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Jürgen Joedicke | Über Hermann Finsterlin

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Hermann Finsterlin entzieht sich jeder Einordnung und Kategorisierung. Er war ein Außenseiter, "ein reiner Tor" der in immer neuen Ansätzen für sein Konzept einer organischen Architektur eintrat.

Die historischen Fakten beschränken sich auf wenige Daten. 1919 forderte der Arbeitsrat für Kunst unbekannte Architekten auf, Entwürfe für eine Ausstellung einzureichen. Finsterlin schickte seine Arbeiten an Walter
Gropius, den Vorsitzenden des Arbeitsausschusses des Arbeitsrates für Kunst. "Ich bin sehr beeindruckt", schrieb Gropius zurück, "senden Sie viel Material" (1). Die Ausstellung in der Galerie J. B. Neumann, Berlin, wurde für ihn zu einem großen Erfolg.

1919 entsteht die "Gläserne Kette", ein Briefwechsel zwischen  gleichgesinnten Künstlern und Architekten in Deutschland. Finsterlin ist einer der wesentlichen Anreger in diesem Kreis. 1920 und 1922 erscheinen
zwei Artikel in Bruno Tauts Zeitschrift "Frühlicht" (2), 1924 widmet ihm die holländische Zeitschrift "Wendingen" ein Sonderheft (3).

Danach wird es still um ihn, die moderne Architektur hatte sich auf Sachlichkeit eingestellt, für utopische Phantasien blieb kein Raum mehr. Erst Ende der fünfziger Jahre wird Finsterlin wiederentdeckt. Es erscheinen
eine Reihe von Publikationen über ihn, so 1969 Franco Borsis Buch "Hermann Finsterlin, Idea dell'architettura", erstmals wird ein komplettes Werkverzeichnis erarbeitet (4).

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Hermann Finsterlin wurde am 18.8.1887 in München geboren Er studierte an der Universität München Chemie, Physik und Anatomie. Unbefriedigt von den analytischen Methoden wissenschaftlicher Arbeit wandte er sich von den Naturwissenschaften ab und suchte ein umfassenderes Weltbild durch das Studium der Philosophie. Ab 1913 nahm er Malunterricht an der Akademie in München. Daneben entstanden Gedichte, in der Spannweite der Themen vom philosophischen Lehrgedicht über Lyrik bis zur Groteske reichend, und
plastische Arbeiten. Unbefriedigt vom "Wohnen in Würfeln" entstanden erste Architekturskizzen. 1919 erreichte ihn der Aufruf des Arbeitsrates für Kunst.

1926 zog er nach Stuttgart. Sein Hauptinteresse galt wieder der Malerei. Die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland führte ihn in die totale Isolation.

Nach seiner Wiederentdeckung Ende der fünfziger Jahre häufen sich Ausstellungen, entstehen Publikationen. Am 16.9. 1973 stirbt er in Stuttgart.

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Was Finsterlin anstrebte, war ein "Riesenhohlkörper mit endlosen Möglichkeiten äußerer und innerer Formgebung" (5). Er war sich darüber klar, daß seine Visionen weit jenseits der Realität liegen, aber er war auch der Meinung, daß ein Bedürfnis erkennbar ist, "... eine Sehnsucht nach lebendigem Spiel, nach größerem Reichtum der Form, auch in der nur scheinbar und notgedrungen so form- und zweckgerechten Architektur" (6).

Sein Vorbild war die Natur, in der er einen ungeheuren Formenreichtum feststellte, hinter der der Mensch weit zurückgeblieben sei, anstatt sie zu überbieten. Und sein Vorwurf galt der Technik. "Seit Beginn des  technischen Zeitalters hat sich die Architektur nicht weiterentwickelt... Die Entwicklung der Baukunst ist, biologisch gesehen, auf der Saurierstufe stehengeblieben" (7). Und er war sich bewußt, in seinen Modellen und
Zeichnungen nur unvollkommene Proben geben zu können.

Wenn Finsterlin auf die Natur als Vorbild hinwies, so folgte er damit einer langen Tradition in der modernen Architektur und ihrer Vorläufer. Schon Greenough und Sullivan begründeten ihren Anspruch auf eine neue Architektur mit Analogien zur Natur. Ähnliches findet sich bei Wright und Häring sowie Scharoun.

Aber während jenen die Analogien mit der Natur zur Begründung eigengesetzlicher Formen in der Architektur dienten, nahm Finsterlin diesen Anspruch wörtlicher. Seine Zeichnungen zeigen organoide Formen, die jenen
der Natur zu entsprechen scheinen (Kat. Nr. 74a; Abb. S. 17). Sicher liegt ein Grund darin, daß Finsterlin kein Architekt war, sondern ein freier Künstler, der seine Utopie nicht an technischen und funktionellen Zwängen
orientierte.

Eine Analyse seiner Zeichnungen und Modelle läßt einige gemeinsame Merkmale erkennen:

* Die Architektur steht als künstlerisches Einzelelement von verhältnismäßig bescheidenen Dimensionen in der Landschaft. Relikte einer konventionellen Architekturvorstellung sind zu erkennen, so Dach, Treppe. verglaste Fensteröffnungen, Eingangstür usw.

* Die Architektur verliert ihren Hauscharakter, wird zur begehbaren Riesenhohlplastik. Die Formen sind kristallin oder organoid (Kat. Nr.81, 82; Abb. S.5).

Während bei anderen Skizzen oder Entwürfen jener Zeit, der beginnenden zwanziger Jahre, immer eine gewisse Verbindung zur baulichen Realität besteht, haben sich Finsterlins Visionen am meisten davon entfernt. Sicher könnte man heute manches davon realisieren, mit neuen Baustoffen und neuen Konstruktionsweisen. Aber das scheint mir nicht so wichtig zu sein; - wesentlich ist vielmehr, daß er, höchst individuell, den Kanon der
Vorstellungsmöglichkeiten erweiterte. Was er entdeckte, "... war die abstrakte organische Plastik und das architektonische Äquivalent zur gegenstandslosen Malerei" (8).

Sein Werk ist nicht von seiner Person zu trennen. Wo immer er auftrat, faszinierte er mit dem Charme seiner Persönlichkeit. Kenntnisreich auf den Gebieten der Philosophie und Mythologie, bedeutend als Maler und Graphiker, anregend als Schriftsteller und Poet, liebenswert als Mensch und Freund, war er einer der letzten Vertreter eines Generalistentums, das heute kaum nach anzutreffen ist.

Anmerkungen
1) Franco Borsi: Hermann Finsterlin, Idea dell'architettura, Firenze 1969, S. 37.
2) Hermann Finsterlin: Der achte Tag. In: Erühlicht, Anhang zu "Stadtbaukunst alter und neuer Zeit", 1920, Heft 11. Hermann Finsterlin: Die Genesis der Weltliteratur In: Frühlicht, 1922, Heft 3.
3) In "Wendingen", 3de Nummer van de 6de Serie, 1924.
4) Werkverzeichnis mit Biographie und Bibliographie. Erarbeitet von H. P. C. Weidner und K. Lienemann am Institut für Grundlagen der modernen  Architektur und Entwerfen, Prof Dr.Ing J. Joedicke, Universität Stuttgart.
Auszugsweise veröffentlicht in: H. Finsterlin, Architekturen 1917 - 24.  Ausstellungskatalog der Fachschaft der TH Stuttgart, 1966.
5) Dennis Sharp: Modern Architecture and Expressionism. London 1966, S. 98.
6) Franco Borsi, a.a.0., S. 264.
7) Franco Borsi, a.a.0., S. 287.
8) Otto Conzelmann. In: Katalog zur Ausstellung in der Galerie Diogenes, 1962.
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Drucknachweis: Hermann Finsterlin 1887 - 1973. Zum 100. Geburtstag. Stadt Sindelfingen, Kulturamt 1987. Katalog und Ausstellung Otto Pannewitz, Barbara Stark, S. 4-6