Hermann Finsterlin, einer jener Phantasiebegabten, die zeitlebens versuchen, das Unmögliche möglich zu machen und die daher von fortschrittlichen Fachleuten als Avantgardisten, vom Gros der Weltläufer dagegen als schier Verrückte betrachtet werden, ist in die Galerie "Diogenes" eingezogen. Er wurde an Ort und Stelle von alten Mitkämpen des "Utopischen Briefwechsels" - den Professoren Wassili Luckhardt, Max Taut, Scharoun, als auch von dort, bei Günther Meisner, seit je besonders beheimateten Nachwuchs an jungen Zukunftsgläubigen wie ein Fürst willkommen geheißen. - Die Sympathie der Jugend war stets auf Seiten der Phantasten. So drückten die sogen. "Verrückten" von heute den Avantgardisten von gestern ohne Umschweife ans Herz, dreiundvierzig Jahre spielen da keine große Rolle . -
Dreiundvierzig Jahre ist es her, daß im April 1919 bei J. B. Neumann am Kurfürstendamm in der Nähe des heutigen Marmorhauses eine, vom Arbeitsrat für Kunst veranstaltete "Ausstellung für unbekannte Architekten" Fachkritik und Öffentlichkeit erschreckte. - Die Luckhardt's, die Taut's, Gropius, Mendelssohn, Scharoun - waren beteiligt. Eine Revolution im Bauen zeichnete sich ab, die später in der Zeitschrift DDas Frühlicht" und in jenem "Utopischen Briefwechsel" zwischen den Protagonisten der neuen Idee fortgeführt wurde. - Die waaghalsigsten Entwürfe, die am unbekümmertsten über alle technischen Möglichkeiten zur reinen Utopie drängenden architektonischen Visionen stammten von Hermann Finsterlin. Ihre Bühnen, Schneckenhauswindungen, die ausgeschweiften Kurven, Felstürmungen, Wogenspitzen, Drachenscharten, die Labyrinthischen, alles Senkrechte wie der Teufel das Weihwasser meidenden Verschlungenheiten schienen eher Denkmöglichkeiten als ernsthafter Entwurf, eher Plastik als Architektur. -
- Die Entwicklung ist dem [sic] auch sehr rasch über die romantisch-surrealenAnfänge der modernen Baukunst hinweggegangen. Spätestens mit der Rückkehr Erich Mendelssohns aus Holland unter dem Einfluß der "Styl"-Bewegung auf [sic] der Neuen Sachlichkeit, entschied man sich weltweit für das Rektangulare, Gerade, Nüchterne. Hermann Finsterlin, der Compromisslose, der sich nicht dafür entschied, wurde vergessen. -
Jetzt, da er den vierzigjährigen Staub von seinen Entwürfen, Modellen und Visionen geblasen hat, entdeckt man zweierlei; erstens, daß fast alle diese anscheinend grotesken Unmöglichkeiten mit den neuen Materialien durchaus baumöglich geworden sind, was vor allem Finsterlins Utopien aus der Spinnwebenecke erlöst und sie in gewissem Sinn zu Prophetien machte. Zweitens aber, sehr viel wichtiger, wird offenbar, daß ja manches tatsächlich gebaut worden ist. So nüchtern, so rektangulär, so gerade, wie die Architekten späterhin zu tun beliebten, waren sie ja gar nicht. In ihre Specktakulärsten [sic] Verwirklichungen hat sich längst wieder der Traum ihrer Jugendiahre eingeschlichen.
Frank Llojd Wright und Ladela, le Corbusier, und Niemeyer, Beronbaldachin, Bürowolkenkratzer - in jeweils einer Ecke wird man Finsterlin entdecken, der selbst nie etwas gebaut, der immer nur ein "reiner Tor der Architektur" wie ihn der Diogenes-Katalog apostrophiert, - immer ein Unbedingter, Compromissloser, geblieben ist. -
Das sichert ihm, wie allen reinen Toren, Avantgardisten, Zukunftskämpfern, -seinen geheimen Rang. - Der Weg zu neuen Mölichkeiten führt allemal über das Unmögliche; keine Wirklichkeit, die nicht von der Phantasie erobert werden müßte. So mochte sich gerade die Jugend in dem 75jährigen, der da auf Anregung eines so jungen Mannes wie Ulrich Conrads und mit finanzieller Unterstützung des Senators für Bau- und Wohnungswesen - unvermutet unter ihr auftauchte, bestätigt finden. -
Was in der einen Zeit verrückt erscheint, kann unter verwandelten Aspekten sehr wohl mithelfen, die Welt zurechtzurücken. Dabei ist Finsterlin alles andere als ein Jules Verne der modernen Architektur. In gewissem Sinne ist er mehr als das. Er hat weder den Gesamtkomplex der baulichen Zukunftsmöglichkeiten nur ins Auge gefaßt, noch sich überhaupt darum bemüht, ins Kommende zu wirken, weil er um die Langsamkeit der Entwicklung wußte. - Er hat - mit allen Größen und Grenzen individueller Bemühung - den Kanon der reinen Vorstellungsmöglichkeiten erweitert, - eine geistige Tat - vor allem.Träume, die Räume geworden sind, so oder so, und das nur, weil sie eines Tages ohne Rücksicht auf vergängliche Realitäten in die Welt gesetzt wurden. -
Neben den Modellen und Entwurfskizzen sieht man bei "Diogenes" auch Finsterlins Stilbaukasten, den Versuch, die visionäre Architektur seines Herzens nun wohl doch mit dem Verstande und sogar auf pädagogische Weise zu umreißen. Auch sie, die von der Pyramide über griechischen Tempel, Pagore [sic], chin. Turm - Moschee, Dom etc. bis zu den abstrakten, geometrischen Formen des Expressionismus und sogar Konstruktiviysmus reichen, haben wegen Herstellungsschwierigkeiten nie aus der Werkstatt des Sch"pfers herausgefunden. Fast ein Glück, denn auf diese Weise Finsterlin eine eigene Konsequenz gelungen, - die seine Wiederentdeckung besonders wertvoll macht. -
Er ist im übrigen immer noch der alte Phantast geblieben, wie in den zwanziger, so in den sechziger Jahren. Brachte er doch den Wunsch zum Ausdruck, daß auf das Wirtschaftswunder in deutschen Landen nun auch ein Kulturwunder folgen möge. - Da sich wie Finsterlin beweist, das scheinbar Unerfüllbare, wenn auch oft gewandelt, dennoch erfüllen kann, verlies [sic] man die Galerie mit einem schier unbegreiflichen Optimismus.
[Der Tagesspiegel, 4. September 1962]