Reinhard Döhl | Zu Hans Flesch' "Zauberei auf dem Sender"
Man könnte bei Hughes "Gefahr" und Gunolds Gespenster-Sonate "Spuk" von Hörspielen sprechen, die als literarisch selbständige Versuche für ein neues technisches Medium sich von einer anfänglichen Fülle der Bearbeitungen literarischer Vorlagen abheben lassen. Dabei würde Gunolds "Spuk" auch leider andeuten, daß hier die Grenzen gelegentlich fließend sind.
Waren bei "Gefahr" den Stimmen Geräusche sparsam und nur dann zugeordnet, wenn sie - wie man es gelegentlich formuliert hat - einen für den Kontext einsichtigen "Signalwert" haben, spielen Geräusche und Klänge, ganz allgemein akustische Zutaten bei den anderen für das Jahr 1924 genannten Hörspielen eine ungleich größere, gelegentlich dominierende Rolle. Augenscheinlich hat man
daran auch die "funkische Konzeption" dieser frühen Hörspiele gemessen. Ulrich Lauterbach weist entsprechend in diesem Zusammenhang auf die interessante Tatsache hin, daß "Maremoto" vor dem ebenfalls, und zwar wegen seiner "dichterischen Qualität" ausgezeichneten "Agonie" von Paul Camille damals der Vorzug gegeben wurde.Deutet bereits "Gefahr" an, daß neben dem Sprechen auch Singen und Rufen zur Skala stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten, zur Artikulationsbreite gehören, so werden diese Möglichkeiten in "Bellinzona" und "Maremoto" den Darstellungen einer Eisenbahn- beziehungsweise einer Schiffskatastrophe erweitert um das Rufen und Schreien Verletzter bzw. Ertrinkender, um SOS-Rufe und Funksprüche, um akustische Zutaten wie kreischende Bremsen, zerberstendes Material und ähnliches.
Interessant ist, daß beide Stücke mit der Fiktion einer Reportage arbeiten, daß sie den Hörer scheinbar zufällig zum Ohrenzeugen einer Katastrophe, einer Sensation machen. Aber während das Grubenunglück in "Gefahr" über die vordergründige Katastrophe hinaus auf einen Modellfall menschlichen Verhaltens angesichts der Gefahr zielt, muß der erschreckte Hörer von "Maremoto" am Schluß aufgeklärt werden, einer fingierten Reportage, den illusionären Möglichkeiten des Mediums aufgesessen zu sein. "Bellinzona", zu dem eine reale Eisenbahnkatastrophe den Vorwurf geliefert hatte, wurde gar nicht erst gesendet - weil Gunold, wenn man den Erinnerungen Brauns folgen darf, bei seinem Versuch, das Grauen einer Eisenbahnkatastrophe akustisch zu simulieren, die Grenzen eines gleichsam akustischen Taktes überschritten habe. Eine andere, ebenso plausibel klingende Erklärung für die nicht erfolgte Sendung gibt Bettauer, der "Bellinzona" für "die Funktechnik" eine "ähnliche Stellung" zugewiesen wissen möchte, "wie sie die Erstlinge des Naturalismus auf der Bühne" eingenommen hätten. Eine Sendung sei aber nicht zu bewältigen gewesen, weil sich die Sendestationen "den Luxus zeitraubender Proben und kostspieliger technischer Apparaturen" noch nicht hätten leisten können. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, welche der beiden Begründungen ehrlicher ist. Im Prinzip sind sie beide, jede auf ihre Weise richtig. Und sie markieren zugleich zwei Grenzen, an die Hörspielautoren in der Folgezeit immer wieder stoßen sollten,
An einen nicht für ihn bestimmten augenblicklichen Geschehen, genauer an einer Sendepanne auf Welle 467 des Südwestdeutschen Rundfunkdienstes in Frankfurt am Main teilzunehmen, diesen Eindruck hat auch der Hörer des "Versuchs einer Rundfunkgroteske" von Hans Flesch, "Zauberei auf dem Sender".
Man hat dieses vom Hessischen Rundfunk wieder ausgegrabene erste gesendete deutsche Hörspiel bisher als "formal belanglose Verulkung der damals noch fremdartigen Möglichkeiten des Mikrophons" (Schwitzke), als "Einfall" verstanden, der sich "kaum von einem Studentenulk" (Lauterbach) unterscheide. Und man hat so gesehen dem Stück sicher Unrecht getan, was Lauterbach indirekt sogar zugibt, wenn er den erhaltenen Text als "dennoch bemerkenswert" apostrophiert, weil er zeige, "in welche Richtung die sofort nach Aufnahme des Sendebetriebes begonnenen Versuche" gezielt hätten. Man habe nämlich - und das kann man für alle Hörspiele der Jahre 1924/1925 leicht verallgemeinern - zunächst einmal die akustischen Illusionsmöglichkeiten erproben und demonstrieren wollen. Abgesehen davon, daß Fleschs "Zauberei auf dem Sender" für uns heute auch einen spielerischen Einblick in damalige Sendegepflogenheiten, auf das damalige Funkpersonal erlaubt, unterscheidet sich dieses Stück von den historische oder
fiktionale Katastrophen halluzinierenden Hörspielen desselben Jahres wesentlich dadurch, daß hier das neue Medium selbst zum Inhalt eines Sendespiels wird. Und zwar in Form eines von einem von der Mitwirkung ausgeschlossenen Zauberer durcheinandergebrachten Programms, einer von ihm hervorgerufenen Sendepanne und der dadurch ausgelösten Verwirrung.Der von Flesch bewußt gewählte Zweittitel - "Versuch einer Rundfunkgroteske" - ist dabei augenscheinlich bisher überlesen worden. Ich möchte deshalb übertriebenen Wert auf ihn legen, zumal er zwei interessante Hinweise an die Hand gibt.
Zum einen ordnet Flesch durch ihn sein Stück der literarischen Redeweise der Groteske zu. Laut einem Sachwörterbuch handelt es sich bei Groteske um eine "Dichtungsart" des Derbkomischen, Närrisch-Seltsamen, die teils humoristisch, teils ironisch scheinbar Gegensätzliches und Unvereinbares in übermütiger und verblüffender Weise nebeneinander stelle und in Zusmmenhang bringe, teils selbst mit Lebensweisheit veknüpfe. Kennzeichnend sei dabei das Umschlagen der Form ins Formlose, des Maßvollen ins Sinnlose bis geradezu Dämonische.
Stellt sich Fleschs "Zauberei auf dem Sender" beim Abhören nun nicht gerade als ein Meisterwerk jener literarischen Redeweise der Groteske vor, so lassen sich doch schnell einige oberflächliche Entsprechungen auffinden. Ein Nebeneinander von scheinbar Gegensätzlichem und Unvereinbarem könnte man zum Beispiel in dem mit visuellen Tricks arbeitendem Zauberer und einem Rundfunkprogramm. sehen, das er - da ihm die Mitarbeit verwehrt ist - akustisch durcheinanderbringt. Unvereinbar mit dem Hörfunk
Als Funkgroteske ordnet sich die "Zauberei auf dem Sender" zum anderen auch leicht in die literarische Szene der Zeit ein, die seit Wedekind, dem Expressionismus die Möglichkeit der Groteske als literarischer Redeweise wieder entdeckt hatte und Ende der 20er Jahre in den unsinnigen Grotesken Kurt Schwitters einen zweiten Höhepunkt erreichte. Dabei läge Fleschs "Versuch einer Rundfunkgroteske" mit einigen Abstrichen, auch zeitlich korrekt, näher bei Schwitters als bei den Grotesken der Expressionisten, wenn sie bei einem Vergleich auch qualitativ um einiges abfallen würde. Fleschs interessanter Kunstgriff ist dabei, daß die Information, die Botschaft des über das Medium Rundfunk ausgestrahlten Spiels in einem fast tautologischen Sinne das Medium selbst ist. Und genau in diesem doppelten Sinne muß hier die Bezeichnung "Rundfunkgroteske" verstanden werden. Mir scheint, daß man ähnlich der Hughes vorgeworfenen "Raffiniertheit", die bei genauem Zuhören ein - bezogen auf das Medium - konsequenter Kunstgriff ist, auch in diesem Fall von einer derartigen Raffiniertheit wird sprechen können. Wobei die literarische Qualität allerdings weniger interessiert als der - von Medium her gesehen - nahezu tautologische Medienbezug.
Und wenn ich hier abschließend noch einmal auf das genannte Preisausschreiben von April 1924 zurückkommen darf: könnte man der geäußerten Annahme, daß "eine dramatische Lösung zeitlich an die Rundfunkhörer zu große Ansprüche stelle", Hughes "Gefahr" entgegenhalten. Dann ist Fleschs "Zauberei auf dem Sender" nahezu ein Musterbeispiel für jene Sorte "Sendespiele", für die vorgeschlagen wurde, daß sie nicht mehr als 15 bis 20 Minuten dauern sollten und - als Parallellerscheinung zum Trickfilm - auf dem Wege des Lustspiels oder der Groteske zustande kommen könnten.
WDR III, 26.3.1970