Gerhard Storck | Der Fall Finsterlin

Beginnen wir mit der Ermittlungsarbeit, die im Fall "Finsterlin" von den zuständigen Institutionen geleistet worden ist. Reicht sie aus, um wenigstens postum ein begründbares Urteil fällen zu können? Schon der erste Einblick in die Dokumente und Sekundärschriften macht deutlich, daß die Arbeit relativ nachlässig durchgeführt wurde, weil kaum ein Interesse an dem Fall vorhanden war oder das Verständnis dafür fehlte. Hätte sich der Angeklagte, dem durchaus provozierendes Bildmaterial zur Last gelegt werden kann, nicht hin und wieder als Ankläger selbst in Szene gesetzt - häufig noch aufgefordert von gutmeinenden Freunden -, die Sache wäre wohl längst zu den Akten gelegt worden und ließe sich hier kaum erneut aufrollen.

Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Fall zu Lebzeiten des Angeklagten bewußt verschleppt worden sei. Bei den zuständigen Stellen geriet später einfach in Vergessenheit, wie sehr man sich bei der ersten Veröffentlichung des Materials noch darüber aufzuregen gewußt hatte. War doch der erste Eindruck sofort gewesen, hier müsse es sich um einen anormalen Menschen handeln, und wie solche Fälle behandelt werden, das ist ja bekannt. Für die Urteilssuchenden ist es immer unbefriedigend, auf mildernde Umstände plädieren zu müssen - abgesehen davon: daß dabei stets etwas an der Umwelt hängenbleibt. Ja, es ist einfach unsinnig, Untersuchungen auf den Geisteszustand einer solchen Person hin anstellen zu müssen, nur um hinterher den Beweis in Händen zu halten, daß alles so bleiben kann, wie es ist: dort der geistig Verwirrte, der weiterhin frei umherlaufen kann, und hier die Gesellschaft, die bei all ihrer Normalität nichts dagegen auszurichten vermag. Denn, daß es sich bei Finsterlin um eine gefährliche Form von ver-rückter Weltsicht handeln könnte, das wurde von vornherein ausgeschlossen. Also blieb überhaupt nur ein Abwehrmittel: die unauffällige Beendigung der Ermittlungsarbeit mit dem Hintergedanken, einfach nicht hinzusehen und abzuwarten, bis sich die Angelegenheit durch Vergessen von selbst geregelt haben würde. (Übrigens, alle ähnlichen Kunstfälle regeln sich so; ein Urteil wird selten gefällt.)

Genaugenommen handelt es sich also bei dem Fall "Finsterlin" gar nicht um einen echter Fall? - Das mag sein. Nur, das Material ist ja vorhanden und hat auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nichts von seiner provozierenden Art eingebüßt. Und das müßte doch wenigstens als "störend" empfunden werden - wenn man diesen Tatbestand schon nicht faszinierend findet.

Der Fall wird hier also nicht deshalb erneut zur Diskussion gestellt, weil die Zeit die Dinge inzwischen zurechtgerückt hätte und wir nun eher in der Lage wären, an Finsterlins provozierenden Entwürfen etwas zu finden, das sich so oder so ganz normal interpretieren ließe. Der Fall bleibt interessant: weil sich seine Tatbestände einfach nicht normalisieren lassen. Gut, man kann die Blätter rein malerisch sehen und schön finden. Schön, man kann es gut mit Finsterlin meinen und den Reichtum an phantastischen Einfällen in seinen "Architekturen" lobend herausstreichen (im Gegensatz zur Phantasielosigkeit unserer verbauten Umwelt) - beides liefe jedoch auf eine Verharmlosung der Sache hinaus. Künstlerischer Einsatz, wozu manchmal ein ganzes Leben gehört (bei Finsterlin waren es fast siebzig beharrliche Jahre), ist so harmlos nicht, wenn man bereit ist, die Ergebnisse zu sehen, wie sie sind: nicht allein formal oder literarisch, nicht allein ästhetisch oder historisch - sondern als Kunst-Werke, die den Anspruch erheben, Prüfsteine der Wirklichkeit zu sein. Wir sind gewohnt, uns die gesamte provokatorische Kunst der letzten siebzig Jahre auf der Ebene der Verharmlosung anzueignen und weiterzuvermitteln. Bei diesem Schönungsprozeß ist nicht nur die Kunst zu kurz gekommen, wir selbst haben uns jeder Möglichkeit beraubt, Kunst außerhalb der abgegrenzten Reservate ernsthaft als Faktor der Wirklichkeit in unser Denken, vor allem aber in unser Fühlen miteinzubeziehen.

Wenn hier also der Fall "Finsterlin" wieder einmal ins Gespräch gebracht wird, geschieht dies nicht, um das noch greifbare Material zu beschönigen. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, es vor der Verharmlosung zu retten. Auch Schönes kann ja provozierend wirken - im architektonischen Bereich doch wohl ganz sicher. Denn dort haben wir uns bereits an das Häßliche und Unerträgliche soweit gewöhnt, daß es wie ein unabwendbares Schicksal erscheint.

Der Hauptfehler, den viele, auch gutmeinende Bearbeiter des Falls begangen haben, ist in dem Umstand zu suchen, daß sie die eigenwilligen künstlerischen Ideen Finsterlins irgendwo einzuordnen versucht haben: Beispielsweise unter dem Stichwort "Architektur" - dann wurden die Dinge "phantastisch"; oder unter "Malerei" - dann wurden sie "programmatisch" (Malerei für etwas); oder unter "Expressionismus (mit Jugendstil-Beigeschmack) - dann waren sie vollends erledigt. Auf keinen Fall durften sie bleiben, was sie sind: Zwischenlösungen, die sich schwer benennen lassen.

Unser Problem scheint es zu sein, Dinge einfach nicht sehen zu können oder empfinden zu wollen, für die wir keine geläufigen Worte haben, die wir nur schwer benennen können. Der Schweizer Architekt Lucius Burckhardt glaubt, daß dies mit ein Grund ist für die Phantasielosigkeit unserer verbauten Umwelt. "Wir können nur zu bauen beschließen", stellt er fest, "was benennbar ist: unbedenklich stimmt jeder Gemeinderat dem Bau einer Schule, eines Jugendhauses, eines Museums zu. Wer aber wollte diesem Gemeinderat vorschlagen, ein Gebäude zu bauen, das ein wenig von allem zusammen ist, etwas zwischen Bastelhaus und Experimentalmuseum und vielleicht noch eine Lehrerfortbildungsstätte...?" Burckhardt hat recht; die Architekten "wagen" nicht einmal einen derartigen Vorschlag zu machen aus Furcht, man könne ihnen ein funktionelles Durcheinander vorwerfen. Aber wenn wir Beziehungsreichtum wünschen, statt alles fein säuberlich auseinanderhalten zu wollen - was dann zur geistigen Verarmung und völligen Isolation führt -, sind wir dann nicht auf ein gewisses "Durcheinander" angewiesen? Finsterlin hat "Architekturen" freigesetzt, die ohne eindeutige Funktionsbeschreibung auskommen und bei denen man sich keinen Grundriß vorstellen, sondern ihn nur erleben kann; die ganz Raumvorstellung sind und gleichzeitig Plastik wie Malerei; bei denen man innen und außen nicht voneinander trennen kann; die Höhle sein können und Berg; die sich wieTäler auftun und schließen; die nicht gebaut werden sollen, sondern entstehen müssen -: zunächst einmal als begreifbare Wunsch-Bilder, die uns berühren.

Es gibt nur wenige gesicherte Fakten im Fall Finsterlin. Will man also zu einem begründbaren Urteil kommen, bleibt einem bei dem Stand der Ermittlungsarbeit nur die Möglichkeit, sich genau mit Inhalt und Form des Belastungsmaterials auseinanderzusetzen. Sicher wäre zunächst einmal die zeitliche Rekonstruktion des Falles wichtig; aber genau hier verläßt man beweisbaren Grund und begibt sich auf den unsicheren Boden von Vermutungen. Denn keines von den ca. l50 Architekturblättern, die bisher bekannt sind, scheint direkt nach der Entstehung datiert worden zu sein - jedenfalls läßt sich das nicht beweisen. Dagegen kann man leicht den Beweis dafür antreten, daß wenigstens ein Drittel der Arbeiten zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Jahreszahl versehen wurde. Das wird dort besonders deutlich, wo Blätter aus den zwanziger Jahren mit dem Kugelschreiber datiert wurden.

Es ist doch auch leicht einzusehen, daß in einer revolutionären Zeit, die eine völlige Veränderung der Umwelt in Aussicht stellt, niemand besonderes Interesse daran findet, seine Projektionen für die Zukunft mit einer Jahreszahl von heute und seinem persönlichen Signum zu versehen - dafür ist dann einfach nicht die Zeit. Mit diesem Hinweis auf die revolutionäre Situation der Nachkriegsjahre 1919/20 sind wir aber bereits in eine veränderte Beweisführung eingetreten, die vom Tatmotiv ausgeht. Denn danach ist bisher kaum gesucht worden. Es soll gar nicht geleugnet werden, daß bei dieser Art des Vorgehens Indizien in den Vordergrund rücken. Aber solange die Fakten derart in Unordnung sind, kommt man bei einer deutlicheren Herausarbeitung des Motivs vielleicht noch am besten voran. Um es gleich vorweg zu sagen: Es besteht begründeter Anlaß zu der Vermutung, daß mit wenigen Ausnahmen alle Architekturblätter zwischen März 1919 und Frühjahr 1924 entstanden sind - ja, daß ihr gemeinsames Motiv allein aus jenen Hoffnungsjahren l9l9/20 resultiert.

Die Nachkriegssituation ist selbstverständlich bei früheren Nachforschungen immer in Betracht gezogen worden - aber nur als historischer Faktor, zufällige Begleiterscheinung, biographische Nebensächlichkeit. Wie sonst sollte man es sich erklären, daß in dem Finsterlin-Buch von Franco Borsi folgende Ungereimtheit die ganze Materialsammlung belastet: Im Katalog werden ca. 50 Blätter aufgeführt, die Finsterlin nachträglich in die Zeit vor 1919 datiert oder ihr scheinbar zugeordnet hat, während der Künstler gleichzeitig in dem Vernehmungsprotokoll erklären kann: "Als ich von der Ausschreibung von Gropius erfuhr (gemeint ist die Aufforderung des revolutionären "Arbeitsrats für Kunst" vom Februar oder März 1919, sich an der "Ausstellung für unbekannte Architekten" zu beteiligen, die dann im April in Berlin stattfindet), besaß ich nur ein Dutzend solcher (Architektur-)Entwürfe." Sicher, Borsi hat alle Datierungen vor 1919 mit dem Zusatz "zweifelhaft" gekennzeichnet. Aber nirgendwo wird erwähnt, warum die Daten vielleicht nicht stimmen könnten und wie die Blätter statt dessen zu datieren wären. Es ist dem Autor entweder nicht aufgegangen, oder er hat es für unwichtig angesehen, daß Finsterlin zu einem späteren Zeitpunkt (wahrscheinlich noch in den zwanziger Jahren) die "Architekturen" nach inhaltlichen Motiven zu einzelnen Gruppen zusammengestellt hat - und nicht zu "Folgen" nach ihrer Entstehungszeit. Möglicherweise geschah dies unter dem Gesichtspunkt einer besonders günstigen Ausstellbarkeit der Blätter, die zu diesem Zweck außerdem auf Karton geklebt wurden. Erst später sind die Blätter dann in der Regel signiert und datiert worden, was leicht zu erkennen ist, wenn die Schrift, über das ursprüngliche Blatt hinaus, auf dem Kanton weitergeführt ist. Die Jahreszahlen haben also kaum eine Bedeutung und bleiben deshalb hier auch unberücksichtigt. Wir wissen aufgrund einer Reihe von Publikationen. das die wichtigsten Originalarbeiten alle zwischen 1919 und l924 entstanden sind, und das genügt. An einer zeitlichen Gliederung war auch Finsterlin lange nicht interessiert. Vielmehr hat er das Material zunächst nach Motivserien geordnet; und auf diesem Gliederungssystem baut die folgende Beweisführung auf. Erst später ist der Künstler darangegangen, einen Teil der Blätter in die vorrevolutionäre Zeit zu datieren - vielleicht mit der Absicht, sie unabhängiger von den Jahren 1919/20 erscheinen zu lassen, da ihn die revolutionär-politischen Zielsetzungen der Zeit nicht sonderlich interessiert haben.

Bei der nachträglichen Datierung der Architekturen hat Finsterlin versucht, die Reihenfolge der Serien beizubehalten. die aber mit der Entstehungszeit der Blätter nur indirekt etwas zutun hatte. So mußte er in Schwierigkeiten geraten, da Blätter aus "späteren" Serien zeitlich genau um 1920 datiert werden konnten aufgrund einzelner Publikationen. Es blieb nur die Möglichkeit, die "früheren" Serien vorzudatieren - bei Skizzen bis in das Jahr 1910 zurück. Gleichzeitig hat Finsterlin einige Blätter mit Doppelarchitekturen zerschnitten, um sie anderen Serien zuordnen zu können, weil nun vieles nicht mehr zusammenpassen wollte. Es ist ihm nicht geglückt, dies "zeitlose" Material für eine kaum umrissene Zukunft einem eindeutigen Datierungssystem zu unterwerfen. Zum Vorteil für den Historiker, muß man sagen, denn die vorhandenen Bruchstellen weisen immer wieder auf den inhaltlichen Aspekt zurück, auf den es ja am Ende ankommt.

Trotz dieser Betrachtungsweise sollte nicht vergessen werden, daß kein Weg daran vorbeiführt, die Architekturen zeitlich genau in ihrer Abfolge zu bestimmen, will man später zu einem endgültigen Urteil kommen. Dies kann nur unter Einbeziehung des gesamten Originalmaterials geschehen - also auch der nichtarchitektonischen Blätter -, und zwar auf der Grundlage von Stilvergleichen und im Hinblick auf die Arbeiten des Freundeskreises um Bruno Taut. Im Augenblick kann es nur um den Nachweis von Verfahrensfehlern gehen - d.h. es soll mit Hilfe zwingender Indizien eine veränderte Sicht herbeigeführt werden. Einer Wiederaufnahme des Verfahrens dürfte dann nichts mehr im Wege stehen.

Es wäre verfehlt, wollte man aus Finsterlin einen politischen Revolutionär machen. Er hat auch in den Jahren 1919/20 Schönau bei Berchtesgaden, wohin er sich 1916 in die Einsamkeit der Natur zurückgezogen hatte, nicht verlassen; er ist stets mit seinen Ideen für sich geblieben, Allein der revolutionäre Elan der beiden Nachkriegsjahre hat ihn für kurze Zeit und mehr zufällig mit scheinbar Gleichgesinnten in Verbindung gebracht. So recht verstanden hat ihn aber damals von seinen neuen Freunden um Bruno Taut wohl niemand. Sie dachten alle sofort wieder ans Bauen, als die wirtschaftliche Lage dies auch nur möglicherweise zuließ, die sozialen Verhältnisse das auch erforderlich machten und sich die revolutionärer Ideen zu praktikablen Formen abgeschliffen hatten, Als einziger blieb Finsterlin auch über das Jahr 1921 hinaus bei seiner großen Raumidee, der jede Form von Bauen in dieser Zeit nur abträglich gewesen wäre.

Man kann Finsterlin in diesem Punkt mit dem bedeutenden Architekturbeschreiber Paul Scheerbart vergleichen, der sich auf seine Weise - wortmäßig - vom Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an mit geschriebener Ideenarchitektur auf die revolutionäre Raumsituation um 1919/20 zubewegt hat. In seinen Romanen, vor allem im "Lésabendio" (ca. 1906-1913) läßt Scheerbart eine denkbare und fühlbare Neuschöpfung der zu bewohnenden Welt als einzig wesentliches Bauproblem durchscheinen. Er, dessen Hoffnungen auf eine bewohnbare Welt mit Anbruch des ersten Weltkrieges zunichte gemacht wurden, hat sich diesem "Scheinziel" genähert, das natürlich nicht zu erreichen war, aber um 1919/20 in den Köpfen vieler Gestalter aus allen Lebensbereichen deutliche Vorstellungsbilder annahm. - Scheerbart wählte 1915 den Hungertod. Bei Finsterlin verlief der Weg in entgegengesetzter Richtung. Bei ihm löste das "Scheinziel" - die erhoffte Umgestaltung der alten Welt - einen Aktivitätsschub aus, der sich malerisch darstellte. Doch während Finsterlins "Architekturen" im raschen Arbeitsrhythmus immer freier und gelöster wurden, immer mehr Welt und Leben im Zusammenhang einzubeziehen suchten und vorgegebene Formen vergessen machten - ein Prozeß, der zu völlig informellen Arbeiten führte -: während sich Finsterlin derart "fort"-bewegte, überholte ihn rasch die nacheilende Realität, die nur scheinbar 1919/20 außer Kraft gesetzt worden war - und sie isolierte ihn als utopischen Einzelfall.

Bereits am 30. Mai 1921 löste sich der revolutionäre "Arbeitsrat für Kunst" in Berlin auf; schon einige Monate zuvor war "Die Gläserne Kette" um Bruno Taut zerbrochen - ein Freundschaftsring, der dem Austausch und der Motivation von "utopischen" Baugedanken im Jahre 1920 gedient hatte. Finsterlin war der begeistertste Briefschreiber und Anreger in diesem Kreis gewesen, den anderen fast ein wenig lästig wegen seiner "informellen" Begeisterungsfähigkeit.

Von heute auf morgen stand Finsterlin auf verlorenem Posten. Weil für ihn die Angelegenheit des neuen Bauens mehr gewesen war als eine tagespolitische Sache, konnte er seine neue farbige Welt nicht so einfach der veränderten Realitätssicht opfern, Er, der bis zu diesem Zeitpunkt trotz zahlreicher Studien keine künstlerische Identitätsform parallel zu seiner Lebensform gefunden hatte, war mit den "Architekturen" endgültig auch als "schaffender" Künstler - nicht nur empfindender - aufgewacht. Er hatte das ihm zugehörige Medium entdeckt, um seinem Denken und Fühlen, das alles einzubeziehen suchte, die gültige Form zu geben. Was den anderen, die nur für kurze Zeit seine Freunde waren, mehr propagandistischen Zwecken gedient hatte, bedeutete für ihn auch weiterhin "Lebenssache".

Noch 1982 bekennt Finsterlin: "Es ist fast selbstverständlich, daß die meisten, welche mit meiner Bauidee irgendwie in Verbindung kommen, ...annehmen werden, daß ich heute als 75jähriger zu meinen Jugendideen ein ganz anderes, sagen wir gereifteres, zahmeres, wenn nicht sogar ablehnendes Verhältnis habe. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Ich stehe heute nach einem halben Jahrhundert mehr denn je zu diesen Ideen, denn das wiedererwachte Interesse bester internationaler Fachkreise daran ist mir eine Bestätigung, daß die ehemalige "Gläserne Kette', wie unsere junge Architekten-Vereinigung hieß, nicht an sich selbst, sondern an den tragischen Folgen des 1, Krieges zerbrochen ist ..."

Man muß dennoch davon ausgehen, daß Finsterlin u.a. aufgrund seiner Enttäuschung über die Neuorientierung der Freunde sich nach 1921 immer mehr von dem "Architekturproblem" entfernt hat. Über die "Innenarchitekturen", in denen der Beziehungsreichtum alle Formgrenzen in Frage stellt, gelangt er rasch zu freien "informellen" Bildern und kosmischen Raumgebilden. In ihnen ist jede Form von Statik - oben und unten, vorne und hinten, vorher und nachher - aufgehoben. Allein die Aussicht im Frühjahr 1924 eine ganze Nummer der damals berühmten Amsterdamer Architektur-Zeitschrift WENDINGEN gestalten zu können, konfrontiert ihn in dieser Zeit noch einmal intensiv mit dem Architekturproblem - nun auf seine Weise, völlig losgelöst vom traditionellen Baudenken. Er entwickelt dabei Gebilde von greifbarer "informeller" Schönheit und Deutlichkeit. wie sie in dieser Form nicht mehr erreicht worden sind. Die späteren informellen Kunstströmungen der fünfziger und sechziger Jahre bleiben weitgehend auf die "Innenwelt" der Kunst wie der Künstler ausgerichtet; Finsterlin hat bis zuletzt den Versuch nicht abreißen lassen, Außen- und Innenwelt zu einer fließenden formalen Einheit zu gestalten. Die späten Architekturen von 1923/24 sind dafür der deutlichste Beweis. Finsterlin hat nach einem dritten Weg gesucht zwischen einer alles planenden, konstruktivistischen Kunstauffassung, die nach außen gerichtet ist, und einer rein subjektiven künstlerischen Verhaltensweise zur Welt.