Es gehört zu den Merkwürdigkeiten - oder soll man sagen: Eigenarten? - des heutigen Kunstlebens, daß etwas so Eigenwilliges wie das Wirken Hermann Finsterlin's in Vergessenheit geraten konnte. Seine "fantastische" mit aller Tradition brechende "Zukunftsarchitektur" hat uin den Jahren nach dem ersten Weltkrieg revolutionäre Architekten begeistert und klassische entsetzt. Bauen ist ihm nicht nur allein Raumerlebnis, ein zweckfreies, beispielloses "Spiegelgewirk feinster Kräfte", sondern vor allem "eine stehende Bewegung, die jederzeit allseitig weiterblühen könnte". Er will bauen, wie die Natur baut, wie sie ihre Gebirge hochtreibt, auskehlt und abschleift, - wie sie ihre Eisgrotten bildet und ihre Kristalle, in überströmendem Formenüberfluß, in maßlosem Reichtum an Innenräumen. Keine Wohnstätten als Schutzhöhlen. "Vergeßt, daß Ihr seid, schafft göttliche Riesengefäße!" Kaum jemand hat vor und nach ihm in solcher Weise über Architektur geschrieben, aber gerade dieser Enthusiasmus rührte die Jungen jener Zeit. Stalaktitenartig steigen auf seinen Entwürfen Gebirgsdome hoch, durchdrungen von mächtigen Voluten, sich windend wie Schneckengehäuse, Hallen auswölbend wie mächtige Eishöhlen, wie verzaubernde Gletscherbrüche und rauschendes Muschelinneres. "Der Menschenraum, nicht mehr als Hohleindruck elementarstereometrischer Körper", lautet eine seiner Definitionen, "sondern als Seelengletschermühlensystem".
Was er zwischen 1913 und 1924 entdeckt, ist die abstrakte organische Plastik und das architektonische Äquivalent zur gegenstandslosen Malerei. Wollte man es einfach nur als konsequente Anwendung des Jugendstils auf die Architektur bezeichnen, dann dürfte man Finsterlin mindestens in der Geschichte des Jugendstils nicht mehr übergehen. Blicken wir heute zurück, so erscheint es uns doch noch als etwas anderes: nämlich als konsequenter Expressionismus in der Architektur.