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Otto Pannewitz | Aspekte zum malerischen und zeichnerischen Werk Hermann Finsterlins

Mit der Erkenntnis "die Wissenschaften bleiben unbefriedigend in ihrer zur Spezialisierung zwingenden Fragmenz" (1) hatte sich der aus wohlhabendem Haus stammende Chemie- und Physikstudent Hermann Finsterlin während seines naturwissenschaftlichen Studiums der Philosophie, Indologie und Mythologie zugewandt. Schließlich entdeckte er die Künste, in denen er die "Allmacht unbeschränkter schöpferischer Idee" (2) wirken sah: als den für ihn einzig möglichen Ort der Befriedigung seiner Phantasie und Experimentierlust. Sie waren ihm der spielerische Freiraum als Gegenpol zur formelhaften Begrenztheit mathematischer Systeme.

Der Begriff "Künste" umfaßte für Finsterlin die Malerei, Dichtung, Musik und nicht zuletzt die Architektur, in der er vor allem zwischen 1917 und 1924 seine unverwechselbaren organisch-phantastischen Bauformen entwickelte, die ihm einen eigenen Rang in der Architekturgeschichte sichern, selbst wenn sie nie realisiert worden sind. Von diesem Architekten Finsterlin ist der Maler und Zeichner Finsterlin kaum zu trennen Die Grenze zwischen Architektur und Malerei wird immer wieder in beiden Richtungen überschritten, wie auch die Grenze zwischen Malerei, Zeichnung und Dichtung. Alles drängt bei Finsterlin zu einem Gesamtzusammenhang, zu einem "Gesamtkunstwerk".

Wann diese Hinwendung zu den Künsten einsetzte, besonders zur Malerei und Zeichnung, mit der Finsterlins künstlerische Laufbahn begann, bleibt angesichts seiner eigenen Äußerungen und fraglicher, vermutich zum Teil auch nachträglich vorgenommener Datierungen seiner Werke vor die Zeit seiner Malstudien an der Münchner Akademie 1913 ungewiß. Der hinlänglich bekannte Auslöser für diese Hinwendung zur Kunst war ein "Frühlings-Vollmondaufstieg" (3) auf den Watzmann bei Berchtesgaden. Von diesem nicht eindeutig faßbaren Zeitpunkt an schuf Finsterlin "ausschließlich phantastische Kunst in Wort, Bild, Ton und Bau". (4)

Davon ist in den wohl in seine Frühzeit zu datierenden Aktzeichnungen (Kat.-Nr 33;34, Abb. S. 9) nichts zu spüren. In eher spröder Linienführung schulmäßig gezeichnet, sind sie der Tradition der Aktstudien verpflichtet, ohne Eigenständigkeit beanspruchen zu dürfen. Auch die frühen Portraits (Kat.-Nr. 1-6) überschreiten weder in malerischer noch in formaler Hinsicht traditionelle Vorgaben, obschon sie mit zu seinen besten Leistungen in dieser Gattung gehören, die der Künstler dann vor allem in den letzten Lebensjahrzehnten pflegte. Dies mag sicherlich daran liegen, daß die Bindung an das reale Vorbild, das zu malende oder zu zeichnende Objekt, keinen Spielraum für die erwiesenermaßen sprühende Phantasie dieses ungewöhnlichen Künstlers ließ.

Anders sieht es aus, wenn Finsterlin sich der "nichtmenschlichen" Natur annahm, oder ins Reich der Fabeln, Märchen, Historien und Mythologien vordrang und darin seiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Im Aquarell "Kreuzabnahme" (Kat.-Nr. 43, F.-Abb. S. 18) bleibt zwar die Herkunft von der von Finsterlin heftig abgelehnten Jugendstilkunst erkennbar, doch entsteht hier wie in weiteren Aquarellen dieser Zeit (Kat.-Nr. 37; 42; um 1913/15?) eine organisch wuchernde Formensprache, die eigenständige, den Architekturphantasien verwandte Ge-Bilde schafft.

Auch im 1918 entstandenen "Sonnenaufgang über dem Watzmann" (Kat.-Nr. 12, F.-Abb. S. 19) wird diese Formensprache noch ausgeprägter wirksam. Der Berg scheint aus dem Erdbereich hervorzuquellen, zu einer Woge geformt, über der eine Sonne in explodierendem Gelb-Weiß quasi de Kraft der Natur und des Lebens versinnbildlicht. Ein kurze Zeit später entstandener Architekturentwurf (5) nimmt dieses Motiv des Gemäldes auf. Die Sonne verwandelt sich zu mit "Strahlen-Stacheln besetzten "Häuser"-Kugeln auf einer Bergspitze, zu einem "Konzerthaus". Schließlich erscheint das Motiv der "strahlenden" Sonne auf einem Berchtesgaden-Plakat (Kat.-Nr. 67, Abb. 5.16)in werbewirksamer Farbflächengestaltung im Kontrast zur silhouettierten Form vergangener Kirchen-Baukunst.

Das Watzmann-Gemälde ist nur ein Beispiel dafür, daß ein Naturvorbild in der malerischen Umsetzung sich den Architekturphantasien Finsterlins annähert oder sich in einem weiteren Schritt daraus sogar eine solche Architekturphantasie entwickelt. Diese Grenzüberschreitungen sind kaum verwunderlich, denn schließlich liegt der Ausgangspunkt für Finsterlins Baukunst im organischen Formenkanon der Natur. Er ist das Reservoir, aus dem der Künstler seine Architektur als Künstlich-Organisches, als eine zweite Natur entwickelt. So erinnern seine Bauphantasien bei genauer Betrachtung an Naturgebilde wie Pilze, Wogenkämme, Schneckenhäuser oder ähnliches. Die Assoziationsmöglichkeiten sind vielfältig.

Prometheus (Kat.-Nr. 39, Abb. S.9), der mythologische Menschenfreund, Zukunftsdenker, Kulturbringer und schließlich Identitikationsfigur des Künstlers Hermann Finsterlin, wird in dessen Darstellung - sollte es sich hier tatsächlich um dieses Thema handeln - zum organischen Baukörper, zur Brücke zwischen zwei Berggipfein. Andererseits hat sich ein Menschenwerk wie die Arche Noah (Kat.-Nr. 10, Abb. S. 14) in einer Szene, die Weltuntergangsstimmung ausdrückt. hinter dichtem Regenschleier mit dem Berg Ararat zu einer unlösbaren Einheit verbunden. Architektur? Eher scheint hier ein unheilvolles Urtier entstanden zu sein, das aus dem Bild starrt.

Unheilvoll blicken auch Gestalten auf dem Gemälde "Die Vögel der Zwietracht" (Kat.-Nr 23, Abb. 5. 15), das einen ganz anderen Finsterlin zeigt. Skurril wirkende Phantasie-"Menschen" sind hier aus konturierenden Linien und transparent fließenden Farbflächen zu einem unwirklich-traumhaften Ganzen verwoben, zu einem Sinnbild der Zwietracht geworden. Obwohl Finsterlin in diesem Bild einen anderen "Stil" anschlägt, der sich in Modifikationen zwischen klarer, ruhiger und expressiv bewegter Formbildung durch sein gesamtes malerisches Werk zieht (Kat.-Nn 21; 25; 26, Abb. S. 25; 68; 71; 29, F.-Abb. S. 24), bleibt auch hier als quasi gemeinsamer Nenner die organisch-quellende Formensprache erhalten. Die Welt der Fabeln, Märchen und Mythologien findet in solchen Werken ihren Ausdruck.

In ungewöhnlicher Weise bringt Finsterlin in einem 1931 entstandenen Gemälde diese Welt in Verbindung mit dem Portrait eines Mannes (Kat.-Nr. 28, F.-Abb. S. 22). Der nicht mit Sicherheit zu identifizierende Portraitierte ist vom Künstler in eine schon durch die malerische Gestaltung abgesetzte Traumwelt entrückt, deren Bedeutung sich wohl erst mit der Identifizierung des Dargestellten klären ließe.

Während solche Darstellungen auf den Betrachter inhaltsschwer wirken - ohne daß sie es tatsächlich sein müssen - bieten zahlreiche Aquarelle des Künstlers einen Einblick in das von Witz und Ironie geprägte Spiel einer unerschöpflichen Phantasie, das auch in so manchen Gedichten Hermann Finsterlins zum Tragen kommt.

Da greifen Pyramidenalbinos ein Azurkamel an (Kat.-Nr 48), da predigen der große und der kleine Bär den Aposteln (Kat-Nr. 49), da steht eine rosige Sau im Libellenregen (Kat.-Nr. 62, F.-Abb. S. 20). Schließlich verfolgt "Ganesha im Saturnring den Schattenengel" (Kat.-Nr. 65, Abb. S. 26). Dabei ist Ganesha, der in der indischen Mythologie als Gott mit Menschenkörper und Elefantenkopf dargestellt wird, in Finsterlins Bildwelt gänzlich zum Elefanten geworden, der etwas hilflos im "Saturnring" zu hängen scheint. Doch über diese bildhafte Erscheinung, die schmunzeln macht, hat dieser in Finsterlins Bildern immer wieder zu findende Elefant - Ganesha - eine tiefere Bedeutung: er symbolisiert die Einheit der kleinen sterblichen Welt mit dem Universum der großen kosmischen Gesetzmäßigkeiten; gilt er doch als Herr der ewigen Überlieferung, die sich ewig durchsetzt (6): für "Prometh" Finsterlin eine weitere Identifikationsfigur.

Angesichts dieser Vielfalt der Erscheinungen im malerischen und zeichnerischen Werk Finsterlins müssen Versuche einer Kategorisierung scheitern. Die variable Handschrift des Künstlers in Gemälden, Aquarellen und aquarellierten Bleistiftzeichnungen - von der strichelnden bis zur flächendeckenden Mal- und Zeichenweise, von den fließenden Linien bis zu eckig gesetzten Konturen, vom deckenden bis zum transparenten Farbauftrag und dem Spiel mit dem freibleibenden Grund des Farbträgers (Leinwand, Papier) - läßt kaum eine Einordnung anhand der Malweise zu. Diese Vielfalt im Technischen und im Format, das von der Miniatur bis zur großen Wandfläche reicht, findet ihr Pendant in der Vielfalt der Finsterlinschen Formen. Die sich darin ausdrückende Experimentierlust dieses schwadronierenden Künstlergeistes macht es unmöglich, ihn so ohne weiteres einem "Ismus" zuzuschlagen oder gar eine Entwicklung in seinem Werk nachvollziehen zu wollen. Finsterlins Gemälde und Zeichnungen weisen viele Stile auf. Er selbst folgte in ihnen zahlreichen Strömungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Vielleicht hat der Künstler auch die eine oder andere davon vorweggenommen

Anmerkungen
1) Franco Borsi, Hermann Finsterlin, Idea dell'architettura, Firenze 1969, S. 337
2) ibid.
3) ibid.
4) ibid.
5) Vgl. Ausst.-Kat., Hermann Finsterlin, Stuttgart 1973, Abb. S. 19, "Konzerthaus"
6) Vgl. Wofgang Bauer u. a., Lexikon der Symbole, Wiesbaden 1985, S. 69
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Drucknachweis: Hermann Finsterlin 1887 - 1973. Zum 100. Geburtstag. Stadt Sindelfingen, Kulturamt 1987. Katalog und Ausstellung Otto Pannewitz, Barbara Stark, S. 8-12