Hermann Finsterlin? - Nur wenige werden sich erinnern, welchen Klang dieser an sich schon dunkle Ahnungen beschwörende Name hatte im Sturm der zwanziger Jahre. Gropius war von ihm begeistert, zusammen mit ihm Bruno Taut, Mendelssohn und Alfred Brust begründete Finsterlin 1919 die "Gläserne Kette". Ausstellungen zeigten seine Entwürfe, in Amsterdam widmete man ihm ein Sonderheft, Adolf Behne begrüßte den "so originellen und frischen Geist".
Gebaut freilich wurden diese Entwürfe nicht, waren sie überhaupt zu bauen? Diese Frage wird erneut laut dank der Darbietung der Galerie Diogenes. Höchst seltsame Dinge überraschen den erstaunten Gast: Grotten und wie wogende Berge, ins Unendliche gesteigerte Schneckengehäuse, Labyrinthe, nur erschaubar im Traum! Jedem irdischen Zweck scheinbar völlig entrückt, dennoch kühn geplant für ein Aquarium, für ein Heim der Künste, ja für den Bund der Völker.
Aus dem Abstand von mehr als einer Generation ist man geneigt, diese Modelle und Skizzen dem Jugendstil einzureihen, etwa in die Nähe des genialischen Antonio Gaudi. Doch Finsterlin ist noch phantastischer und utopischer. Und während Gaudi in und um Barcelona seine Visionen wenigstens teilweise verwirklichen konnte, blieb bei Finsterlin alles auf dem Papier. Oder auf der Leinwand, denn er malt ja auch. Und war ihm nicht die Idee wichtiger als die Realisierung?
Ja, wer war dieser Finsterlin? - Im Juli wurde er fünfundsiebzig. Geboren wurde er in München, dann studierte er faustisch Chemie und Physik, Medizin und Philosophie. War wie Klee und Kandinsky in München bei Franz von Stuck. Seine Bilder sind indessen nicht seine Spitze. Aber in der Architektur war und ist er ein enthusiastischer Anreger. Kein Zufall, daß Luckhardt diese Ausstellung eröffnete und Scharoun so lange in ihr verweilte.
[Telegraf, 12.9.1962]