Wohnen in der Seelengletschermühle
Er dichtete: "Den Popo hat die Bettelfrau / Vor Piper und Papaver blau..." Oder: "Neidhammelsraguwamsa wird stets länger / Weißpfauenaugenweidenrutengänger, / Blutlausbubenstückwerkbundschuhlöffelgans /I n einer ausgeschloffnen Puppe fand's."
Diesmal ist auch der Dichter Hermann Finsterlin, der Zarathustradithyrambische wie der von Dada, von Hans Arp inspirierte, ins Gesamtwerk integriert, man begegnet ihm in Vitrinen und vor allem im Katalog mit ausführlicher Monographie, die kein Kunstgeschichtier, sondern ein Literaturwissenschaltler verfaßt hat: Reinhard Döhl, der auch den Tonkünstler, den Musiker, den Filmeschreiber Finsterlin ans Licht holt, kurz: den von Grund auf - und der Grund heißt Jugendstil - echten und konsequenten Gesamtkunstwerker, der zu Recht Aufnahme in Harald Szeemanns berühmte Zürcher Themenausstellung "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" (1983) fand.
Dort figurierte Finsterlin unter den Architekten der "Gläsernen Kette", der vlsionären Architekturphantasien aus dem Kreis um Bruno Taut, 1919-1920. Auch der Bauhaus-Gründer Walter Gropius zählte zu den "Gläsernen". "Ach Walter Gropius", beginnt Finsterlins Klage-Epistel von 1968, dem Jahr der Stuttgarter Bauhaus-Ausstellung, zu der auch der alte Gropius aus Amerika gekommen war, "warum hast Du Deinen treuesten Wunschhelden ein großes Leben lang verleugnet wie Wotan seinen Siegmund?"
Er erinnerte Gropius an das einstige "Manifest" das lautete: "Ideen sterben, so bald sie Kompromisse werden." Also sprach "Prometh", wie er sich nannte, der erklärte Anti-Bauhäusler.
Bisher hatte man sich von Finsterlin-Ausstellungen - die letzte war voriges Jahr zum 100. Geburtstag des Meisters in Sindelflngen - noch verhältnismäßig unbefangen beflügeln lassen können mit Assoziationen und Metaphern, auch vom eigenen Mythos, den der Gesamtkunstwerker in die Welt gesetzt hatte. Jetzt, nach Döhls Untersuchungen, heißt es aufpassen. Nicht alles stimmt ganz genau.
Trotzdem ist das wieder ein richtiges Abenteuer, phantasieanregend, was da in rund 300 Exponaten in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie ausgebreitet hängt und liegt: Die "großzügige Stiftung einer repräsentativen Werkauswahl aus dem Nachlaß durch die Finsterlin-Erben": Die Staatsgalerie dankt mit der Ausstellung (bis zum 31. Juli) und mit dem gewichtigen Katalog.
An Finsterlin erinnert das postmoderne Bauen
Finsterlins erster Ruhm, vor allem als Phantasiearchitekt, von dessen Entwürfen nie etwas gebaut wurde, fällt in die zwanziger Jahre. Nach dem Krieg war der gebürtige Münchner (1887-1973), der bei Stuck studierte und in Berchtesgaden und ab 1927 in Stuttgart in seinem Anthroposophenhaus auf dem Frauenkopf lebte, praktisch vergessen. Zäh, mit vielen Enttäuschungen, arbeitete er an seinem Comeback. Aber nicht Architekturaufträge, sondern bloß die Architekturgeschichte holte ihn ein: in Büchern, Ausstellungen, Katalogen, Zeitschriften kommt Finsterlin vor. Was er ins Auge gefaßt hatte, haben mittlerweile andere realisiert.
Finsterlinisch wirkt die Sydney-Oper mit ihren aufeinandergeschichteten Muschelschalen. An Finsterlin erinnert das gesamte postmoderne Bauen der Gegenwart - vor allem dort, wo es sich "organisch" gebärdet. Und wenn heute allenthalben Zitierfreude und Eklektizimus grassieren und die ganze Bau- und Kunstgeschichte nebst aller Mythologie zur Verfügung steht, um durcheinandergequirrlt, teils pathetisiert, teils ironisiert zu werden: Finsterlin hat's vorgemacht und gleich den Spielzeugkasten dazugeliefert: sein Patent!
Ein homo ludens und Formenjongleur,
der automatisch erfindet (wie die Surrealisten) und vom informell-abstrakten
Krickelkrackel, Schnörkelwerk und Improvisieren zu seinen Ergebnissen
kommt, das das war er von allem Anfang an. "Am Ziel ist das Spiel der Stil",
heißt es bei Paul Scheerbart. Und bei Finsterlin ist [sic] mit von
der Partie. "Auch mein Ziel und mein Stil ist
das Spiel". Auch die Gedichte
entstehen so. Da spinnen sich, laut Döhl, "Wörter aus dden Wörtern
in semantischen. Kobolz- und Bocksprüngen" heraus.
Finsterlin war nie in eine
moderne Richtung einzuordnen. Er wollte auch mit keiner etwas zu tun haben.
Erst in die Postmoderne gehöt er richtig hinein.Da zählt er zu
den Vätern. Und vom Jugendtil hat er sich wohl nie ganz gelöst
Seine Architekturen, die man im Aquarell wie im bemalten Gipsmodell zu
sehen bekommt - Höchst zeitgemäße Kleinplastiken! - grimassieren
figürlich und göttermythologisch, sind in Wirklichkeit Lebewesen
gewesen, die kopulieren, permutieren, sich ständig verwandeln.
"Seelengletschermühle"
lautet sein Stichwort, das ebenso Höhlen und Grotten, Intrauterines,
wie Schneckenhäuser, Gletscher, Hochgebirge meint. Sein berühmtes
kosmisches Initiaqlerlebnis, das ihn von allem naturwissenschaftlichen
und künstlerischen Spezialistzentum und Sezieren schlagartig befreite,
hatte der junge Finsterlin bei einer nächtlichen Watzmann-Besteigung.
Da ist ihm jetzt Döhl auf den Fersen.
[Stuttgarter Nachrichten, 25.4.1988]