Er ist zwar kein ausübender
Architekt, sondern "nur" Maler, aber gerade als Maler mit dem schwerelosen
Material der Farbe und im "imaginären Raum" der Bildfläche konnte
der Stuttgarter Hermann Finsterlin, der am Samstag, 18. August 75 Jahre
alt wird, die abenteuerlichsten, freiesten, absolutesten Architekturen
bauen, die sich überhaupt denken lassen: im Bild und dann
natürlich auch im Entwurf,
im Modell. Mit seiner "phantastischen Architektur" hat Finsterlin, der
aus München gebürtig ist, nach dem ersten Weltkrieg die fortschrittlichen
Architekten angeregt und begeistert. 1919 gründete er mit Bruno Taut,
Gropius, Mendelssohn und anderen die avantgardistische Architektengruppe
der "Gläsernen Kette" und wurde mit seinen in dichterischer, dithyrambischer
Sprache vorgetragenen Reformideen rasch bekannt. Er erhielt einen Ruf als
Lehrer ans Bauhaus in Dessau. Die Nazizeit setzte diesem Aufschwung dann
ein vorläufiges Ende. Finsterlin malte und modellierte im Verborgenen
weiter, vergessen wurde er nicht. Gerade heute zeigt die moderne Architektur,
die über den Engpaß des Funktionalismus hinausstrebt, wieder
Interesse für Finsterlins Entwürfe.
Gegenüber der reinen
Zweckbestimmung und starren Konstruktion verselbständigt sich bei
Finsterlin die schöpferische Phantasie und steigert sich ins Phantastische.
Architekturen - wie auch Gemälde, Aquarelle - sind nicht mehr statisch,
sondern ganz und gar dynamisch, rhythmisch konzipiert und bringen einen
überraschenden, wuchernden Formenreichtum hervor - wie die Natur selber.
In seiner Malerei, die über das Tafelbild hinaus zur Wand strebt,
geht es Finsterlin um die Erschaffung einer neuen, aus der Kunst geborenen
Mythologie. Lichte, transparente Farben entmaterialisieren Dinge und Wesen,
die in ständiger Metamorphose begriffen sind. Es gibt Berührungspunkte
mit dem Surrealismus, sie sind zufällig. Finsterlin folgt keinem Programm.
Indisches und ostasiatisches Gedankengut spielten herein. Die eigentümliche
und eigenwillige Kunst Hermann Finsterlins wurzelt in der Neuromantik und
im Jugendstil.