Zu den Malern unserer Zeit, die noch über eine eigenwillige, schöpferische Gestaltungsphantasie verfügen, gehört auch Hermann Finsterlin, der heute 75 Jahre alt wird. Wer in den letzten Jahren und Jahrzehnten Gelegenheit hatte, seine künstlerische Entwicklung zu verfolgen und seine Ausstellungen zu besuchen, der wird immer wieder überrascht gewesen sein von der unbeirrbaren Konsequenz, mit der Finsterlin jeden Versuch, ihn auf eine bestimmte Stilrichtung festzulegen, durch eine außerordentlich lebendige, ideen- und formenreiche Gestaltungsfähigkeit vereitelt hat.
Wer Einflüsse feststellen will, wird auf den Jugendstil hinweisen, er wird surrealistische Elemente im Werk Finsterlins entdecken, er wird vielleicht mitunter an Paul Klee erinnert, aber das alles genügt keineswegs, um die hintergründigen, bizarren Formen- und Märchenwelten auch nur annähernd zu kennzeichnen, die Finsterlin als Maler entstehen ließ. Gegenständliche Motive, Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Architekturen oder gegenstandsfreie Abstraktionen werden von ihm in einen dynamischen Bildrhythmus eingeordnet, der den Betrachter durch transparente Farbigkeit stark beeindruckt.
Mit seinen gemalten oder im Modell gezeigten Architekrurphantasien hat Finsterlin jenen Baukünstlern, die sich nicht mit der reinen Zweckform begnügen wollen, manchen interessanten Hinweis gegeben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die von Finsterlin 1919 mitgegründete Architektenvereinigung "Gläserne Kette". Als Lehrer am Bauhaus in Dessau konnte der Künstler seine Gedanken und praktischen Erkenntnisse weitergeben. Auf seinem ganz persönlichen, von ihm selbst gebahnten und sicher eingehaltenen künstlerischen Weg mußte er allerdings allein weitergehen.
Der aus München stammende Maler, der 1928 seine erste Stuttgarter Ausstellung im Landesgewerbemuseum veranstalten konnte, hat sich nicht nur durch sein bildnerisches Schaffen, sondern auch durch seine lyrische Produktion als ein Mann von ungewöhnlicher Vorstellungs- und Formkraft erwiesen.