Ein unvergleichlicher Rumor geht im Winter 1918 und im ganzen folgenden Jahr durch die Künste. Zerlegt wird mit Ironie oder Zorn das alte Bild von Kunst und Künstler, verlangt wird mit Pathos und Emphase der Anteil der Kunst an einer in diesem Moment noch offenen Zukunft. Alles soll anders werden, die Kunst, die Künstler, die Akademien, die Museen. Und die Gesellschaft. Erregt proben Künstler aller Provenienzen nun, da sie sich befreit fühlen von Krieg und Wilhelminismus, den Eingriff in die Wirklichkeit.
Just zu diesem Zeitpunkt schreibt einer, der wahrhaftig nicht von gestern ist, Walter Gropius (und er meint es nicht resignativ, sondern auffordernd): "Es bleibt uns jetzt nur übrig, die reale Zeit zu ignorieren und sich eine eigene Welt abgesondert zu bauen." Ein überraschender Satz, eine Haltung wie aus einer anderen Zeit.
Gropius aber spricht nicht für die Maler, er spricht für die Architekten. Wollten sie, da an große Bauprogramme gegenwärtig kaum zu denken sei, nicht zu Reparateuren des Alten werden, könnten sie nur "in der Phantasie" bauen. Die künftige Architektur müsse vorerst "Traum" sein und "Sternensehnsucht", könne darin aber ihre künftige Führerrolle vorbereiten. Auch Gropius (der in diesem Jahr 1919 das Bauhaus gründet) geht aufs Ganze.
Die erste Manifestation "imaginärer Architektur" ist die 1919 unter seiner Mithilfe organisierte Berliner Ausstellung "Unbekannte Architekten". Sie sammelt jenes Utopiepotential, ohne welches das spätere Architekturwerk beispielsweise von Erich Mendelsohn, Hans Scharoun, Bruno Taut nicht zu denken ist.
Großes Aufsehen erregt hier ein Zweiunddreißigjähriger, der die Architektur gar nicht gelernt hat, allenfalls ein wenig das Malen und ansonsten etwas in die Naturwissenschaften hineingerochen hat: Hermann Finsterlin. Aufsehen deshalb, weil er mit allen Architekturgesetzen bricht und dergestalt ungeahnte Perspektiven aufreißt. Zeitlebens wird er konsequent an der "Sternensehnsucht" festhalten und folglich auch nicht den kleinsten Bau realisieren.
Zuwider waren ihm Rationalität und rechter Winkel. Seine Entwurfsprinzipien leitete er von festen Körpern ab, wie Lebewesen sie erzeugen, von Muschelschalen, Korallenstücken, Schneckenhäusern. Der Bau sollte ein Organismus, ein "fossiler Riesenmutterleib" sein: Architektur als Krönung der Natur aus deren Geist.
"Eine eigene Welt abgesondert zu bauen" war sein Vorhaben, abgesondert von allem, was er als Niederung des Wirklichen und als Dekadenz in der Kunst empfand, weitab auch von den Utopien der zwanziger Jahre, Nietzsche näher als der Demokratie. Doch Finsterlin war nicht nur Architektur-Utopiker und Maler; er war auch Dichter, Aphoristiker, Essayist; er entwickelte Filmprojekte und Architekturbaukästen, stets hochgespannt, enorm eigenwillig. Dieser komplexen Gestalt hat jetzt der Stuttgarter Literatur- und Medienwissenschaftler Reinhard Döhl eine eingehende Monographie gewidmet, die anläßlich einer Stuttgarter Finsterlin-Ausstellung herauskam, jedoch Bestand weit darüber hinaus beanspruchen kann.
Reinhard Döhl ist der glückliche Fall eines Interpreten, der seinen Untersuchungsgegenstand unter Schmerzen liebt. Er arbeitet Finsterlins bedeutsame historische Rolle heraus, nimmt aber gleichermaßen einen dezidiert kritischen Standpunkt ein, etwa was die autobiographischen Mystifikationen, das autokratische Künstler-Selbstverständnis oder die Bewertung des malerischen wie des architektonischen Entwurfs-Werks nach 1924 angeht (Finsterlin starb 1973 in Stuttgart).
Überhaupt zum erstenmal kann Döhl anhand zahlloser unveröffentlichter Materialien und Dokumente Leben und Werk Finsterlins Detail für Detail rekonstruieren. Besonderen Wert legt er auf die literarischen Texte, die Film-Szenarios und die ausgreifenden Architektur-Essays, die im zweiten Teil seines Buches abgedruckt und damit endlich in einer gültigen Edition zugänglich sind.
Ein etwas knapper Beitrag von Johannes Langner über das Mimesis-Problem in den Architektur-Entwürfen Finsterlins kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Analyse dieser Entwürfe eigentlich zu kurz kommt, ihre Bildhaftigkeit, ihre Stellung zu historischen wie zu zeitgleichen Utopien. Interessante Ansätze finden sich dort, wo Döhl ein Gemenge aus Zivilisationskritik, Mythologie und erotischen Phantasien namhaft macht.
Immerhin liegt nunmehr eine verläßliche, zudem vorbildlich gestaltete und ausgestattete Monographie über einen Künstler vor, der allzulange nur den Eingeweihten gehörte. Dabei wird deutlich, daß seine Stillosigkeit, seine Radikalität, seine Ansprüche aufs Universale ihren Impuls in den Jahren 1918/19 empfingen. Deren Rumor setzten sie noch fort, als die zeitgeschichtlichen Reibungsflächen sich veränderten, als die allgemeine Emphase 1920 schwand, als Gropius und Taut und Scharoun und Mendelsohn praktisch wurden. Finsterlin blieb der Erfolg im üblichen Sinn versagt. Doch die Wirkungen seines Werks sind bis heute nicht abzusehen.
[Frankfurter Allgemeine Zeitung,
22.20.1988]