Wenn ein künstlerisches Oeuvre vergangener Tage erneut an Aktualität gewinnt, so kann ein leitendes Motiv für die Neuentdeckung sein, daß die Gegenwart eigene Ziele in der Vergangenheit widergespiegelt sieht oder, daß das Gestrige als ein entgegengesetztes, jedoch um so erwünsohteres Korrektiv zum Heutigen empfunden wird. Wie es scheint, ist bei der Wiederentdeckung des Frühwerkes von Hermann Finsterlin die letzte der beiden Möglichkeiten allererst maßgebend gewesen. Die seit den 50er Jahren einsetzenden Einzelausstellungen in Stuttgart, Darmstadt, Aachen oder Berlin, von kleineren Katalogen begleitet und in der großen Publikation Franco Borsis 1968 zusammengefaßt, begrüßen demnach nicht nur den vergessenen Künstler fast wie einen Neuen in der Kunstöffentlichkeit, sondern heben seine Ideenarchitektur als einen Beitrag hervor, der einer versachlichten Architektur und in deren Folge der Unwirtlichkeit der Städte neue Maßstäbe entgegensetzen könne. Und nach der Erbteilung des Nachlasses, der zum großen Teil an die Staatsgalerie Stuttgart ging, ebenfalls jedoch mit charakteristischen Beispielen in die Sammlung Cremer Eingang fand, konnte Georg Jappe anläßlich einer in Köln durch die Initiative Siegfried Cremers 1974 zustande gekommenen Ausstellung emphatisch bemerken: "Wie sähen unsere Städte aus, wäre in ihnen nicht nur der rechte Winkel des Bauhauses, sondern auch die tropisch schwelgende Phantasie von Finsterlin zum Ausdruck gekommen!" Zum Ausdruck indessen, so bewahrt Dorothee Nehring in einem "Gedenkblatt für Hermann Finsterlin", 1974, dem Gedächtnis, seien die ungebauten Architekturen in einigen Nachahmungen sehr wohl gekommen, was hier dahingestellt sei, interessant jedoch erscheint die Prophezeihung: "Manches in den heutigen Architekturdiskussionen könnte als Beweis dafür gelten, daß uns Finsterlins Stunde noch bevorsteht".
Dieser Aussicht angesichts der "Phantasielosigkeit unserer verbauten Umwelt" hat Gerhard Storck im Katalogvorwort seiner von ihm 1976 in Krefeld veranstalteten Ausstellung "Ideenarchitektur - Entwürfe für eine bewohnbare Welt" im Grundsatz zugestimmt; gleichwohl vermied er einige kritische Einwände nicht, die für eine einsetzende Finsterlin-Forschung nützlich sein können. Mit gutem Grund zum Beispiel hält Storck die Etikettierung, die das frühe Werk in stilistischen Zuordnungen zwischen Jugendstil, Expressionismus oder Surrealismus ansiedelte, kaum förderlich für ein angemessenes Verständnis. Ebenso erscheint ihm die Bewertung der Ideenarchitektur, die entweder ihre malerische Schönheit oder die in sie eingegangene Phantasie rühmt, verharmlosend, und dies zuungunsten ihres Anspruchs "Prüfsteine der Wirklichkeit zu sein", einmal abgesehen davon, daß für eine begründete Einschätzung des frühen Werkes neben den sogenannten erotischen Malereien, den zur Gegenstandslosigkeit tendierenden Aguarellen, auch das von Finsterlin entwickelte, die Architekturgeschichte eigentümlich systematisierende "Stilspiel" oder die zahlreichen poetischen Schriften herangezogen werden müßten. Nicht zuletzt wendet der vor allem an Datierungsfraqen interessierte Kritiker Storck ein, mit dem Nachlaß sei in chronologischer Hinsicht allzu nachlässig verfahren.
Beobachtungsgenauigkeit der Signaturen stützen seinen Verdacht irrtümlicher Frühdatierung, daneben auch das ünerlieferte Zitat Finsterlins, er habe 1919 vor seiner Beteiligung an der Ausstellung "Unbekannte Architekten", zu der Walter Grnpius nach Berlin eingeladen hatte, nur "ein Dutzend solcher Entwürfe" vorliegen gehabt, während die übrigen in "einem Zustand von schöpferischer Trunkenheit" für dieses Ereignis erst entstanden. Aus begreiflichen Gründen ist in jenen stürmischen Jahren einer zum Neuaufbruch entschlossenen Architektur, die Ende 1919 in dem Freundeskreis "Gläserne Kette" um Bruno Taut zusammenfand, die Eintragung von Datum und Signatur unterblieben, um erst viel später von Finsterlin nachgeholt zu werden, als die Blätter zu Motivfragen geordnet und für Ausstellunoszwecke auf Karton gezogen wurden. Daß heute die nachträglichen Ordnungsversuche nicht immer als verbindlich anzusehen sind, dürfte einleuchtend sein und auch für einzelne Blätter in der Sammlung Cremer gelten, insbesondere für die sehr früh angesetzten ersten Architekturskizzen.
Statt aber solchen Datierungsproblemen, so vordringlich ihre Lösung wäre, ausführlicher nachzugehen, sei zu dem mit seinem Kompensationscharakter aktuelleren Aspekt des Frühwerks zurückgekehrt - schließlich hat dieser die Neuentdeckung Finsterlins besonders gefördert. Hier ist noch einmal an Jappes Bemerkung zu erinnern, Finsterlins Architekturideen stellten eine Antithese zu einer heutigen Baukunst dar, die allein am rechten Winkel sich orientiere, Der rechte Winkel war in der Tat Finsterlin suspekt, gemeinsam mit "einer unerklärlichen Abneigung gegen das Wohnen in Würfeln, gegen gerade Flächen, Ecken und Hausratkisten, alias Möbel". Die Architektur schien ihm zu einem "Hohleindruck einiger elementarster geometrischer Körper" abgeglitten zu sein, die "Weltbauerei absorbiert ... von der Erstellung von Riesenbrutkästen", und dies weil "jeder Vorzweck ... sich wie eine schwere hemmende Hand auf die Triebkraft eines qöttlich freien reinen Willens" gelegt habe. Es ist also nicht nur der rechte Winkel allein - Finsterlins Architekturverständnis richtet sich gegen jede Zweckgerichtetheit und Funktionalität oder ganz allgemein gegen die Vorherrschaft einer Rationalität, die den Ansprüchen der Emotionalität nicht gerecht zu werden vermag.
Schon der junge Finsterlin hatte als Student der Chemie, Physik und Medizin in München den Positivismus der rationalen Naturwissenschaft als Begrenzung empfunden: "Wissenschaft war mir nur ein winziger Ausschnitt aus einem unabsehbaren endlosen Teppich gewesen", ein Zitat, das nicht nur an Stefan Georges "Teppich des Lebens" denken läßt, sondern verständlich macht, daß Finsterlin als Folge solchen Unbehagens in einer Kehrtwendung, die vollständig war, sich den Künsten zuwendet; sie allein erschienen ihm "als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung". Anlaß dieser Wende war, was nicht unwichtig ist, das Erlebnis einer Besteigung des Watzmanns: in der Folgezeit nämlich wurde die Natur, die Bergwelt vor allem, zur Inspirationsguelle des künstlerischen Schaffens und zugleich zum Ort seines Lebensaufenthaltes in selbstgewählter Zurückgezogenheit. "Das Leben in der Stadt hatte nach Jahren im Hochgebirge jeden Reiz für mich verloren".
So emphatisch die Naturwelt ein Anlaß schöpferischer Gestaltung ist, zum Vorbild der Nachahmung wird sie für Finsterlin nicht. Zwar sind in den Architekturen organische Motive erkennbar, Aufgipfelung von Bergformen etwa, Tropfsteinhöhlen oder die bizarren Formen pilzartiger Gebilde, zwar kritisiert Finsterlin auch die mißratene Entwicklung der Architektur, die bisher "weit hinter der Natur geblieben" sei - mit Ausnahme der gelegentlich zustimmend erwähnten Fassadengestaltung der Gotik oder des Barock - doch unübersehbar ist sein Ziel, das Naturvorbild zu überbieten, denn: "an nichts ist dabei weniger gedacht als an die Natur als Künstlerin oder an Nachahmung organischer Gebilde". Natur - das ist Finsterlin ein sublimiertes Erleben ihrer inneren Gesetzmäßigkeit, und erst in seiner Folqe entstehe "eine höhere Baukunst, die ins Organische, ins Seelische tritt", was jedoch, wie Finsterlin hinzufügt, "nur schwer und mangelhaft (sich) beschreiben" lasse.
Absicht und Schwierigkeit solchen Anspruchs spiegelt die Arbeitsweise, die übrigens immer den Maler erkennen läßt, als der Finsterlin sein Leben als Künstler begann. Sie nimmt ihren Anfang in schnell hingeschriebenen Skizzen, aus denen sich die Gestalt der Architekturen entwickelt - man vergleiche die ersten Entwürfe mit den dann präzisierten Ausführungen in der Sammlung Cremer. So wird auch erklärlich, daß Aquarelle mit ihrem Schwebezustand zwischen Ungegenständlichkeit und nachträglich unterlegter gegenstandsassoziierender Deutbarkeit die Architekturentwürfe immer begleiten, oder vielleicht auch, nach der abgeschlossenen Phase der Ideenarchitektur 1924, deren in den letzten Entwürfen sichtbare Auflösungstendenz fortsetzen. Dieses mutmaßliche Folgeverhältnis würde den erwähnten Zug Finsterlins zur Verinnerlichung bestätigen, zumindest können die Aquarelle mit ihrer informellen Spontaneität den Formbegriff erläutern, der sowohl für sie selbst wie für die Architekturentwürfe bestimmend ist.
Denn wie die Aquarelle jede Festlegung einer Komposition vermeiden und keinen Mittelpunkt kennen, so vermeiden auch die Architekturen jedwede Statik und einen rational kalkulierten Aufbau. Form ist "nur der augenblickliche Querschnitt eines dauernden Fließens ... ein ununterbrochenes, geschlossen bewegtes Kräfteflußsystem", oder: "stehende Bewegung, die jederzeit allseitig weiterblühen könnte ... Anfang und endlos wie alles, das den Puls des Ewigen durchzittert". Charakteristischerweise vergleicht Finsterlin seine organische Ideenarchitektur mit der Amöbe, deren "Masse unteilbar und ... unbeschränkt modellierbar" ist. Nur eine die Naturkräfte symbolisierende Bauweise also kann dem Bewohner das Erlebnis bieten, dessen er in einer versachlichten Welt bedarf; er ist "interner Bewohner eines Organismus, wandernd von Organ zu Organ, ein gebender und empfangender Symbiote eines fossilen Riesenmutterleibes", und hier erst gewärt sich das "Glück der Hemmungs- und Angriffslosigkeit".
Weil für Finsterlin Stadt, Haus und Möbel, "eins aus dem anderen wachsend", in erlebter Naturanalogie sich entwickeln, wird einsehbar, daß in seinen Bauten Innen und Außenform miteinander verschmolzen sein müssen und in der Entwicklung seines architekturbezogenen Werkes die Entwürfe nicht prägnant auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sein können. Zwar vermag man bei Finsterlin zwischen Entwürfen für Einzelhäuser, für Gemeinschaftsbauten oder ganze Siedlungen zu unterscheiden, aber offensichtlicher noch ist die alle Projekte übergreifende Idee der organischen Gestaltung.
Finsterlin wollte das Bündnis mit einer Baupraxis, die die Spezialisierung fordert, nicht eingehen, wie ja auch diese Praxis zu keinem realistischen Kontakt zu ihm fand. Seine Architektur ist Zukunftsarchitektur, programmatisch "Casa Nova" genannt, oder wie der Titel eines Blattes in der Sammlung Cremer sagt: Sehnsucht nach der sagenumwobenen Insel "Atlantis". Seine ins Visionäre gesteigerte Architektur, die "das Bewußtsein unterbewußt oder vielmehr unbewußt" zu machen versucht, nimmt nicht nur eine Zukunft vorweg, sie will auch zu Horizonten einer noch weiteren Ferne vordringen. Einerseits tritt Zukünftiges "in ein intensives Dämmerbewußtsein, das sich zu unglaublicher Deutlichkeit wenigstens für kurze Zeit steigern läßt". Andererseits gilt für Finsterlin das Bekenntnis, "einen Zukunftsbau erschaffen zu wollen, den ich sehe und erfühle, aber in seiner Vollkommenheit noch nicht habe schaffen können".
Jene utopische Hoffnung, die an eine ganz neue "Bewohnbarkeit der Welt" glaubt, die "als farbig-fließender Zusammenhang alles Begrenzte und Benennbare sprengt", ist - mit Gerhard Storck - die Botschaft des Künstlers Finsterlin. Unbekümmert um die Realisierbarkeit hat er sein Leben für diese Utopie eingesetzt, und diesem Einsatz entspricht die gerechte Würdigung Jürgen Joedickes, "daß unsere Welt ohne jene Träumer und Phantasten um vieles ärmer wäre" und "daß vielleicht auch das alle Grenzen Überspringende konzipiert werden muß, um das Mögliche und Zuträgliche zu erreichen".