Wann Finsterlin zum erstenmal persönlichen Kontakt mit Brust aufgenommen hat, wissen wir nicht. Doch ist kaum anzunehmen, daß die Bekanntschaft zunächst über den Briefwechsel der "Gläsernen Kette" hinausging. Immerhin lernte Finsterlin durch die beiden Folgen des "Frühlicht" auch Texte Brusts kennen, den literarische Nachschlagewerke als expressionistischen Lyriker, Dramatiker und Erzähler charakterisieren, dessen Werk um einen Körper-Seele-Dualismus kreise, um den Dualismus von erotischer Sinnenlust und entkörperter religiöser Ekstase.
Was Finsterlin im "Frühlicht" zunächst kennenlernte, war "Ein Bauspiel" (170), zu dem einleitend eine Zeichnung von ihm wiedergegeben war, eine Dialogsequenz aus "Der ewige Mensch" (171), ferner "Worte an die Meister aller Werke" (172) und im 3. Heft der neuen Folge, in dem auch ein Essay von ihm erschien, (173) aus den "Gesprächen" ein Auszug über "Paul Scheerbart", den Finsterlin leicht hätte auf sich selbst ummünzen können:
"- Ich habe in Scheerbarts
Lesabendio hineingeblickt und frage dich, was du von solchen uferlosen
Phantasien hältst? Ich begreife es nicht, wie der Geist der Menschen
sich damit beschäftigen kann, Dinge zu ersinnen, die es nicht gibt,
nicht gegeben hat und niemals geben wird. Wenn solch ein findiger Kopf
recht fleißig ist, kann er uns doch die ungeheuerlichsten Wesen und
Sachen zusammendenken. Was aber sollen denn diese Akrobatenübungen?
- Zunächst müssen
wir in einem Punkt einig sein. Der Mensch, wie er so lebt, denkt, fühlt,
ist ein Produkt dieses Weltalls.
- Mit Leib und Seele ist
er im Universum entstanden.
- Wenn dem so ist, kann
dann ein Mensch überhaupt etwas denken, was außerhalb des Universums
steht? Wird er nicht vielmehr in der Lage sein, so sehr er auch seinen
Geist anstrengt, nur solches zu denken, was in diesem selben Universum
wirklich möglich oder auch auf anderen Weltkörpern vorhanden
ist? Der Baum kann im Raum wachsen, wie er will. Über seine Form kann
er schließlich nicht hinaus, denn er ist mit allen Fasern im Weltraum
beheimatet Also der Mensch. Er glaubt nur immer weiß Gott wie wichtig
das ist, seiner Phantasie Zügel anzulegen, während für ihn
gerade das Gegenteil vonnöten ist. Die Menschlein wundern sich
immerwährend, wie es
kommt, daß unentwegte Einbildung übersinnlicher Dinge diese
Dinge schließlich gegenwärtig werden läßt. Das ist
ein außerordentlich einfacher Vorgang. Alles, was der Mensch überhaupt
unter Aufbietung aller Kraft zu denken im Stande ist, sei es auch noch
so sonderbar, das ist auch im Universum vorhanden oder noch immer möglich."
(174)
Vieles aus diesem Gespräch
könnte für Finsterlin Wasser auf die Mühle gewesen sein,
unter anderem die Überzeugung, es gelte, der Phantasie die Zügel
schießen zu lassen. So wundert es nicht, daß sich sein Kontakt
mit Brust über die Jahre hinzieht. In einem Prospekt für den
1926 erschienenen Roman "Die verlorene Erde" wird ausführlich Finsterlin
zitiert, der das Buch als "einzigartiges
Werk" aus "Religion, Kunst
und Wissenschaft" lobt. Ob Finsterlins lobende Besprechung auch in einer
Zeitung oder Zeitschrift erschien, oder ausschließlich für den
Prospekt geschrieben wurde, bleibt offen. Sie gehört jedenfalls zu
den wenigen Stellungnahmen, die der Monomane Finsterlin über Künstlerfreunde
abgab, und die deshalb hier wenigstens aufgezählt seien.
Es sind dies eine Besprechung von Bruno Tauts "Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin", Essays über den rheinländischen Architekten Fritz August Breuhaus, über die' Stickereien Aufseesers ("Vom Stückwerk zum Stickwerk"), ferner ein kurzer Essay über den in München lebenden Maler Adolf Büger und eben zu Alfred Brust, wobei in jedem Fall Berührungspunkte mit Finsterlins Werk gegeben sind.
Ein weiterer Kontakt ist für Ende 1929/Anfang 1930 durch mehrere Briefe Brusts belegt. Offensichtlich hatte Finsterlin nach seiner Stuttgarter Ausstellung nicht nur über Bruno Taut, sondern danach auch über Brust nach weiteren Ausstellungsmöglichkeiten gesucht. Das legt jedenfalls ein Brief Brusts vom 5.4.1929 nahe:
"Zunächst gebe ich dir hier deine Bildchen zurück. In Königsberg war ich noch nicht, werd auch kaum was ausrichten, da ich in dieser Hauptstadt meiner Heimat der verachtetste Mensch bin."
Der letzte erhaltene Brief Brusts vom 2.1.1930 ist auch deshalb interessant, weil er folgern läßt, daß Brust zu der Zeit, in der für die Familie Finsterlin die Frage eines Umzugs nach Stuttgart akut wurde, versucht haben muß, für Finsterlin das Terrain vorzubereiten.
"Ich habe mir", schreibt
er nämlich, "damals so dein Stuttgarter Dasein ausgemalt zwischen
Theater (Brandenburg), Möricke (Literatur) und Marx (Judenschaft).
Es scheint aber alles ins Wasser gefallen zu sein --- vielleicht als Folge
deiner dortigen Unbeständigkeit. Ich dachte mir dann so, du würdest
über diese Beziehungen hin Bauaufträge bekommen (Möricke
ist als Christ Philosemit!). Das hast du damals alles versäumt.
Nun - das liegt im Schicksal.
Ob es Gewinn dir bringt, heute wieder anzuknüpfen, ist bei dir verborgen.
Brandenburg, mit dem ich
viel korrespondiere, ist dir jederzeit offen. [...]
Sieh zu - und gib mir Bescheid."
Mit diesem Brief verlieren sich die Spuren einer Freundschaft (Brust starb 1934), deren Basis das Gefühl Finsterlins - wenigstens zeitweise - gewesen sein muß, in Brust einen wesensverwandten Gesprächspartner zu haben, dessen "werktätige Seelenschau [...] keinem geistreichelnden, erkünstelten oder modern stenographischen Stil" verfallen war, sondern "dessen Sprache [...] sich der offenbarende Geist so unfehlbar gebaut" habe, "wie irgend ein Naturgeist seine unabänderliche einmalige Form". (175)
War Brust für Finsterlin
"wahrlich ein 'Kind des Lichts'", zu Scheerbart blieb er, möglicherweise
aus einem Mißverständnis heraus, auf Distanz. Zwar war sich
Bruno Taut sicher, daß es sich bei "Der Siebte Tag" und "Die Grotte"
um "Phantasie aus der gleichen Quelle wie Scheerbart" handele, "eine Quelle
unter uns allen", und Tauts Urteil ist bei seiner profunden Scheerbart-Kenntnis
von
Gewicht, aber Finsterlin
hat diese "Quelle" für sich stets bestritten, vor allem als er nach
seiner Wiederentdeckung in den 60er Jahren erneut zu Wort gebeten wurde.
Finsterlins Dementi sind sogar berechtigt, wenn man Scheerbart, wie damals
häufiger, auf den Erfinder der "Glasarchitektur" verkürzt. Finsterlins
Abstreiten ist unberechtigt, wenn man Scheerbart allgemein als Autor phantastischer
Literatur begreift. Auf diesen hatte z. B. Servaes in seiner Kritik Bezug
genommen, auf Scheerbarts "Phantastereien", die "aller Wirklichkeit Hohn
sprachen". (176) Daß man es wagte, Pläne auszuhecken, "wie derlei
Spielzeug gebaut werden könnte, ja [...] ein hochtönendes und
absolutistisches Zukunftsprogramm der Architektur daraus" herzuleiten versuchte,
das vor allem war es, was Servaes' Kritik provozierte.
Finsterlin hat aber nicht nur Einflüsse Scheerbarts auf sein Werk bestritten, er hat sogar seine Kenntnis des Scheerbartschen Werkes über lange Zeit geleugnet, nicht zuletzt in dem auszugsweise schon zitierten Brief an Sharp vom 1.8.1972, wobei er allerdings erstmals differenziert:
"Die irrige Idee, daß
alle 12 Mitglieder der gläsernen Kette von Scheerbarth (sic, R. D.)
angeregt oder gar maßgebend beeinflußt gewesen wären,
habe ich schon öfter dementieren müssen. - Denn weder ich noch
die übrigen Mitglieder hatten mit Glas etwas zu tun. Der einzige,
Bruno Taut, war Freund und Anhänger Scheerbarth's, daher der Name
der gläsernen Kette, die er gründete, und sein Pseudonym 'Glas'.
- Nur Scharoun hat noch einen Kristallentwurf gemacht. -
Ich habe von Scheerbart
erst Jahre nach der gläsernen Kette etwas gelesen und gesehen. - Seinen
Roman "Liwuna und Kaidoh" habe ich sehr geliebt, aber seine Architektur
habe ich nie ernst genommen."
So recht und berechtigt Finsterlins Ablehnung der Glasarchitektur für seinen Fall ist, in anderen Punkten irrt er. Denn erstens war es Brust, der der "Gläsernen Kette" den Namen gab, zweitens haben neben Taut und Scharoun auch andere Mitglieder, u.a. Wassili Luckhardt, Glas- und Kristallentwürfe gemacht. Drittens und vor allem aber befand sich Scheerbarts "Seelenroman" "Liwuna und Kaidoh" in Finsterlins Bibliothek. Selbst wenn man unterstellt, daß Finstelin diesen 1902 im Insel-Verlag in Leipzig erschienenen Roman erst später antiquarisch erworben hat, von Scheerbart waren im "Frühlicht" außer den "Glashausbriefen" (177) "Der Architekturkongress" (178) und der "Tortenstern" (179) abgedruckt, letzterer aus "Liwuna und Kaidoh". Und zumindest diesen Teildruck hat Finsterlin sicherlich nicht überlesen, wenn er nicht gar zum Anlaß wurde, sich den Roman zu kaufen.
< Stalagtit und Stalagmit | Ein dadaistisches Zwischenspiel >