Enorm war der Zulauf in der "galerie diogenes", die zu den "Berliner Bauwochen" nicht nur eine Architektur-Ausstellung zusammengetragen, sondern auch einen Architekten besonderer Provenienz herheizitiert hatte: den in Stuttgart lebenden, heute 75-jährigen Hermann Finsterlin. So drängte sich alles, teils um die Gipsmodelle und fantastischen Architekturzeichnungen des Alrmeisters, teils um Finsterlin selbst, dessen Gesichtszüge die Schalkhaftigkeit Max Ernsts und die Kindhaftigkeit Marc Chagalls verraten.
Finsterlins "große Zeit" waren die zwanziger Jahre. Die Entwürfe jener Epoche zeigen eine schier uneingeschränkte Phantasie, ohne Rücksichtnahme auch auf eine mögliche Verwirklichung solcher Architektur-Träume. In der Tat läßt von Finsterlins utopischen Visionen keine einzige jemals realisiert worden.
Da türmen sich schroffe Zacken zu ganzen Gebirgsmassiven, in denen elbische Wesen eher als Menschen hausen könnten. Über pilzförmige Kuppel breiten sich Porphyrbänder, schnecken- und muschelförmig winden sich Gebäudeteile übereinander. Ausstülpungen stoßen fühlergleich in den Raum vor. Ein wenig erinnern diese äußerst bizarren Gebilde an eine imaginäre Mars-Architektur.
Die obigen Vergleiche machen vielleicht deutlich, was Finsterlin anstrebte: Er wollte bauen "wie die Natur", ja eigentlich wollte er die Natur noch übertrumpfen. In angenehm tönenden Worten äußerte Finsterlin seine Absichten in einer kleinen Ansprache vor den Diogenes-Gästen.
Alle Architektur, von der Pyramide an, so bekam das Auditorium zu hören, sei im Grunde langweilig gewesen durch Jahrtausende. Interessanterweise hat Finsterlin seine biologisch inspirierten Entwürfe haargenau geplant und auch auf den Aquarellskizzen alle Baustoffe detailliert angegeben. Freilich werden sie vielleicht noch lange nicht verwirklicht werden können. Schon weil sie weniger "Bauwerk" als vielmehr architektonische Plastik, besser gesagt, eine Ganzheitskonzeption aus Architektur, Plastik und Malerei darstellen.
[Die Welt, 4. September 1962]