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Barbara Stark | Die Baukasten-Spiele

Im Zusammenhang mit seinen utopischen Architekturentwürfen entwickelte Hermann Finsterlin Anfang der 20er Jahre drei Baukasten-Systeme, mit deren Hilfe er seine Theorie einer historischen Architekturentwicklung aufzuzeigen und in spielerischer Weise umzusetzen suchte.

Finsterlins Architekturanschauung basiert auf der Voraussetzung, daß die Bau-Kunst ursprünglich Bestandteil der "echten Künste" und nicht nur ein Bereich der Technik ist In der Bau-Kunst, wie sie in der Architekturgeschichte handgreiflich wird, drückt sich dabei die Evolution der Formen aus. Diese Bauformen der Weltarchitektur sind vielfältig; vergleicht man ihre Entwicklungslinien jedoch mit den biogenetischen Abstammungslehren, so mutet menschliches Bauen im Gegensatz zum Formenreichtum der belebten, organischen Natur geradezu als primitiv an. Die Ursachen für das Verharren auf einer relativ niedrigen Bauentwicklungsstufe führt Finsterlin auf die Unterjochung der Architektur durch die Technik zurück, die stets den Anspruch vertrat, daß Bau-Form allein funktional zu sein habe. Finsterlin hingegen verstand Bauwerke als Organismus, als gebauten Raum, der als ein Lebendiges auf den Menschen reagiert, der in Wechselwirkung den in ihm lebenden Menschen prägt, zugleich aber auch von diesem geformt wird. Eine solche Bau-Kunst praktisch umzusetzen erfordert vom Architekten eine gesteigerte Sensibilität für Raum, Form und Material. Eine solche neue Feinfühligkeit wollte Finsterlin durch seine Baukästen auf gleichsam spielerische Weise anregen.

Finsterlins Theorie unterscheidet drei Epochen der Weltarchitektur. Analog zu diesen konzipierte er seine Baukästen.

Die erste Stufe menschlicher Bau-Kunst war die Koordinatenepoche. Sie entwickelte die einfachen Körper als unzerteilte Fomen in Höhe, Breite und Tiefe und kombinierte sie miteinander. Diese Epoche bildete die bis heute existerenden bekannten Volks-Baustile aus. Ihre Entwicklung zeigt das "Stil-Spiel" auf. Das "Stil-Spiel", das 1922 in den Handel kam, setzt die einfachen stereometrischen Körper wie Würfel, Pyramide und Kugel zueinander in Beziehung, indem es sie in ihren reinen Grundformen verbindet und sie in rhythmischer Anordnung zu ganzen Formenkomplexen ausbaut. Die so entstehenden Bauten entsprechen den Grundtypen der Weltarchitektur, wozu die ägyptische Pyramide ebenso zählt wie die arabische Moschee, der antike Tempel wie der gotische Dom (Kat. Nr.83; Abb. S. 29).

Die zweite Stufe des Bauens bezeichnet Finsterlin als Mineralepoche. In ihr werden die Grundformen der Körper in Einzelteile zerlegt und zueinander in neue, harmonische Verhältnisse gesetzt. Das Zeitalter dieser Architektur hat erst begonnen. Mittels zweier Baukästen, den "stereometrischen Durchdringungen" und dem "Formdomino", führt Finsterlin die diese Bau-Phase beherrschenden Konstruktionsprinzipien vor.

Während das Stil-Spiel" die sogenannten Urkörper unzerteilt kombinniert, demonstrieren die "stereometrischen Durchdringungen" - auch "Didym" genannt - sowie das "Formdomino" die sinnfällige Zerteilung und Neuzusammensetzung dieser Urkörper.

"Didym" spielt die Durchdringung und Verschmelzung jeweils zweier Körper durch.

Das "Formdomino" geht einen Schritt weiter, indem es die Verbindung mehrerer, verschiedener Körper und Formteile an deckungsgleichen Schnittflächen vorführt. So entfaltet sich der Bau wie ein kristallines Mineral, wächst in die Tiefe und die Höhe des Raumes.

Damit kündigt sich im "Formdomino" ansatzweise die dritte, die organische Epoche der Weltarchitektur an, die für Finsterlin diejenige der Zukunft darstellt. Ihr Charakteristikum ist, daß der Bau-Künstler nun intuitiv die schon in sich gemischt (hybrid) vorliegenden Formelemente verbindet. Dabei entsteht trotz einer formalen Asymmetrie ein in sich ausgewogenes, weil organisch gewachsenes Gebäude, in dem die Gegensätze von Zweck und zweckfreiem Spiel überwunden sind. Einen dieser Bau-Epoche entsprechenden Baukasten hat Finsterlin nicht entworfen, wie auch "Didym" und "Formdomino" nur als Entwurfsmodelle existieren.

Finsterlins Bau-Spielen kommt ein zweifaches Verdienst zu:

Das "Stil-Spiel", das die wesentlichen Baustil-Grundlagen rekonstruiert, vermittelt dem Spielenden die stilistischen Grundelemente der Weltarchitektur. Es fördert die Befähigung, Einsicht in die Entstehung und Abwandlung der Urformen zu entwickeln und lehrt, ein Bauwerk in seinen großen Massen und Gliederungen aufzufassen.

Auch die "stereometrischen Durchdringungen" und das "Formdomino" tragen zu einer Sensibilisierung gegenüber der Bauformen, ihrer harmonischen Stellung zueinander und ihrer Wirkung im Raum bei. Sie wirken jedoch noch darüber hinaus, indem sie zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit neuen Formkombinatonen anregen und den Menschen damit spielerisch auf die künftige, die organoide Architektur der Zukunft vorbereiten.
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Drucknachweis: Hermann Finsterlin 1887 - 1973. Zum 100. Geburtstag. Stadt Sindelfingen, Kulturamt 1987. Katalog und Ausstellung Otto Pannewitz, Barbara Stark, S. 27 f.