Papiertheater | Der Rattenfänger von Hameln | Alle möglichen Tiere und Bauten | Spielsachen und Architekturspiel | Baukasten und Kartenspiel | Homo ludens | Anmerkungen
So selbstverständlich inzwischen von der Finsterlin-Forschung die Scheerbartsche Permutation Im Stil ist das Spiel das Ziel / Im Spiel ist das Ziel der Stil / Am Ziel ist das Spiel der Stil und ihre Anverwandlung durch Hermann Finsterlin (Auch mein Ziel und mein Stil ist das Spiel) zitiert werden, so wenig ist bisher gefragt worden, in welchem Umfang Spiel und Spielen am Gesamtwerk Hermann Finsterlins wirklich teilhaben. Zwar verweisen die Untersuchungen zu den Architektur-Aquarellen, zum utopischen Architekten gelegentlich auch auf die Architektur-Baukästen, insbesondere das "Stilspiel". Aber bereits das "Formdomino" und die "Didyms" bleiben meist außen vor, und die Spielsachen Finsterlins werden allenfalls als Kuriosa am Rande genannt und abgebildet. Dabei hätte bereits zu denken geben müssen, daß Finsterlin in der Stuttgarter Kollektivausstellung von 1928 - "Formen- und Farbenphantasien und -spiele" - "Holzplastiken", "Bühnenbilder" und die "Baukästen" als Teile seiner als Ganzes begriffenen künstlerischen Arbeit vorgestellt hatte. Wobei nicht nur am Rande von Interesse ist, daß das "Stilspiel" schon einmal im Winter 1924/25 im Rahmen der Ausstellung "Neues Spielzeug" im Landesgewerbemuseum zu besichtigen war, vor allem aber, daß Museumsdirektor Gustav Pazaurek 1928 zunächst nur an eine Ausstellung von Spielzeug aber auch von Stickereien gedacht hatte (1).
Die Schömberger Ausstellung "Spielsachen und Spiele", ihr Katalog wollen deshalb das Augenmerk nicht wie üblich von den Architekturen auf das andere Werk, das es eben auch gibt, richten, sondern Finsterlins anverwandeltes Auch mein Ziel und mein Stil ist das Spiel zum Ausgangspunkt nehmen, nach dem Spiel in Biographie und Werk Finsterlins fragen. Und hier wird der Interessierte bereits recht früh fündig.
Vater hatte, erinnert sich Hellmut Finsterlin, aus der eigenen Kindheit ein auf einem Tisch Platz findendes Pappe-Marionetten-Theater aufbewahrt (2). Und Gabriele Reisser-Finsterlin präzisiert: Noch vor Schulbeginn schenkte ihm seine Mutter einen großen Kasten zum Aufklappen, so entstand ein Theater mit Rückwand für Kulissen. Dabei waren Karton-Bögen, auf denen zum Ausschneiden Figuren aller möglichen Opern farbig aufgedruckt waren. Auf Holzklötzchen konnten sie nun auf der Bühne bewegt werden. Die Namen der Figuren beschriftete meine Großmutter (3). Dieses Papiertheater hat sich erhalten (Abb. 1), ebenso zahlreichere Spielfiguren nebst den zugehörigen Textheften.
Aus der Literatur wissen wir um die Rolle, die solche Papiertheater im Kreis (groß)bürgerlicher Familien seit der Zeit des Biedermeier/Vormärz gespielt haben mit literarischen und autobiographischen Belegen u.a. bei Karl Gutzkow, Felix Dahn, Gustav Falke und Ludwig Fulda, bei dem Arzt Carl Ludwig Schleich und dem Münchner Maler Rolf von Hoerschelmann, bei Thomas Mann und Julius Stinde. In "Der Bajazzo" (1897) berichtet z.B. der Ich-Erzähler von einem große[n] und wohlausgestattete[n] Puppentheater, mit dem er sich ganz allein in [s]einem Zimmer einschloß, um die merkwürdigsten Musikdramen darauf zur Aufführung zu bringen (4). In den "Buddenbrooks" (1901) wünscht sich der achtjährige Johann zu Weihnachten ein Puppentheater, nachdem er zum ersten Mal an der Seite seiner Mutter atemlos den Klängen und Vorgängen des "Fidelio" hatte folgen dürfen (5). Wobei zu vermuten ist, daß Thomas Mann (geb. 1875) sich an ein Papiertheater seiner eigenen Kindheit erinnert, wie dies konkret der 1885 geborene Münchner Maler Rolf von Hoerschelmann tut: Große gesellschaftliche Ereignisse aber waren die Aufführungen des Puppentheaters, die, vom Vater inszeniert, einer zahlreichen Zuhörerschaft den "Robinson Crusoe", den "Freischütz" oder gar "Die Räuber" vermittelten. Ich kann nicht leugnen, daß es Eindrücke fürs Leben waren (6).
Daß dieses Spielen auch bei dem 1887 geborenen Hermann Finsterlin Eindrücke fürs Leben hinterlassen hat, läßt sich bereits daran ablesen, daß er sein Papiertheater für die Kinder wieder auspackte und bespielte, sowie daran, daß er später das Papiertheater durch eine Bühne aus Holz ersetzte. Finsterlin schrieb also seine Kinder- und Jugendliebe zu Oper und Papiertheater im Spiel mit seinen und für seine Kinder fort zu einer Zeit, in der er auf der anderen Seite selbst ernsthaft Szenarien und Filmdrehbücher verfaßte, was zu einer parallelen Betrachtung geradezu herausfordert.
Diese Szenarien und Filme lassen sich zwischen 1919/1920 und 1925 datieren. Da die Kinder Theaterspielen [...] schon von früher Kindheit an gewohnt waren und ihre ersten Erinnerungen an das Papiertheater ihres Vater mit vielleicht knapp vierjährig (der Sohn), mit etwa vier bis fünf Jahre alt (die Tochter) datieren, ergeben sich die Jahre 1920 bis 1924 als die Jahre der spielerischen Theatererfahrung. Die erste Erinnerung des Sohnes ist eine Theateraufführung des "Rattenfängers von Hameln" durch den Vater, die ich mit 1920, spätestens 1921 ansetze.
Es war ein großes Fest, als er [...] den Rattenfänger von Hameln zur Aufführung brachte. [...] Die beleuchtete Bühne, die in der Tür vom Elternschlafzimmer zum Wohnzimmer stand, der verdunkelte Zuschauerraum, die gewisse Feierlichkeit, in der die Zuschauer Platz nahmen, sodann die Vorhänge auf der Bühne - ich begriff nichts, doch faszinierten mich die Bewegungen, die es auf der Bühne gab sowie die Lichtspiele - all das beeindruckte mich sehr. Zum Schluß tanzte der Rattenfänger an der Spitze der Kinderschar auf der Bühne und verschwand dann mit ihnen in der Dunkelheit. Vater hatte die Silhouetten des flötenden Anführers und die Kinder aus schwarzer Pappe herausgeschnitten und an einem Reifen befestigt. Dieser hing an unsichtbaren Fäden und drehte sich. Merkwürdiger Weise durchschaute ich diesen 'Mechanismus', während mir der Sinn des Dramas vollständig verborgen blieb.
Nun ist "Der Rattenfänger von Hameln" Ende des 19. Jahrhunderts ein auf dem Papiertheater beliebtes Stück gewesen (7). Und auch Hermann Finsterlin hat nicht nur die zugehörigen Dekorationen, die ausgeschnittenen Spielfiguren (Abb. 2) und das Textheft (8) des Eßlinger Schreiber Verlags besessen, sondern offensichtlich auch mit ihnen und nach ihm gespielt. Dem steht die Erinnerung des Sohnes an vom Vater aus schwarzer Pappe ausgeschnittene Silhouetten des Rattenfängers und der Kinder entgegen. Was drei Spekulationen zuläßt: a) Finsterlin hatte die Figuren des Schreiber Verlags durch aus schwarzer Pappe ausgeschnittene Silhouetten ersetzt, oder, wahrscheinlicher, b) Finsterlin hatte sich diesen Reifen, der später die Küchenlampe zierte, für den Schluß des Spiels ausgedacht. Wobei zusätzlich zu fragen wäre, welche Textgrundlage dieser Rattenfänger-Inszenierung zugrunde lag.
Im Nachlaß befindet sich nämlich außer dem Textheft des Schreiber Verlags ein fünfseitiges Manuskript eines Rattenfänger-Spiels von Finsterlins Hand, das sich bei stark reduziertem Personal auf merkwürdige Weise ebenso von der Sage wie vom Textheft des Schreiber Verlags unterscheidet. Denn in ihm ist der Rattenfänger nicht ein fahrender Spielmann, der die Kinder im Auftrag des Feenkönigs Luminus befreit und in den Feenpalast bringt, sondern ein Heilsbringer, der schließlich zu einem Engel mutiert, der die Kinder gen Himmel führt. Allerdings ist das Personal des Feenpalasts ebenfalls durch Flügel ausgezeichnet (Abb. 2). Im Manuskript schließt die 3. Szene:
Gitter schieben sich von allen Seiten herein. Die [unleserlich] immer mehr [unleserlich], bis die Scene ganz dunkel ist. Eine Zeitlang Stille. - Dann ganz ferne wieder d[as] Rattenfängerlied. - Mit dem Stärkerwerden des Lichts nimmt die Helle zu und die Gitter lösen sich, das Tor öffnet sich, bei vollem Klang zieht der R[attenfänger] draußen vorbei mit einer Kette von Kindern als Silhuetten [sic, R.D.]. Dämmernder aber unwirklicher Morgen. - Leuchtender gelber Hintergrund.Die folgenden zwei Szenen hat Finsterlin damals offensichtlich nicht mehr gespielt oder sie sind dem Gedächtnis des Sohnes entfallen.Chor der Kinder, - erst von ferne. / O Wunder o Wonne / Der Traum ward endlich wahr / Nie strahlte so hell die Sonne / Nie war der Himmel so klar / Nie klangen so nah die Sterne / Und duftete so die Luft / Es war alles so dumpf und ferne / Wie Träume in dunkler Gruft. / O Freiheit, aller Gnaden / Zauberhaftestes Glück, / Es führt kein tückischer Faden / In unsere Kerker zurück. / Uns ist so leicht zu Mute / Seit der da vorne uns führt, / Es ist als ob in seinem Blute / All unser Wesen sich kürt, / Vollende, Du Heiland, Dein Tuen, / Und leite uns zu uns allein / Du lockst nicht auf Gipfel zum Ruhen / Du führst in den Berg hinein!
4. Szene. Im [unleserlich] großes offenes Felsentor durch das der Kinderzug zieht, der Spalt ist voll Licht. Nach dem Letzten schließt sich das Tor. -Alle möglichen Tiere und Bauten5. Scene. Freie Wiese, in der Ferne ein ragender beleuchteter Berg, der sich wolkenartig nach oben öffnet. Ihm entsteigt ein Engel, unter seinen Flügeln eine Schaar Kinder und junges Volk, er fliegt gen Himmel. / Musik. / Vorne strömen die Bürger zusammen und schauen das Phänomen, - starr unter vereinzelten Seufzern. -
Daß Finsterlin Anfang der 20er Jahre für seine Spiele auf dem Papiertheater schon gedrechselte Holzfiguren benutzt hat, ist unwahrscheinlich. Wenn ja, könnte der nicht mehr vollständig im Nachlaß erhaltene Rattenstern (Abb. 3) hier eine Rolle gespielt haben. Sicherlich eine Rolle gespielt haben die gedrechselten Tierfiguren dann aber auf der Bühne aus Holz, die Mitte der 20er Jahre das Papiertheater ablöste. Die Vorderseite, erinnert sich der Sohn, war ein senkrecht stehender Halbbogen, die Rückseite wurde durch einfarbige Hintergründe ergänzt. Bäume wurden aus geeigneten Baumwurzeln gemacht, die eine bestimmte Farbe bekamen und einen Fuß aus Plastilin hatten (Abb. 4a, b). Alle möglichen Tiere und Bauten ließ er aus Holz fertigen. Sie wurden, der Erinnerung der Tochter zufolge, nach seinen Zeichnungen [...] gedrechselt. Seine dazu verfaßten Gedichte schlugen wahre Purzelbäume.
Einige um 1928 zu datierende Archivfotos lassen ablesen, mit was alles Finsterlin sein Theater bei wechselnden Hintergründen bestückt hat: z.B. mit dem Wolkenkuckuck und einer Schnecke vor einem Hochhausmodell (Abb. 5) oder mit Würfeln, Musikinstrumenten und einem Regenbogen (Abb. 6), aber auch mit Kombinationen aus dem "Formdomino" oder Phantasiebauteilen (Abb. 7, 8). Auffällig ist der stets wechselnde, freilich nicht einfarbige Hintergrund.
Man kann davon ausgehen, daß zu den meisten noch erhaltenen Tieren nicht nur Gedichte sondern auch kleine Spiele existierten. So könnten, wie bereits angedeutet, die zahlreichen Ratten in den Kontext des "Rattenfängers von Hameln" gehören. Wenn sich zu Wolken (Abb. 9a) und Kuckuck (Abb. 9b) ein zweiter gesellt, der auf einem an den Fudschijama gemahnenden Berg sitzt (Abb. 10), deutet sich bereits eine Geschichte an. Zum Schwan (Abb. 11) gehört mutmaßlich die kleine Szene "Der Schwan, der die Diebe auseinandersetzt" (9), eine Szene, in der zu den guten Tieren noch ein Pferd, ein laufender Fisch, der immer seinen Schwanz verliert und eine Knotenschlange, in der zu den schlechten Tieren die Diebsmäuse, die Riesenmaus und die Schlange aus Kupfer und Blei zählen.
Natürlich spielen viele dieser Tiere oder Holzfiguren auch an anderer Stelle des Gesamtwerks ihre Rolle. Ich hatte in "Hermann Finsterlin. Ein Werkquerschnitt" (künftig zitiert: Werkquerschnitt) bereits auf die Bedeutung der Schlange für das Gesamtwerk Finsterlins verwiesen und den Schlangenbaum abgebildet, gezeigt, daß der Regenbogen (Abb.12) sowohl in der Freskenmalerei Finsterlins wie in seinen erotischen Zeichnungen eine Rolle spielt. Der Elefant, den es in einer naturbelassenen (Abb. 13) und einer farbigen Fassung (10) gibt, begegnet gleichfalls in der Bilderwelt Finsterlins (11) und korrespondiert mit dem Ganesha der Mythologie (12). Die Nacktschnecke des abgebildeten Bühnenbilds (Abb. 5) gibt es auch mit Haus und wird gerne für erotische Zeichnungen ausgedeutet. In einer gedrechselten Version trägt sie statt des Hauses eine Moschee auf dem Rücken (Abb. 14) und stellt damit eine Verbindung zum "Stilspiel" her, in dessen Umfeld es eine Reihe von Moschee-Modellen gibt.
Aber nicht nur den Tieren und Spielfiguren, auch dem Bühnenbild gilt ein besonderes Interesse Finsterlins. Dieses Interesse läßt sich bis zu den ersten Theaterbesuchen zurückverfolgen und belegt nach 1912 mit Bühnenbildentwürfen zu "Siegfrieds Tod" (Abb.15) wie später mit den Aquarellen "Lohengrin" und "Parzifal" zugleich Finsterlins großes Interesse an Wagner. Und wen der Hintergrund der Abbildungen 7, 8 an Finsterlins frühe Landschaftsmalerei erinnert, der sollte den Aphorismus Jedes schöpferische Bild ist gleichsam ein Bühnenentwurf mitbedenken.
Spielsache und Architekturspiel
Gleichzeitig bestätigen die Abbildungen 7, 8, was die "Moscheenschnecke" ihrerseits demonstriert: die offene Grenze zwischen Spielsache und Architekturspiel. Finsterlin selbst hat 1928 in den Abbildungen eines Prospekts zu seinem "Stilspiel" nicht nur die Stiltypen der Weltarchitektur gezeigt, sondern in zwei der drei Abbildungen für Fantasiebauten mit dem Stilspiel, dafür geworben, die Handhabung des Stilspiels [...] nicht auf die großen historischen-abstrakten Bautypen zu beschränken (Abb. 16a), erklärt, daß die Ursprünglichkeit der Bauelemente [...] unendliche Kombinationen zweiter Ordnung ermögliche (Abb. 16b), die trotzdem nie ins Chaotisch-Geschmacklose entgleisen können kraft der bestimmten Anzahl, Größe und Vielförmigkeit der Bauteile, was somit auch eine Beigabe festlegender, phantasiehemmender Vorlagen jenseits der historischen Reihe für das spielende Kind entbehrlich mache (13).
Das "Stilspiel" und in seiner Folge das "Formdomino" und die "Didyms" lassen sich als Versuch Finsterlins deuten, die Richtigkeit seines architektonischen Weltbildes, seiner Position und des von ihm eingeschlagenen Weges unter Beweis zu stellen, als Versuch, sein utopisches Konzept historisch exakt herzuleiten. Finsterlins Erläuterungen zum "Stilspiel" (14) erschienen im Frühjahr 1922 im "Frühlicht", sind aber wohl, wie der zugehörige Baukasten, in einer ersten Fassung bereits 1921 entstanden. In ihnen unterscheidet Finsterlin 3 große Epochen der Weltarchitektur, und er geht dabei aus von Kugel und Würfel als den beiden Polen aller Form, der bipolaren Urform. Zwischen diesen beiden Ruhen lägen als Form der Tätigkeit Kegel und Pyramide, und als Zwischenglieder [...] Kuppel und Nadel, Zwiebel, Glocke und Horn. Aus ihnen hätten sich, in Kombination untereinander, die großen Völkerstile bis heute entwickelt, die der Stilbaukasten in der reinen Form des Kultbaus bereit stelle als Tempel, Pyramide, Pagode, Moschee, Dom (Abb. 17); in reiner Form, weil der Mensch mit ihnen in unbewußter oder unterbewußter Symbolik die imaginären Orte seiner geistigen Vereinigung mit dem Bauherrn seiner Welt umkleidet habe, während der Profanbau [...] bis heute schon seiner Zweckmäßigkeit wegen unrein und alteriert und unwesentlich für die Betrachtung der Baukunst sei. Das "Stilspiel", war er überzeugt, könne dies leisten, könne die erste Epoche der Weltarchitektur, die er die Koordinatenepoche" nannte, spielerisch ins Bewußtsein heben.
Als zweite Epoche setzt Finsterlin die geometrische oder trigonometrische oder auch die Mineralepoche, die diese primären Formelemente aufsplittere und zueinander in Beziehung setze im Reinschnitt, in Zwillingen und Gruppen. Diese Epoche scheine in unseren Tagen zu beginnen. Finsterlin hat auch dieser Epoche das passende Spielzeug bereit gestellt in Gestalt des "Formdominos" und des "Didyms" (griech. zwiefach, doppelt; subst. Zwilling), das er auch Durchdringung nennt. (Abb. 18a, b)
Die meisten Beispiele schließlich des im Anschluß an die Erläuterungen Finsterlins wiedergegebenen Skizzenblatts (Abb. 19) verweisen unübersehbar auf die utopischen Architektur-Blätter und -Aquarelle Finsterlins seit 1919 zurück und leiten damit zur dritten Epoche, der Zukunftsarchitektur, über, die Finsterlin die organische nennt und als Epoche charakterisiert, welche auf rein intuitivem Wege eine unberechenbare organische Verschmelzung schon hybrider Formelemente erreicht, die jedoch nicht minder ausbalanciert sein können als etwa ein gotischer Dom.
Wenn Finsterlin seine Deszendenz der Dome als Spiel vorstellt, zieht er, wie man nicht übersehen sollte, die Konsequenz aus einer seiner Antworten an den "Arbeitsrat für Kunst" im April 1919 (15), aus der Überzeugung, daß man lehrend lernen und lernend lehren sollte. Der utopische Baumeister wird zum konkreten Spieler, sucht Anschluß an das kindliche Spiel, mit der Begründung, daß von jeher klare Verwandtschaft bestanden habe zwischen dem unverbildeten Kinde und Naturmenschen, den die Kulturhemmungen überwindenden Narren und dem Genius (16).
Finsterlin hat an seinem "Lehr-, Spiel- und Versuchsbaukasten", wie die verschiedenen vollständigen und unvollständigen, farbigen (17) oder naturbelassenen Versionen einzelner Architekturen ablesen lassen (Abb. 20 a, b, c), immer wieder gearbeitet, und er hat ihn vor allem durch seine spielenden Kinder 'testen' lassen. Eine wichtige Erfahrung in unserem ersten Kindheitsabschnitt, schreibt Gabriele Reisser-Finsterlin, war die Begegnung mit Vater's "Stilspiel" [...]. Aus Grundelementen errichtet, farbig und etwas größer als die spätere Form die in einen Holzkasten passen mußte, hatten wir die freie Wahl für unsere Prachtbauten die wir dann noch mit Figuren bevölkerten. Um solche Bauten war es immer lebendig und es passierte viel. Was Hellmut Finsterlin bestätigt: Viel Freude hatten wir mit Vaters Baukasten "Stil-Spiel", mit dem man Grundbauten der Weltarchitektur aufbauen konnte. Man konnte damit auch alles mögliche andere bauen. Der kindlichen Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir bestimmten den Linoleum-Boden-Belag in einem der Räume zum Meer. An dessen Ufer [...] bauten wir Häuser und Paläste und auf dem "Meer" ließen wir Schiffe fahren, die ebenfalls aus Teilen des Baukastens hergestellt waren.
So sicher sich aus dem frühen Besitz eines Papiertheaters, das Finsterlin für seine Kinder reaktivierte und später durch ein eigenes Theater ersetzte, das Wasserzeichen "Theater" in Finsterlins Oeuvre mit erklären läßt, im Falle des "Stilspiels" ist man auf Vermutungen angewiesen. Und die führen zu den Stein- oder auch Holzbaukästen, die ebenfalls seit dem Biedermeier/Vormärz als Kinderspielzeug in keiner (groß)bürgerlichen Familie fehlen durften. Man kann also davon ausgehen, daß auch Finsterlin in seiner Kindheit einen solchen Baukasten besessen hat, dessen obligate 'Bauvorschriften' seiner überbordenden Phantasie im Wege waren, was noch nachklingt, wenn Finsterlin 1928 in dem bereits zitierten "Stilspiel"-Prospekt auf Beigabe festlegender, phantasiehemmender Vorlagen [...] für das spielende Kind ausdrücklich verzichtet.
Zusammenhänge und vor allem die Unterschiede zwischen einem Anker-Steinbaukasten und Finsterlins "Stilspiel" sind seinerzeit durchaus gesehen worden, z.B. in der Zeitschrift "Deutsche Kunst und Dekoration", in der das "Stilspiel" als Produkt der Bonner "Mikado-Werkstätten" angekündigt wird, wo es dann aber doch nicht erscheint: Der gute alte Anker-Steinbaukasten hat lange genug und redlich seine Dienste getan. Aber jede starke Zeit mit wirklich eigenem Wollen und Stil wird dieses bis ins Letzte zum Ausdruck bringen, bis in das Spielzeug der Kinder. Ob es aber für die Großen nicht noch wertvoller ist, die selber erst wieder einmal Kinder werden müssen, ursprünglich, rein empfindende Menschen? Ein Baukasten ist's, der auf die Urformen der Architektur und aller Stile zurückgeht. (18)
Eine dritte Fortsetzung traditionellen Spielens, etwa des Quartetts, liegt möglicherweise vor bei einem von Finsterlin erfundenen Kartenspiel, an das sich Gabriele Reisser-Finsterlin erinnert: Auch malte er ein Kartenspiel mit Bildern einerseits und Worten wie Attributen und Verben (Tätigkeitswörtern). Die Karten wurden gemischt, verteilt und gegenseitig gezogen. Wenn jeder der Mitspieler dann seine Karten in einer Reihe auflegte, kamen herrlich komische Geschichten heraus, die Vater oft gleich in ein Gedicht verwandelte. Ich habe dieses Kartenspiel in "Hermann Finsterlin. Eine Annäherung" (19) ausführlicher dokumentiert und will mich hier nicht wiederholen. Worauf es mir ankommt, ist, daß einmal nachweislich, zweimal mit großer Wahrscheinlichkeit den Finsterlinschen Hervorbringungen traditionelle Spielsachen und Spiele zugrunde liegen, die er sich spielend anverwandelt und auf seine Weise produktiv gemacht hat für eine Kunst, die, auf der Basis von Spiel und Spielen, alle Kunstarten einschließen wollte.
Es bleibt noch ein Letztes. Bereits in seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1903 deutete der holländische Kulturhistoriker Johan Huizinga an, was er dann in den dreißiger Jahren immer konsequenter versucht hat, eine Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Er stellte dazu neben den entwicklungsgeschichtlichen Begriff des homo sapiens und den zivilisationsgeschichtlichen Begriff des homo faber (und wer will, mag hier durchaus an den "Bericht" von Max Frisch denken) die kulturgeschichtliche Vorstellung des Menschen als eines homo ludens, überzeugt, daß menschliche Kultur im Spiel - als Spiel - aufkomme und sich entfalte, daß der sehr selbständige und sehr primäre Charakter des Spiels älter [...] als die Kultur sei und daß in der Funktion des Spiels, das eine selbständige Qualität sei [...], das Gefühl des Eingebettetseins des Menschen im Kosmos seinen ersten, höchsten und heiligsten Ausdruck finde.
Finsterlin hat Huizingas Buch nicht gekannt. Aber er hat dieses Eingebettetsein des Menschen im Kosmos 1918 während einer nächtlichen Besteigung des Watzmann erfahren, bei der ihm die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung [erschienen]. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel [sic, R.D.] unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- oder Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Ästhetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die übergeordnete Harmonie, war mir höchster Sinn des Lebens.
[Katalogtext der Ausstellung
"Hermann Finsterlin. Spielsachen und Spiele." Schömberg 21.7.-30.9.2000]