer Zeit" erzählt, bzw. in dem Hinweis und in der Wertung der "Reportage von Zeitereignissen als einer epischen Kunstform innerhalb des Rundfunks" durch Roeseler. (123)

Mit dieser Personalunion von Autor-Erzähler-Reporter, die gleichzeitig eine mögliche Funktion des Erzählers im Hörspiel darstellt, hat Kesser einen gleichsam funkeigenen Erzählertyp in die Hörspielgeschichte eingeführt, dem man eigentlich bis heute unter den verschiedenartigsten Voraussetzungen in den verschiedenartigsten Hörspielen begegnet, in Ernst Schnabels Feature "Ein Tag wie morgen" mit den Stimmen "1. Sprecher", "2. Sprecher" (124) ebenso wie in Ludwig Harigs Hörcollage "Staatsbegräbnis" (125) im Tonzitat von Reporterstimmen, wobei diese Reihenfolge gleichzeitig ein sich veränderndes Verhältnis der Autoren zum Erzählen und damit zum Erzähler andeutet, das zu beschreiben mir sinnvoller scheint als ein Beharren auf der künstlichen Gattungskrücke der Funkerzählung.

VIII
Kessers "Straßenmann" stellt in der Tat eine wie Hasselblatt allgemein für die Funkerzählung festhält - "eigene Weise des Erzählens" vor, "die ohne den Funk kaum in der heute feststellbaren Gestalt aufgetreten wäre" (126), bzw. Kesser stellt - wie ich lieber sagen würde - mit seinem Autor-Erzähler-Reporter einen Erzählertyp im Hörspiel vor, den es ohne den Funk kaum in der heute feststellbaren variantenreichen Form geben würde. Mit "Schwester Henriette" hat Kesser überdies nachdrücklich auf die Brauchbarkeit des Inneren Monologs im Hörspiel hingewiesen und damit einen Hörspieltyp populär gemacht, der bereits ganz zu Anfang der Hörspielgeschichte mit dem in Vergessenheit geratenen "Agonie" M. Paul Camilles (127) begegnet und nach 1945 mit zahlreichen Beispielen wie der der "Schwester Henriette" verwandten "Sekretärin" Dieter Wellerhoffs (128), mit Jan Rys' "Interview mit einer bedeutenden Persönlichkeit" (129), Wolfgang Hildesheimers "Monolog" (130) oder Samuel Becketts "Embers" (131) belegt werden kann, wobei die genannten Beispiele - nimmt man Kasacks "Stimmen im Kampf" und Peter Hirches "Seltsamste Liebesgeschichte der Welt" (132) als Beispiele für den sogenannten verschränkten Monolog hinzu - die Vielzahl der Möglichkeiten des Monologhörspiels wenigstens andeuten sollen.

Eine von Knilli vorgeschlagene Unterscheidung von "unpersönlichem Erzähler", "präsentierendem Erzählen", "unpersönlicher Aussageweise" in der Er-Form und "persönlichem Erzähler", "referierendem Erzählen", "persönlicher Aussageweise" in der Ich-Form reicht zwar als Oberflächenunterscheidung der von ihm hier genannten Hörspiele Ingeborg Bachmanns und Hildesheimers aus (133), scheint mir aber keinesfalls hinreichend, "die vielen unvermeidlichen Reporter, Berichterstatter, Conferenciers, Blindenführer, Chronisten" (134) zu katalogisieren. Dazu ist ihre Stimmenfunktion im Hörspiel jeweils zu verschieden.

Erfolgversprechender scheint mir ein Weg zu sein, den Fischer in dem Kapitel "Funktion der Stimmen im Spiel" (135) andeutet. Mit Recht weist er darauf hin, daß sich "der Stimme des Autors" "besonders viele Möglichkeiten erschließen" (136), z. B. in der Funktion "des Fragers, der diejenigen Fragen ins Spiel hinein und als Mitspieler zu stellen hat, die möglicherweise vom Hörer gestellt werden" (137), in der Rolle des Kommentators, verbunden "mit derjenigen des weiterführenden Reporters" (138). "Der Plauderer kann zum Moralisten, zum Ankläger, aber auch zum nüchternen Chronisten werden." (139) Während sich hinter allen Masken des "Tiger Jussuff" (140) Günter Eich verbirgt, tritt gliedernd und kommentierend in Max Frischs "Herr Biedermann und die Brandstifter" (141) der "Verfasser" selbst auf, gleich einleitend - und darin gar nicht so unähnlich dem Autor-Erzähler-Reporter in Kessers "Straßenmann" - sein Publikum mit "Liebe Hörerinnen und Hörer" anredend. (142) In Friedrich Dürrenmatts "Der Doppelgänger" (141) erzählt der Hörspielautor dem Hörspielregisseur eine Parabel, zu der sich der Regisseur äußert. In dieses Gespräch sind die Spielsequenzen der Parabel eingeblendet. Hildesheimer schickt seinem "Opfer Helena" (144) die Anmerkung voraus: "Das Hörspiel hat zwei akustische Ebenen. Die erste: Helena als Erzählerin, raumlos. Die zweite: das Spiel, mit dem jeweils entsprechenden Hintergrund." Anders ist der Korrespondent Stein in Heinz Hubers "Früher Schnee am Fluß" (145) zunächst teichoskopischer Beobachter, der, seinen Beobachterposten verlassend, sich allerdings erfolglos an der Handlung zu beteiligen versucht, um dann wieder in seine Funktion des Beobachters zurückzukehren.

Von einer "Mannigfaltigkeit der Erzählstimmen" (146), von den "vielfältigsten Erzählmitteln" läßt sich bei Döblins "Berlin Alexanderplatz" sprechen. Leider haben die Hamburger Neuinszenierung von 1962 und der von Heinz Schwitzke besorgte Druck (147) hier mehrfach korrigierend, um nicht zu sagen: verfälschend eingegriffen, vor allem in der Zusammenfassung zahlreicher Sprecherrepliken der einzig erhaltenen historischen Aufnahme zur Stimme des Todes, dem überdies von Fall zu Fall von Döblin wohl kaum gewollte eindeutige Qualitäten zugewiesen werden, zum Teil mit kurzen, aber wesentlichen Textverlusten. So tritt der Tod in der Druckfassung abwechselnd als Ausrufer, als Warner, als Fragesteller, als Freund, als Erzähler auf und sagt u. a. in seiner grob gereimten, geknittelten Sprache: "Weil er aber Franz Biberkopf ist, so wollen wir ihn nicht so vor die Hunde gehen lassen" (148), oder: "Die Geschichte von Franz Biberkopf ist bald vorbei. Sie verlief mit fürchterlichem Geschrei" (149), oder: "Die Augen sind ihm weit aufgegangen. Wach ist er wieder aufgestanden und ist nach Berlin hineingegangen. Damit ist unsere Geschichte zu Ende." (150)

Ich weiß nicht, ob ich das im Kontext dieser Zitate mehrfach begegnende "wir" überinterpretiere, wenn ich es als ein den Autor-Erzähler und den Hörer einschließendes wir verstehe, das den Franz Biberkopf so für beide als erzählte, fiktive Figur ausweist. Wie immer dem sei, so ist der Tod nur eine der Stimmen, hinter denen sich der Erzähler verbergen kann; er kann aber auch eine Art "Moritatenerzähler", "fast Bänkelsänger" (Martini) sein oder eine Frauenstimme, die an zentraler Stelle des Hörspiels die Lebensgeschichte der ermordeten Mieze erzählt und sich selbst vorstellt als "eine einfache Frau, die diese Geschichte hört." (151). Bereits diese Beispiele zeigen, daß der Hörer auf mindestens zweifache Weise an der "Geschichte von Franz Biberkopf" teilhat, an der gespielten Geschichte und an ihrer Brechung und Distanzierung durch die Erzählerstimme(n).

Ganz anders und eigentlich gegen die Intentionen Döblins (152) erzählt und spielt in der Adaption Weyrauchs Franz Biberkopf seine Geschichte selbst, wird dem Tod nur ein Dialogstimmenpart unter anderen zugewiesen: "Ich bin der Franz Biberkopf. Damals, 1928, war ich Transportarbeiter und gewesener Häftling. Heute, 1956, bin ich Hilfsportier und Rentenempfänger. Ich bin ein alter Mann. Aber damals wußte ich, daß das Leben schön ist, schön, alles ist schön. Eines Tages stand ich vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei." (153) Eine ähnlich einleitende, verbindende und abschließende Funktion (allerdings geringeren Umfangs) hat der "Sprecher" in Ernst Johannsens "Brigadevermittlung" (154), wo die Erinnerung des einzig überlebenden Mitglieds einer Brigadevermittlung, das nach dem Kriege als Besucher auf das ehemalige Schlachtfeld zurückkehrt, das Stimmenspiel auslöst. (155)

Das mag als zufällige, die von Fischer nicht immer geschickt ausgewählten Titel ergänzende Beispielsammlung ausreichen. Ein Versuch, die Rolle und Funktion des Erzählers im Hörspiel möglichst genau zu katalogisieren und zu bestimmen, wird wesentlich vollständiger sein müssen, nicht zuletzt, weil es sich bei den Unterschieden oft nur um Nuancen handelt. Einer solchen Untersuchung, die ich hier aus Raumgründen nicht anstellen will und auch aus Zeitgründen nicht vornehmen kann, steht dabei überdies erschwerend entgegen, daß eine Vielzahl der zu analysierenden Hörspiele nicht im Druck vorliegt und in vielen Fällen auch als vervielfältigtes Funkmanuskript infolge oft reger Hörernachfrage längst nicht mehr greifbar ist. Die Bänder (also Tondokumente) werden nach kurzer Zeit der Magazinierung aus Platzgründen häufig gelöscht, und mancher aus der Frühzeit des Hörspiels für diesen Zusammenhang interessante Titel ist oft nur noch dem Namen nach bekannt. (156)

Dennoch läßt sich schon anhand dieser zufälligen Beispielsammlung einiges - wenn auch nur hypothetisch - anmerken. Neben dem ausdrücklich als Autor oder Verfasser auftretenden Erzähler ("Straßenmann", "Herr Biedermann und die Brandstifter", "Der Doppelgänger") kann der Autor die Maske einer Spielfigur tragen ("Berlin Alexanderplatz", "Der Tiger Jussuff") oder eine Spielfigur als Erzähler auftreten lassen ("Früher Schnee am Fluß", Franz Biberkopf in Weyrauchs "Berlin Alexanderplatz"). Die beiden letzten Beispiele zeigen zudem, wie nahtlos erzählender Bericht in szenisches Erzählen übergehen kann. Der Erzähler kann einzige Stimme des Hörspiels sein ("Schwester Henriette"), nur gelegentlich durch Einschub kleiner Spielsequenzen unterbrochen ("Die Sekretärin"); die anfangs dominante Erzählerstimme kann zunehmend in ein Stimmenspiel überleiten ("Früher Schnee am Fluß"; und interessant hier wiederum wegen der Behandlung der Stimmen als Chorstimmen: "Straßenmann" (157)), sie kann gleichsam kontrapunktisch immer wieder in das Stimmenspiel eingeblendet werden und das eigentliche Spiel kommentierend begleiten ("Opfer Helena"). Sie kann aber auch nur kurz ein-, aus- oder überleitend in Erscheinung treten, durchaus dabei der klassischen Rahmenerzählung vergleichbar (etwa in dem die beiden Spielsequenzen der "Brigadevermittlung" verklammernden "Sprecher"). Der Autor als Erzähler und die erzählende Spielstimme können die medientypischen Züge des Reporters, aber auch des Ansagers tragen (bei Frischs "Herr Biedermann und die Brandstifter" könnte man gleichsam von einer durch die Ansagerrolle des "Verfassers" ermöglichten Parodie einer Selbstinterpretation sprechen. (155)

Allgemein zwischen "präsentierendem" und "referierendem" Erzählen unterscheidet Knilli, zwischen "präsentierendem und reflektierendem Erzählen" Hasselblatt (159). Zwischen "zeitlichem" und "unzeitlichem" Verlauf der Erzählung unterscheidet Knilli zwei Erzählweisen, die Eberhardt Lämmert in seinen "Bauformen des Erzählens" (160) als "zeitliche (primäre)" von einer "zeitlosen (sekundären) Erzählweise" (181) abhebt. Überhaupt lassen sich eine Vielzahl der von Lämmert beobachteten "Bauformen" auch an den durch Erzähler oder Erzählen wie auch immer ganz oder z. T. charakterisierten Hörspielen beobachten.

Eine Vermutung, die sich hier aufdrängt, läßt sich stellvertretend an Kühners vielgelobter und vielzitierter "Übungspatrone" beweisen. In ihr ist nämlich ein Erzähler zu beobachten, der noch deutlich Spuren des allwissenden Erzählers und damit einer in der Erzählprosa längst nicht mehr möglichen Erzählhaltung des 19. Jahrhunderts aufweist. Der Frage, wieweit ein Medium, das seinem pluralistischen Massenpublikum Rechnung tragen muß, hier möglicherweise dem traditionellen Erzähler so etwas wie ein letztes Refugium bietet, kann ich nicht weiter nachgehen. Sie sei aber wenigstens angedeutet mit dem gleichzeitigen Hinweis auf eine dazu parallel zu wertende Beobachtung: daß sich nämlich auf das ähnlich populäre Hörspiel Fred Hoerschelmanns, "Das Schiff Esperanza" (162), sehr gut die Freytagsche "Dramenpyramide" aufstülpen läßt.

Ich habe eingangs betont, daß bei einer Hörspielanalyse neben der Auftragssituation und dem Stellenwert im Programm auch der literarische Stellenwert betrachtet werden muß. (165) Und ich habe in dem Zusammenhang schon angedeutet, daß man z.B. die Hörspiele des Nouveau roman (163a), soweit sie in unserem Zusammenhang eine Rolle spielen, auch an den theoretischen Überlegungen dieser literarischen Gruppierung, etwa Nathalie Sarrautes "L'Ere du Soupçon" (164), dem dort von ihr und an anderer Stelle von Alain Robbe-Grillet (165) behaupteten Tod des Helden wird messen müssen. So ist es gewiß kein Zufall, wenn das 1966 in Stuttgart urgesendete erste Hörspiel des zur Ursprungsgruppe der Nouveaux romanciers gehörenden Claude Olliers "Der Tod des Helden" (166) lautet, ein Hörspiel, das in einem Dialog Zwischen Lektor (A) und Autor (B) die Konsequenzen des aus der Literatur verschwundenen Helden durchspielt. Gemäß der Theorie, daß an einem bestimmten Punkt in der literarischen Entwicklung Hauptperson des Romans, Autor und Leser zusammenfallen (167), wird nach einem am Lektor inszenierten Mord auch am Autor das Todesurteil vollstreckt. In der ein Jahr später gesendeten Funkerzählung "Die Verwandlung" desselben Autors (168) löst sich der Erzähler aus der Ich-Geschichte, um sich mit den von ihm erfundenen Personen zu identifizieren, bis schließlich innerhalb des fiktiven Falles der Erzähler der wahre Schuldige scheint.

Auf das literarische Panorama der Zeit beziehen sich auch Schwitzke, Fischer und Hasselblatt mit ihrem Hinweis auf die Monolognovelle Schnitzlers. Dieser Hinweis auf Schnitzler einerseits, auf die Hörspiele des Nouveau roman andererseits und schließlich, in Harigs "Staatsbegräbnis" z.B., statt des Autor-Erzähler-Reporters bei Kesser nun nur noch der vom Autor zitierte Reporter, deuten an drei Punkten der Hörspielgeschichte an, daß man auch bei der Untersuchung des Aspekts des Erzählers im Hörspiel den Gesichtspunkt der literarischen Entwicklung wird berücksichtigen müssen, daß Literatur als Prozeß auch im Hörspiel seine deutlich faßbaren Spuren hinterläßt.

IX

Ich möchte damit meinen vorläufigen und fraglos recht unvollständigen Bericht abbrechen. Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß die Frage nach dem Aspekt des Erzählers im Rundfunk allgemein und nach dem Erzähler speziell im Hörspiel die Vielschichtigkeit des Programmangebots, die unterschiedlichen Programmsparten besser in den Griff bekommt als die doch sehr enge und, wie mir scheint, ein wenig künstliche, wenn nicht sogar - gemessen an der literarischen Entwicklung - ein wenig anachronistische Frage nach einer Funkerzählung, die es - wie der historische Exkurs erkennen ließ - eigentlich nie überzeugend gegeben hat.

Statt dessen wird man von erzählender Prosa im Rundfunk sprechen können, die entweder der Autor selbst oder ein Sprecher liest bzw. spricht. Und man hat es dabei mit Reproduktion zu tun.

Man wird von der Adaption epischer Vorlagen durch Bearbeitung an einer Grenze zwischen Reproduktion und Produktion sprechen können. Diese Bearbeitungen erfolgen aus den unterschiedlichsten Gründen und sind entsprechend im Schulfunk, im Kinderfunk, aber auch in den Hörspielprogrammen aufzufinden. Zusammenhänge zwischen Stellenwert und Qualität der Bearbeitung lassen sich hier auf jeden Fall vermuten.

Von diesen Bearbeitungen möchte ich die aufgeführten Bearbeitungen Bronnens, Ophüls' und Eichs aus den genannten Gründen abheben, die ich überdies auf dem Wege zu Hörspielen sehe, bei denen epische Vorlage und Hörspielfassung vom gleichen Autor stammen.

Eine gelegentliche und mögliche Annäherung zwischen erzählender Prosa im Rundfunk und Hörspiel (im Sinne der Döblinschen Mischform), die Brink 1933 konstatiert, scheint mir schon 1929 mit "Schwester Henriette" (also im gleichen Jahr, als die Kasseler Arbeitstagung noch deutlich zwischen Hörspiel und Epik schied) und 1930 mit "Straßenmann" gegeben, und zwar so sehr, daß Schwitzke als leidenschaftlicher Verfechter des dialogischen Hörspiels, für das das Monologhörspiel dann eine Sonderform darstellt, sie ebenso als Kronzeugnis benutzen kann wie Hasselblatt bei seinem Versuch der Rekonstruktion einer Vorgeschichte der Funkerzählung.

Diese Doppelung von epischer Vorlage und Hörspiel läßt sich bis auf die Gegenwart beobachten. Sowohl bei ihr wie bei den originär als Spiel geschriebenen Hörspielen hat das Epische als Teilaspekt mehr oder weniger starke Spuren hinterlassen. Hier faßt die Frage nach dem Erzähler im Hörspiel die Vielfalt des Angebots so ein, daß sie eine sinnvolle Aufarbeitung eher zu ermöglichen scheint als eine von vornherein vorgenommene Unterscheidung von Hörspiel, Funkerzählung und Feature oder auch eine dies weiter differenzierende Unterscheidung von dramatischem Hörspiel, hörszenischer Reportage, epischem Hörspiel, lyrischem Hörspiel, Mischformen aus dramatischen, epischen und lyrischen Elementen und dem Feature.

"Der Rundfunk", sah Döblin 1929 völlig zu Recht voraus, "hat sein Hörspiel, das bisher mit Ausnahmen fast ganz in den Händen der Dramaturgen liegt, durchaus mit Hilfe der wirklichen Literatur zu entwickeln, denn es ist Sprache und dichterische Phantasie dazu nötig. Er bemüht sich schon, er möge aber, und mit ihm der Produzent solcher Werke, mehr als bisher bedenken, daß im Rundfunk jener alte Unterschied zwischen Epik und Dramatik aufhört. Das sind Trennungen der Literatur, welche das Buch und das Theater kennen. Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihre Zwecke nutzbar machen."

Druck in: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festshrift für Käte Hamburger zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Fritz Martini.  Stuttgart: Klett 1971.

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