Dr. I. Pitsch | Ein surrealer Weltengänger der Kunst
Zur Kollektivausstellung Hermann Finsterlin in der Barmer Kunsthalle

Mit der neuen Ausstellung in der Barmer Kunsthalle wird dieses Mal keine junge Kunst zur Diskussion gestellt, sondern ein ebenso interessanter wie fast vergessener Anfang der "Moderne" - man darf ruhig sagen - neu entdeckt. Denn um das Schaffen des 66jährigen gebürtigen Müncheners und jetzt in Stuttgart lebenden Hermann Finsterlin war es still geworden. Gewiß, die Kunstgeschichte hat ihm seinen Platz gegeben, der ihn zwischen Paul Klee und dem Surrealismus ansiedelte. Aber wer kennt noch oder schon seine Malerei - kosmische Entdeckungsfahrten des Pinsels in traumhafte Tiefenwelten und luftige Phantasiebereiche -, wer kennt seine Gedichte, die diese Bilder in frappierender Parallelität der skurrilen Wortzaubereien getreulich begleiten, wer weiß noch von seinen Architekturentwürfen, die einst - Finsterlin gründete 1919 mit Taut, Gropius, Mendelssohn u.a. die Gruppe der "Gläsernen Kette" - einer stagnierenden Kunstgattung revolutionären Auftrieb gaben?

Diese Entwürfe einer "Zukunftsarchitektur" sind bestimmender Ausgangspunkt für Finsterlins Gesamtwerk und nehmen so in der Ausstellung mit zahlreichen Aquarellen und plastischen Modellen einen gewichtigen Raum ein. Wer sie genießen will, muß sich zunächst freimachen von der Vorstellung der Architektur als Zweckgebilde, um sie hier als reinen Ausdruck zu begreifen, als etwas organisch naturhaft Wachsendes, das die Gesetze der statisch stereometrischen Konstruktion in einem dynamischen Drang zur grenzenlosen Freiheit des Gestaltens durchbricht. "Seelengletschermühlensystem" nennt sie Finsterlin selbst und er bietet es dar in vieldeutigen Gebilden, die nur in den organischen Formen der Natur ihr Urbild fanden: im Gegensatz zu den Fluoritkristallen des traditionellen Zweckbaus, wuchernde Muschelformen ins Riesenhafte transponierte volutenumschlungene Schneckengehäuse, aus der Eruption geborene Gebirge, bizarre Hohlräume, die an Gletscherdome und Tropfsteinhöhlen gemahnen, alles mit einer wahren Ekstase der überströmenden Lust am Formenüberfluß geschaut. So unausführbar diese "Göttlichen Riesengefäße" auch sein mögen, ihre kräfteauslösende Anregung bleibt bedeutend und daß sie gerade einen, wenn auch raren und gemilderten Niederschlag in dem "antroposophischen" Bau des Goetheanums in Dornach fand, ist für die Geistigkeit Finsterlins typisch.

Doch wäre es falsch, wollte man in ihm den vorsätzlichen Intellektuellen sehen. Seine Malerei spricht mehr noch als die Architekturen dagegen. Sie ist ebenso gegenstands- wie planlos, undoktrinär wie ohne Absichten und Ziele. In hellen, zarten und klaren leuchtenden Tönen entstehen in ihr kosmische Träume aus wehenden Farbschleiern lösen sich spielerisch wie wechselnde Wolkengebilde seltsame Wesen: Polypen, Meerungeheuer, phantastische Vögel, Elefanten, halbmenschliche Fabelgeschöpfe ziehen den Betrachter in die Unbegrenztheit zwischen den Welten schwebender Imagination, führen in geheimnisvolle Erinnerungen aus dem Unbewußten, skurril, tiefsinnig und von stets mitschwingender untergründiger Ironie und heiterer Lebensliebe. Schwerkraft, Raum und Zeit sind aufgehoben, alles fließt, schwebt, gleitet, verflüchtigt sich vor jeglicher Deutung und läßt nichts als verzauberte Empfindung zurück.

Nicht anders ergeht es einem bei den Gedichten Finsterlins, die der Künstler in diesen Tagen inmitten seiner Bilder las. Hier sprach ein sehr naher Verwandter Morgensterns, und in buntem Fluß wechselten mythologisch-kosmische Clownerien mit witzigen Denk- und Wortspielen, eigenwillige Erdenweisheiten und -frechheiten mit dem enthusiastischen Hymnus inniger All-Verehrung. Dadurch wirbelten die Worte (und Worterfindungen)den Weltenraum vom Erdkern bis über den Himmel hinaus, spürten ungedachte Existenzen auf, gaben Abstraktem lebendige Gestalt, stülpten Begriffe um und enthüllten ihre Banalität, stürzten aus den Sphären der Transzendenz mit winziger Wendung ins Menschlich-Allzumenschliche und mündeten doch schließlich immer wieder in eine große, optimistische und ganz unfeierliche Frömmigkeit des Lebens. Mögen diese Gedichte nicht immer in ihrer Form "regelrecht", sondern eher spontan sein, so sind sie doch mehr als eine Arabeske im Wirken dieses Maler-Poeten und wert, wie seine Bilder, bekannter zu werden.

[1953 Westdeutsche Rundschau]