Bettina Sorge | Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis im Leben Füsslis, mit besonderer Berücksichtigung seiner Akademievorlesungen

Einleitung | Genie | Religion | Qual | Idealismus | Das Allgemein-Menschliche | Das Burlek-Groteske | Modebesessenheit | Das Nichtgesagte | Die Frau als Opfer sadistischer Grausamkeit | Die Frau als grausame Quälerin | Zusammenfassung | Literatur

Einleitung

Die Widersprüche zwischen Füsslis theoretischen Äußerungen in Form seiner Vorlesungen oder seiner Aphorismen und seinem künstlerischen Schaffen sind vielfältig. Es scheint so, als habe Füssli sich vom jugendlich-schwärmerischen Stürmer und Dränger, vom Rousseau-Enthusiasten, der die Trennung von Kunst und Religion fordert, zum konservativ-puritanischen Klassizisten entwickelt. In seiner Jugend verkehrt Füssli mit der Elite des Sturm und Drang, ist Schüler von Bodmer und Breitinger und ein enger Freund Lavaters, der Herder begeisterte Briefe über den jungen Füssli schreibt und diesen als Genie preist. Am Ende seines Lebens fordert der greise Professor der Royal Academy in seiner letzten Vorlesung eine neue Bindung der Kunst an die Religion und Moral und preist die Antike als unerreichtes Vorbild, dem jeder Künstler nacheifern muß.

Hat Füssli sich, ebenso wie Goethe, von den Idealen seiner Jugend nach und nach abgewandt? Doch wie erklärt sich, daß nur wenige seiner Ideale je Eingang in seine Kunst fanden, ja, daß sich die Diskrepanz zwischen Theorie und Werk im Alter eher noch verstärkt?

Interessanterweise wird von Füssli berichtet, er habe mit der rechten Hand geschrieben und mit der linken gezeichnet. Füsslis treuer Freund und Biograph Knowles beschreibt, wie der junge Füssli heimlich zeichnete, während sein Vater Predigttexte vorlas, und dazu die linke Hand benutzte, damit sein heimliches Treiben weniger auffiel. Der Vater sah es nicht gern, wenn sein Sohn, den er zum Kleriker bestimmt hatte, leidenschaftlich zeichnete. Dagegen prügelte er Sprachen und Literatur buchstäblich in seinen Sohn hinein, wie Füssli später gegenüber Farington bemerkt. (Vgl. Schiff,S.274) Schon früh verknüpft sich also für Füssli das Zeichnen, das er zunehmend mit der linken Hand praktizierte, mit Heimlichkeit und Opposition gegenüber dem Vater. Man weiß heute, daß die linke Großhirnhemisphäre fast ausschließlich mit der rechten Körperseite verbunden ist, während die rechte Hemisphäre für die linke Körperseite, also auch die linke Hand, zuständig ist. Die rechte Hemisphäre verarbeitet Bilder und Muster und ist für räumliches Vorstellungsvermögen zuständig.Die linke Hemisphäre dominiert in Bezug auf Lesen, Schreiben und analytisches Denken. Wir können also der linken Hemisphäre eher das Bewußtsein, der rechten Hemisphäre (und damit der linken Hand) eher das Unterbewußtsein zuordnen. Natürlich arbeiten bei jedem gesunden Menschen beide Hemisphären zusammen, doch wenn es auch biologisch nur in Ansätzen stimmt, so ist es doch immerhin eine schöne Metapher für Füsslis innere Zerrissenheit, in seinem heimlichen Zeichnen mit der linken Hand einen Ausdruck seines Unterbewußtseins zu sehen, in seinen schriftlichen Äußerungen jedoch eher den Ausdruck seines Bewußtseins.

Hat also Füssli keine bewußte Entwicklung vom Stürmer und Dränger zum Konservativen genommen, sondern sind beide Pole schon von Beginn an in ihm angelegt? Ist die große Diskrepanz zwischen Theorie und Werk Ausdruck einer inneren Zerissenheit, die sein ganzes Leben prägt?

Um dies im folgenden zu untersuchen, sollen Aussagen aus seinen Akademievorlesungen über Genie, das Verhältnis zwischen Kunst und Religion, über Schreckensdarstellungen und über den idealen Stil mit seinem eigenen Werk verglichen werden. Das letzte Kapitel gilt einer Facette seines Werks, die gar keinen Eingang in seine Theorie gefunden hat, nicht einmal über eine vehemente Ablehnung.

"Genius is the pupil of Nature; perceives, is dazzled, and imperfectly transmits one of her features." (Vorlesung XI,S.8)

Das Genie ist also nach Füsslis Auffassung nur der Schüler der Natur. Alle Entdeckungen des Genies beruhen auf Naturbeobachtung. "Our ideas are the offspring of our senses, we are not more able to create the form of a being, we have not seen, without retrospect to one we know, than we are able to create a new sense." (I,S.38) Füssli ist hier Lockes Sensualismus verpflichtet, der alle Erkenntnis von der Sinneswahrnehmung ableitet. Blake war der Meinung, der Mensch könne kraft seiner Vision die Grenzen der Schöpfung durchbrechen. Füssli jedoch unterscheidet deutlich zwischen Schöpfung, die allein Gott zusteht, und Erfindung aufgrund von Naturbeobachtung, dem Betätigungsfeld des Genies.

"...to invent is to find: to find something, presupposes its existence somewhere, implicitly or explicitly, scattered or in a mass: nor should I have presumed to say so much on a word of meaning so plain, had it not been, and were it not daily confounded , and by fashionable authorities too, with the term creation.

Form, in its widest meaning, the visible universe that envelopes our senses, and its counterpart the invisible one that agitates our mind with visions bred on sense by fancy, are the element and the realm of invention; it discovers, selects, combines the possible, the probable, the known, in a mode that strikes with an air of truth and novelty, at once." (III, S.137)

Füssli schließt sich hier an Breitingers Erweiterung des "Möglichen" in Richtung des Wunderbaren und der Phantasie an. Aber er erteilt der Konzeption des prometheischen, gottgleichen Künstlers, der nur aus der Kraft seiner Imagination heraus schafft - der vorherrschenden Genievorstellung des Sturm und Drangs - eine Absage.

Auch Addisons Aussage, das große Genie schaffe "without any assistance of art or learning" hat wohl kaum Füsslis Beifall gefunden, der zu den gelehrtesten Männern seiner Zeit zählte. Wenn er auch in seiner zehnten Vorlesung meint, Genie könne nicht gelehrt werden (X,S.390), so will er doch, wie er es in seiner zwölften Vorlesung nennt, den Verfall der Künste aufhalten, indem er sie wieder auf den soliden Grund von Prinzipien, Regeln stellt. Wieder und wieder ermahnt er seine Studenten, die Antike sei das absolute Vorbild, dem jeder Künstler nacheifern müsse.

In seine Theorie hat Füssli also die Geniekonzeption des Sturm und Drang nur im Ansatz aufgenommen.

In seiner zweiten Ode über die Kunst von 1770 klang das noch ganz anders.

In Sixtus' Tempelhalle, so dünkte mir,
Stand ich, was Zeit des wankenden Abends Licht
Auf ihrer Bilder Götterscharen
Schauernde Schönheit und Majestät gießt;
Mir däucht, ich sah den Schleier der Ewigkeit
Zerrissen; Zeit und Raum und der Stoff gebar:
Es strömte von der Allmacht Finger
Leben, und Adam sprang auf vom Staube.
Hier wird eine Vision beschrieben, die der Genius dem lyrischen Ich schickt. Die einfachste Lesart wäre, darin nur eine Beschreibung von Michelangelos Schöpfung in der Sixtinischen Kapelle zu sehen. Doch eine weitere Lesart ist möglich. Der Genius der Kunst schickt Füssli diese Vision, und berührt von der Allmacht Michelangelos springt Füssli auf vom Staube, seiner Bestimmung zu folgen und bildender Künstler zu werden. Nach dieser Lesart wäre hier, ganz im Sinne des Sturm und Drangs, der Künstler als gottgleicher Schöpfer beschrieben.

Noch einmal begegnet dieser Gedanke in Füsslis Biographie, nämlich bei seinen Fresko-Entwürfen für eine Shakespeare-Gedenkhalle nach dem Muster der Sixtinischen Kapelle. Wäre dieser Plan, den Füssli in Rom faßte, realisiert worden, hätte er damit die Werke Shakespeares gleichgesetzt mit dem Handeln Gottes, wie es von Michelangelo dargestellt wurde. Damit hätte er Shakespeare als autonomen Schöpfer dargestellt, der im kreativen Akt Gott gleich wird. Kunst wäre anstelle von Religion getreten. (vgl. Schiff, S.110)

Ein dritter Widerspruch zu seiner Absage an den gottgleichen Künstler findet sich in seinen Vorlesungen. Die Art und Weise, wie er Rembrandt und Rubens beschreibt, erinnert sehr an die Vorstellung vom Originalgenie, das jegliche Autorität ablehnt.

"...both of whom disdaining to acknowledge the usual laws of admission to the temple of fame, boldly forged their own keys, entered and took possession, each, of a most conspicuous place by his own power." (II, S.119) Hier ist keine Rede mehr von Regeln, die eingehalten werden, antiken Vorbildern, die nachgeahmt werden müßten. Füssli beugt sich vor dem ungewöhnlichen, regelverletzenden Genie Rembrandts und Rubens, ganz im Sinne Youngs, der in seinen Conjectures on Original Composition die Auffassung vertrat, daß "das gottbegnadete Genie aus Leidenschaft zum Schöpfer wird und über alle Regeln erhaben ist." Wie sehr Füssli sich seines eigenen Genies und seiner Originalität bewußt war, zeigt eine Aussage von ihm, in der er sich mit seinen Kollegen von der Royal Academy vergleicht. "Wünschen Sie ein Bild der Natur wie sie ist, so gehen Sie zu Opie; wünschen Sie eines, wie sie einmal war, so gehen Sie zu Northcote; wünschen Sie aber Darstellungen, die nie waren noch auch je sein werden, so kommen Sie zu mir!" (Schiff, S.122) War Reynolds der Meinung gewesen, ein Student müsse möglichst viel kopieren, um seine Erfindung zu schulen, so macht es Füssli zum alleinigen Vorrecht des Genies, fremde Formen ins eigene Werk einzufügen. "An adopted idea or figure in a work of genius is a foil or a companion of the rest; but an idea of genius borrowed by mediocrity, (...) is the giant's thumb by which the pigmy offered the measure of his own littleness." (III, S.181) "Genius may adopt, but never steals" fügt er im 50. Aphorismus hinzu. Also muß er, der selbst viel von Michelangelo kopierte, von der genialischen Originalität seines Stils überzeigt gewesen sein.

In seinem Werk illustriert Füssli vor allem Sujets von Dichtern, die im Sturm und Drang für Originalgenies angesehen wurden - Shakespeare, Homer und Milton. Und wenn Shakespeare von Home, einem den deutschen Sturm und Drang stark beeinflussenden englischen Kritiker, als Dichter der Leidenschaften bezeichnet wird,so kann man Füssli mit gutem Recht einen Maler der Leidenschaften nennen.

Füssli zeigt also in seiner Theorie nur Ansätze der Geniekonzeption des Sturm und Drang, aber dennoch lassen sich in seinem bildnerischen Schaffen, in Nebensätzen seiner Vorlesungen und in seiner Ode die Hauptgedanken der Geniekonzeption nachweisen.

Nothing less than Christian enthusiasm could give that lasting and energetic impulse whose magic result we admire in the works that illustrate the period of Genius and their establishment. (Vorlesung XII, S.46)

Am Ende seines Lebens fordert Füssli die Bindung der Künste an Religion und Moral. Die Betrachtung der Schönheit eines Kunstwerks mache den Menschen besser (XII,S.41); auch hat sie die Aufgabe, den Glauben zu vertiefen und den Eifer der Gemeinden zu wecken.

Who would not rejoice if the charm of our Art, displaying the actions and example of the sacred Founder of our religion and of his disciples in temples and conventicles, contributed to enlighten the zeal, stimulate the feelings, sweeten the acrimony, or dignify the enthusiasm of their respective audiences? (XII,S.53)

Nicht immer war Füssli so von der Bindung der Künste an den Glauben überzeugt.

In seiner Jugend fordert er, ganz im Sinne der Genieästhetik des Sturm und Drang, die völlige Autonomie der Künste. (Vgl. Schiff, S.54). 1793 läßt er sich auf eine publizistische Diskussion mit Benjamin West ein, der behauptet, ein Künstler müsse ein tugendhafter Mensch sein. Füssli hält ihm entgegen: "Zu sagen, daß ein niederträchtiger oder lasterhafter Charakter nicht den höchsten Rang in der Kunst erreichen könne, hieße, ein Schuft könnte keine hochentwickelten Sinnesorgane haben." (Ebd., S.167) In seiner zweiten Vorlesung über die Kunst der Neuzeit, gehalten im März 1801, gibt er dem Christentum die Schuld am Verfall der Künste bis zur Frührenaissance. Nicht der Verfall, sondern die glänzende Wiedergeburt der Künste sei erstaunlich angesichts der christlichen Ausrichtung auf Innerlichkeit und Transzendenz. Besonders beklagt er die Körperfeindlichkeit der christlichen Religion, die Darstellung von Nacktheit nur bei eklen Martyrien und ausgemergelten Heiligen ermögliche. (II,S.76f.)

In seinem Werk hat Füssli, abgesehen von ein paar grausamen Szenen aus dem Alten Testament, kaum je Szenen aus der Bibel als Sujets gewählt. Die Zeichnungen, die er über Jesus und seine Jünger gemacht hat, ließen sich an einer Hand abzählen. Bei seinen Gemälden zu Miltons Paradise Lost wählt er nur eine einzige Stelle aus, in der Christus erscheint und selbst hier vermeidet er seine Darstellung. Gemeint ist das Gemälde Erschaffung der Eva (Abb. 1), auf dem ein Wesen abgebildet ist, das bei Milton eindeutig als Christus beschrieben ist. Füssli gibt der Gestalt jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der traditionellen Christus-Vorstellung und bevorzugt die Deutung der Gestalt als die eines höheren Wesens. (vgl. Schiff,S.208). Satan, nicht Christus, steht im Mittelpunkt seiner Milton-Gallery, und er erregt Bewunderung und Mitleid, da ihn Füssli als tragischgescheiterten, aber dennoch bewundernswerten Rebellen zeigt. Füssli gibt also in seiner letzten Vorlesung die Vorstellung von der Autonomie der Künste, die er ein Leben lang gehegt hat und die sich auch in seinen Werken ausdrückt, auf.

"Mangling is contagious, and spreads aversion from the slaughterman to the victim." (Vorlesung V,S.263)

Verstümmelung sei ansteckend; der Widerwille gegenüber dem Henker werde auch auf das Opfer übertragen. Mit diesen erstaunlichen Worten brandmarkt Füssli Correggios Gemälde Martyrium der Heiligen Placidus und Flavia. Besonders scheußlich dünkt ihn die selbstverliebte Verzückung, mit der die Heiligen ihr Martyrium erdulden, also die Mischung von Lust und Schmerz, die gerade ein Kennzeichen vieler seiner eigenen Bilder ist. (Vgl. Kapitel 6)

Die Verurteilung der Martyriendarstellungen ist Teil der neoklassizistischen Ablehnung des Barocks. Auch andere Theoretiker haben sich dazu geäußert. Webb etwa meint, man könne mit niemandem mitfühlen, der sich seiner himmlischen Belohnung sicher sei. (Vgl. Schiff,S.267). Füssli jedoch argumentiert nur mit dem Gefühl des Ekels, der ihn erschaudern macht beim Betrachten solcher Bilder.

Im folgenden beschreibt er die unterschiedliche Umsetzung des Samson-Delila-Themas durch Van Dyck (Verhaftung des Simson / Wien), Giulio Romano (nicht identifiziert) und Rembrandt (Gefangennahme und Blendung des Simson / Frankfurt, Abb. 2). Dabei preist er Romanos Bild als das beste, da dieser den Augenblick der höchsten Spannung gewählt habe. Samson ruht schlafend im Schoße Delilas, während ihm ein Mann die Haare abschneidet und im Hintergrund bereits Soldaten heranschleichen. Das Bild führe uns die gesamte Geschichte vor Augen, aber erspare uns den Anblick des Schrecklichen, so Füssli. Diesen spannungsreichsten Augenblick, in dem das ganze zukünftige Geschehen sich schon andeutet, im Sinne von Shaftesburys fruchtbarstem Augenblick, hat auch Füssli in vielen seiner Gemälde mit sicherem Instinkt erfaßt. "Julio forms the plot, Vandyke unravels it, and Rembrandt shows the extreme of the catastrophe" (V,S.264), meint Füssli und zeigt damit wieder einmal seinen ungemein literarischen Ansatz.

Rembrandt, der einen "moment of horror" wählte, schuf eine Szene, "which no eye but that of Domitian or Nero could wish or bear to see". (V,S.266) Die grauenerregende Darstellung der Blendung beschreibt Füssli folgendermaßen: "Samson, stretched on the ground, is held by one Philistine under him, whilst another chains his right arm, and a third clenching his beard with one, drives a dagger into his eye with the other hand." (Ebd.) Interessant in diesem Zusammenhang ist auch seine Beschreibung er Dalila: "If her figure, elegant, attractive, such as Rembrandt never conceived before or after, deserve our wonder rather than our praise, no words can do justice to the expression that animates her face, and shows her less shrinking from the horrid scene than exulting in being its cause." (V,S.266f.) Ist es nicht eine typische Femme Fatale, die Füssli hier beschreibt? Wir
werden später noch sehen, daß sich in seinem Werk die Femmes Fatales nur so häufen. Aus all dem geht hervor, daß Schiff unbedingt zuzustimmen ist, wenn er meint, aus Füsslis leidenschaftlicher Ablehnung der Martyrien und grauenhafter Szenen schwinge eine Abwehr gegen die sadomasochistische Komponente seines eigenen Werks mit. (Vgl. Schiff,S.267). Scharf unterscheidet Füssli zwischen "terror", der Mitleid und Sympathie erweckt und "horror", der Ekel und Verachtung ervorruft. "Terror" ist in der Darstellung gerade noch zulässig, "horror" nicht mehr; die Grenzen des darstellbaren Ausdrucks werden überschritten. Hierin geht Füssli mit Lessing konform, der den antiken Künstler Timomachus dafür lobte, daß er Medea einige Augenblicke vor dem Kindermorde darstellt. Auch in seinem Werk stellt Füssli die handelnden Personen meist vor oder nach einem Mord oder einer Mißhandlung dar, aber nicht währenddessen. Wenn wir Rembrandts Gemälde mit Füsslis Hephaistos, Bia und Kratos schmieden Prometheus an den Kaukasus (Abb. 3) vergleichen, so fällt auf, daß Rembrandts Umsetzung viel dynamischer und grausamer ist. Samson wehrt sich mit allen Kräften, während Prometheus still und ergeben daliegt. Rembrandt zeigt, wie der Dolch ins Auge eindringt und Blut über Samsons Gesicht spritzt. Füssli zeigt, wie Hephaistos gerade zum Schlag ausholt, um einen Keil in Prometheus' Brust zu treiben, also den Augenblick vor dem grausamen Geschehen. Wenn in Füsslis vehementer Abwehr gegen grauenhafte Szenen auch viel Verdrängung seines eigenen Werkes im Spiel ist, so ist Füsslis Schrecken doch subtiler und verdankt sich nicht bluttriefenden Dolchen.

Nicht zu folgen vermag Füssli Lessing jedoch in dessen Absolutsetzung des Schönheitsanspruches. Die Verhüllung von Agamemmnons Haupt in einem Gemälde Timanthes'sei "ein Beispiel, nicht wie man den Ausdruck über die Schranken der Kunst treiben, sondern wie man ihn dem ersten Gesetze der Kunst, dem Gesetze der Schönheit, unterwerfen soll. Für Füssli ist Ausdruck jedoch wesentlich wichtiger als Schönheit. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt dies in einem Vorwort, das er für die Neuausgabe der Vorlesungen 1820 schrieb. "From him (Winkelmann) they have learnt to substitute the means for the end, and by a hopeless chace after what they call beauty, to lose what alone can make beauty interesting, expression and mind." (S.13f.) Schiff geht sogar soweit zu behaupten, die Beschreibung von Laokoons "longdrawn mouth" (I,S.72) sei eine offene Polemik gegen Lessing, der den Schrei des Vaters aufgrund seiner Ästhetik zum Seufzer mildern mußte. (Vgl. Schiff,S.240). Wenn das auch etwas weit hergeholt scheint, vor allem, da Füssli nicht ausdrücklich von Schreien spricht, wird doch sehr klar, daß gerade diese große Wertschätzung des Ausdrucks im denkbar größten Widerspruch zu dem sich sonst so klassizistisch gebärdenden Lehrsystem Füsslis steht. Wir finden also nicht nur Widersprüche zwischen Füsslis theoretischen Schriften und seinem Werk, sondern auch innerhalb seiner Theorie verwickelt er sich in Widersprüche.

"Thus, by nature I understand the general and permanent principles of visible objects, not disfigured by accident, or distempered by disease, not modified by fashion or local habits." (Vorlesung I,S.21)

Füssli versteht also unter Natur allgemeine und dauerhafte Prinzipien und abstrahiert dabei sowohl von Zufall und Krankheit als auch von Zeitmoden oder ortsgebundenen Sitten. Er fährt in seiner Definition folgendermaßen fort: "Nature is a collective idea, and, though its essence exist in each individual of the species, can never in its perfection inhabit a single object." (Ebd.) Hinter dieser Formulierung steckt das idealisierte Menschenbild des Klassizismus, der immer das Allgemeine, Ewige darstellen wollte.

Die Naturnachahmung der antiken Künstler war entweder wesentlich, charakteristisch oder ideal. Die wesentliche Naturnachahmung stellt Individuen dar, gereinigt von allem Zufälligen, Krankhaften usw. Die charakteristische Nachahmung zeigt das Individuum als Typus, als Vertreter seiner Gattung. Und die ideale Nachahmung schließlich verklärt das Individuum und schafft ideale Schönheit. Füssli läßt keinen Zweifel daran, daß er den idealen Stil für die Essenz der Kunst hält. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß er in seiner Vorlesung über "Design" meint, eine genaue Wiedergabe des Modells führe zur weitesten Entfernung von der menschlichen Form. (VII,S.314) Lobenswert sei dagegen die Methode der Royal Academy, die Schüler zuerst antike Statuen nachahmen zu lassen, bevor sie sich an lebende Modelle wagen, denn habe nicht sogar Tintoretto gesagt, daß solchen Modellen weder Anmut noch eine gute Form eigen ist. Leonardo da Vinci wirft er dessen Vorliebe für Karikaturen vor. "...he joined an inequality of fancy that at one moment lent him wings for the pursuit of beauty, and the next flung him on the ground to crawl after deformity: we owe him chiaroscuro with all its magic, we owe him caricature with all its incongruities." (II,S.82)

In seiner Vorlesung über Proportionslehre referiert Füssli die Theorie des holländischen Anatoms Pieter Camper, der die Unterschiede zwischen verschiedenen Rassen anhand ihre Gesichtslinienwinkels bestimmen wollte. Dabei verschweigt er jedoch, daß nach Campers Meinung absolute Schönheit unmöglich ist, da Schönheit nicht von Proportionen abhänge, sondern nur vom derzeit herrschenden Schönheitsideal. Der Schöpfer habe die menschliche Gestalt nicht im Abzielen auf Schönheit, sondern nur auf Nützlichkeit geschaffen. (Vgl. Schiff,S.363).

Füssli dagegen vertritt ein klassizistisches Schönheitsideal. Die Stirnmuskeln sind für ihn der Sitz des Denkvermögens und "the mouth and lips were shaped for organs of command and persuasion, rather than appetite." (X,S.380). Der Körperbau ist also von rein geistigen Prinzipien bestimmt und bildet ein "harmonious system of features". (Ebd.)

Nur der antike Mensch ist von so unvergleichlicher Schönheit, deshalb ist die Antike das unerreichte Vorbild, dem der Künstler nacheifern soll. Der Torso und der Apollo Belvedere sind Meisterwerke des idealen Stils, an deren Formgebung nicht einmal Michelangelo heranreichen konnte. Große Kunst soll, gereinigt von Modeerscheinungen, von krankheits- und altersbedingten Entstellungen das Erhabene, Zeitlose, Allgemeingültige darstellen. Wie sehr Füssli Modisches in der Kunst ablehnt, zeigt sich auch in seinem Aphorismus 16, wo er sagt: "fashion is the bastard of vanity, dressed by art." Seine Ablehnung von alters- und krankheitsbedingten Entstellungen zeigt sich an seiner Kritik an Dürer. "Can there be any thing more disgusting to an eye accustomed to harmony of frame, than the starveling forms of Albert Durer..." (VII, S. 314)

Schlagworte, die in Füsslis klassizistischem Forderungskanon immer wieder auftauchen, sind "harmony, simplicity, purity, propriety, unity, clearness". Wir werden im folgenden sehen, was von Füsslis Stil zu seinem Theorieverständnis paßt und was dazu in diametralem Widerspruch steht.

Das Allgemein-Menschliche in Füsslis Werk

Schon in seiner römischen Zeit, als Füssli viel von Michelangelo kopiert, wird deutlich, daß er dessen Figuren der Zeitlichkeit entrückt. An Stelle der lebensechten Gewänder bei Michelangelo sind sie in heroischer Nacktheit wiedergegeben oder tragen schematischpseudomittelalterliches Gewand; sie sind abgeleitete Phantasiegeschöpfe, die sich keiner bestimmten historischen Sphäre zuordnen lassen und darum auch grundsätzlich das Figurenrepertoire für seine gleich unhistorischen Antiken-, Nibelungen-Dante-oder Shakespeare-Illustrationen stellen können. (Schiff, S.87)

Nicht nur die Kostüme von Füsslis Figuren, sondern auch die Raumausstattung, die meist nur angedeutet ist, ist jeder historischen Zeitlichkeit entrückt. "Im Interesse des Generellen, Allgemein-Menschlichen wird individuelle Charakterisierung vermieden." Kein Wunder, daß man selten Probleme hat, eine Füsslische Figur zu erkennen. Sie sehen sich alle irgendwie ähnlich!

Die Ugolino-Episode aus Dantes Divina Commedia (Abb. 4) ist ein gutes Beispiel dafür, wie Füssli einen literarischen Stoff, der von seinen Zeitgenossen vor allem politisch, nämlich als Leiden für die Freiheit, gedeutet wurde, zeitlos und allgemein-menschlich gestaltet. (Vgl. Schiff,S.103) Einfach und ohne jedes Pathos zeigt Füssli die toten und sterbenden Knaben sowie den vor Grauen erstarrten Ugolino (in der von Füssli oft gestalteten Pose des Grüblers).

Schiff unterscheidet zwischen Füsslis offizieller Produktion, Gemälden und Zeichnungen zu Stoffen aus Mythologie, Dichtung und Geschichte, in denen Füssli meist "differenzierten Ausdruck und individuelle oder gar bizarre Gesichtszüge um der erstrebten allgemeinmenschlichen Gestaltung willen" vermeidet, und seiner inoffiziellen Produktion. (Schiff, S.112) Dieser wollen wir nun unsere Aufmerksamkeit widmen, wobei trotz allem zu fragen bleibt, ob nicht auch in Füsslis "offizieller" Produktion genug übrig bleibt, das seiner Konzeption eines idealen, zeitlos-erhabenen Menschenbilds widerspricht.

Das Burlesk-Groteske in Füsslis Werk

Im Alter von vierzehn hat der junge Füssli seine Freude daran, derb burleske Zeichnungen und Karikaturen zu schaffen. (Ebd., S.36). Wenig später entsteht eine Serie von Narrenzeichnungen:Beispiele von Fress- und Trunksucht, Dummheit und Spielsucht. (Ebd.,S.41) Im selben Stil gestaltet er vier Illustrationen zum Till Eulenspiegel. Dabei hält er sich eng an das Volksbuch und dessen nihilistische Weltsicht: die Welt als "Wechselspiel von Dummheit und Gier". (Ebd.,S.43)

1763 schafft er ein Blatt, in dem er die Bamberger Maler zwischen Giftpilzen und Kröten darstellt und sie selbst als pilzartige Gnome diffamiert. (Ebd.,S.60)

Vier Jahre später erhält er den Auftrag, Illustrationen zu Willoughby's Practical Family Bible zu entwerfen. Die Sujets, die er dafür auswählt, sind fast alle noch nie behandelt worden, und er verleiht ihnen unheroische und groteske Züge. (Ebd.,S.64) In Rom liefert er sich mit einem Freund einen Wettkampf im Karikaturenzeichnen. (Ebd.,S.76)

Schon in Füsslis Jugend finden wir also diesen Zwiespalt zwischen seinen hohen Idealen einerseits und seiner pessimistischgrotesken Weltdarstellung in seinem Werk andererseits. Weder seine Begeisterung für Klopstock, Bodmer und Breitinger oder Rosseau, noch seine Vorliebe für die Antike, noch der frühe Tod seiner Mutter, noch seine theologische Ausbildung haben eine Spur in seinem Werk hinterlassen. Stattdessen finden wir Karikaturen, Narrenzeichnungen, absonderliche und grausame Szenen aus der Bibel oder der Schweizer Geschichte. Man könnte glauben, Füssli habe sich mit seinen frühen Werken erst einmal von seiner Erziehung, seinem Vater befreien müssen.

Das Vorwiegen und die Krassheit der Kämpfe, Überfälle und Schlägereien verrät ein mehr als gewöhnliches Maß von gestauter Aggressivität; der Spott, der sich in die Humanisten- und Reformatorenbildnisse mischt, bekundet ebensoviel Auflehnung gegen die Autorität von Schule und Kirche, wie die Narren- und Eulenspiegel-Folgen Widerwillen gegen die Kleinbürgerlichkeit.(Ebd., S.45)

Schon in seiner frühen Jugend schlägt sich also das in Füsslis Werk nieder, womit er im Leben nicht fertig wird oder was er nicht verwirklichen kann.

In seinem späteren Werk nehmen die burlesk-ironischen Züge ab, doch dafür nehmen die Modebesessenheit und das Erotische zu, meist verknüpft mit sadomasochistischen Zügen.

Füsslis Werk und seine Modebesessenheit

Stecken Füsslis heroische Gestalten aus Nibelungenlied, Shakespeare-Tragödien oder griechischer Mythologie meist in zeitlosen, fließenden Gewändern, wenn sie überhaupt etwas anhaben, so fällt doch auf, daß er zwei Frauentypen immer in zeitgenössischen Gewändern malt: Feen/Hexen und Kurtisanen.

Die Feen, die zuhauf in Füsslis Gemälden zu Shakespeares A Midsummer Night's Dream auftauchen, tragen alle modisches Zeitgewand. Schiff bietet dazu die Erklärung an, daß Füssli seinen Zeitgenossen, vor allem den Frauen, einen Spiegel vorhält und sich über den vorherrschenden Geister- und Wunderglauben lustig macht. "Ist es nicht drastische Ironie", fragt er, "wenn er den okkulten Damen ihre Feen und Hexen ganz nach ihrem eigenen Bilde gemodelt vor Augen führt"?

Doch das scheint nur die Hälfte der Wahrheit zu sein. Schiff fährt fort: "In Füsslis spielerischen Schöpfungen sind jene "Geister" Mittel gesellschaftlicher Satire, in seinen dunkleren Werken sind sie Verkörperungen von Triebenergien." Sehen wir uns doch einmal eine solch "spielerische Schöpfung" genauer an, nämlich Titanias Erwachen (Abb. 5). Der schlafende Bottom, gerade vom Esel wieder zum Mensch geworden, liegt schlafend, mit nach hinten gebeugtem Kopf, da. Ein Reigen böser Geister umgiebt ihn, deren er sich nicht bewußt ist. Ein Alp galoppiert auf einer Nachtmahr über seinen Kopf. Drei Hexen mit ihrer Brut stehen an der Seite des ahnungslosen Schläfers. Einer davon hat er sogar seinen Arm über den Schoß gelegt, eine zweite schickt sich gerade an, ihn zu zwicken. Das Bild ist auf der Seite von Titania und Oberon wesentlich heller und leuchtender, die Feen dort sind lieblich und tanzen, doch auf der Seite des Schläfers herrscht ein bedrohliches Dunkel. Nur die böseste der drei Hexen leuchtet geisterhaft. So bietet sich auch noch eine zweite Erklärung für die Feen und Hexen in zeitgenössischer Kleidung an, nämlich Füsslis noch ausführlich zu behandelnde Angst vor der dämonischen Frau, der der Mann hilflos ausgeliefert ist. Diese starken, ihn ebenso faszinierenden wie einschüchternden Frauen fand er eben nicht nur in Literatur und Geschichte, sondern auch in seiner nächsten Umgebung, zum Beispiel in der eigenen Frau. Der zweiten Gruppe, den Kurtisanen, denen fast nur noch bedrohliche Züge anhaften, soll in einem Kapitel über die Femme Fatale ausführlich gedacht werden.

Doch nicht nur an zeitgenössischen Gewändern, sondern vor allem an seiner besessenen Darstellung verschiedener Frisuren, zeigt sich Füsslis Modefaszination. Laut Schiff kann man an Füsslis zahlreichen Portraits seiner Frau nicht nur deren Wandlung vom schüchternen Mädchen zur einschüchternden Frau, sondern auch den Wechsel der Haarmoden in England ablesen.

Damit haben wir uns so weit von Füsslis kunsttheoretischen Äußerungen entfernt, daß es Zeit wird, ein neues Kapitel zu beginnen über das dort Verschwiegene, Unterdrückte.

Das Nichtgesagte / Erotisches in Füsslis Werk

Erotik wird bei Füssli fast immer, von einigen hedonistischen Bacchanaldarstellungen aus seiner römischen Zeit einmal abgesehen, die vermutlich von griechischer Vasenmalerei beeinflußt sind, in Verbindung mit Gewalt oder Grausamkeit gebracht. Dabei tritt die Frau entweder als Quälerin oder als Gequälte auf. Wenden wir uns zuerst der zweiten Gattung zu, Gemälden, die einen eindeutig sadistischen Einschlag haben.

Die Frau als Opfer sadistischer Grausamkeit

1779 zeichnet Füssli einen Entwurf für ein Ölgemälde über ein Thema, das auf keiner literarischen Vorlage beruht, sondern rein Füsslis Phantasie entsprungen ist: Ezzelin Bracciaferro an der Leiche seiner von ihm getöteten Gemahlin Meduna (Abb. 6). Die Zeichnung zeigt einen Mann in Füsslis typischer Denkerpose. Der Mann ist in Rüstung, sein Schwert lehnt zwischen seinen Beinen. Vor ihm liegt eine Frauenleiche mit entblößter Brust. Zwischen ihren Brüsten klafft eine offene Wunde. Der Kopf der Frau ist unnatürlich nach hinten gebogen, ihr Gesicht verdeckt eine Binde, doch sieht es bei erstem Betrachten eher so aus, als wäre sie geknebelt. Der Knauf des Schwertes, der zwischen den Beinen des Mannes herausragt, hat phallische Form. Das Blatt hat somit eindeutig sadistische Züge, wobei offenbleibt, ob die Erregung des Mannes durch den verübten Mord hervorgerufen wurde oder von der Frauenleiche, wodurch sich noch zusätzlich eine nekrophile Deutung aufdrängt.

Betrachten wir nun das offizielle Ölgemälde (Abb. 7): Das Schwert lehnt an der Wand, die Brustwunde der Frau ist durch eine Locke verdeckt, die Binde verdeckt nur noch ihre Augen. Kaum mehr etwas von der sadistischen Erotik ist übriggeblieben; dennoch vermochte dieses Gemälde immer noch einen solchen Reiz auf Lord Byron auszuüben - wohl wegen des herausfordernen Blicks, der nichts von Schuld wissen will - , daß Byron wochenlang nach dem literarischen Ursprung suchte, bis Füssli ihm seine eigene Urheberschaft gestand. (Vgl. Schiff,S.99)

An diesem Beispiel konnte sehr gut gezeigt werden, daß Füssli sich wohl bewußt war, wie weit er in seiner offiziellen Produktion gehen konnte, ohne einen Skandal hervorzurufen.

Hoffmann weist darauf hin, daß Füssli dem Ezzelin die gleichen Gesichtszüge gegeben hat wie sich selbst in seinem Selbstbildnis von 1777 (Abb. 8). Damit setzt er sich mit Ezzelin gleich.

Wenden wir uns nun Füsslis berühmtesten Gemälde zu, der Nachtmahr (Abb. 9). Ein Mädchen liegt auf dem Rücken, der Kopf und die Arme hängen vom Bettrand herab - eine Haltung der äußersten Hilflosigkeit, des völligen Ausgeliefertseins. Auf ihrem Bauch sitzt ein affenähnlicher Alp, der den Betrachter herausfordernd anstarrt, während ein Geisterpferd mit blinden Augen die Bettvorhänge beiseite schiebt. Das Mädchen ist eindeutig das Opfer, wie auch Meduna Opfer ist. Dennoch sieht Virginia M. Allen bereits Züge einer Femme Fatale in ihr: "her fainting face, the humid atmosphere, the flowing hair. If the painting is turned sideways (...), she takes up a remarkabale similarity to Munch's later Madonna" Als Füsslis Inspirationsquelle macht Allen Berninis Die Vision der Heiligen Theresa (Abb. 10) aus. "The nearly closed, uprolled eyes, the slightly parted lips, and complete abandon of the body in Fuseli's work bear rather more resemblance to Bernini's saint, fainting in a rapture that is clearly physical, than to a work of classic repose." Kennzeichnend für das Werk Berninis ist jene Mischung von Lust und Schmerz, die sich auch in vielen Werken Füsslis findet, und die er in seinen Vorlesungen bei der vernichtenden Absage an die Martyrien so vehement kritisiert. (Vgl. Kapitel 4)

Auf der Rückseite des Bildes findet sich ein Portrait einer bemerkenswerten Frau, in der die Forschung die Darstellung Anna Landolts vermutet (Abb. 11). Füssli war wohl heftig in sie verliebt, hat sich aber diese Bindung durch einen gleichzeitigen Flirt mit Magdalena Schweizer-Hess, der Frau eines Freundes, verscherzt. Schiff schließt daraus auf Füsslis tiefverwurzelte Bindungsangst (Vgl. Schiff,S.86), denn nie erschien dem Künstler die Geliebte begehrenswerter als wenn er weit von ihr entfernt war. Janson erörtert die Möglichkeit, daß "Füssli auf das Thema des Alpdrückens verfallen sein, weil er sich vorgestellt habe, seine Eifersucht und seine unerfüllte Begierde suchten die Verlorene in Gestalt des bösen Traumes heim." (Ebd.,S.154) Also wären die zwei Bilder wie die Vor- und Rückseite einer Medaille. Auf der einen Seite stellt Füssli die junge Frau dar, wie er sie kannte, wie sie ihm vermutlich Angst einjagte, denn sie erscheint als starke Frau, die durchaus weiß, was sie will. Auf der anderen Seite zeigt er sie gequält von seinen Phantasien (oder sind es ihre eigenen Phantasien?). Dennoch ist die Femme Fatale in ihr immer noch erkennbar.

Der österreichische Künstler Alfred Hrdlicka hat sich in seinen Zeichnungen zu Blake und Füssli auch der Nachtmahr-Thematik angenommen. In seinen Variationen steigert er die bereits bei Füssli angelegte erotische Verfolgungsphantasie ins Pornographische (Abb. 12).

Die Frau erscheint als phantasiertes Lustobjekt der sie bedrängenden und begehrlich beobachtenden Männer. Sie kann aber auch als Opfer des eigenen Abwehr- und Verdrängungsmechanismus aufgefaßt werden, das von seinen unerwünschten sexuellen Phantasien und Wunschvorstellungen, der Rückkehr des Verdrängten eingeholt und überwältigt wird.

So wie den Nachtmahr können wir nun auch das vorher betrachtete Bild in Füsslis konkrete Lebenssituation einordnen. Wenn sich in dem einen Füsslis Vorstellung zeigt, wie die Geliebte von seiner Eifersucht und Begierde gequält wird, so kann sich in dem anderen Bild, in dem er sich mit Ezzelin gleichsetzt, der Wunsch nach Mord ausdrücken. "Im Bild formuliert Füssli in effigie die radikalste Antwort auf die ihm im Leben zugefügte Enttäuschung, er stellt die letzte Konsequenz der Trennung, die Tötung des Partners dar."

Die Frau als grausame Quälerin

Die Femme Fatale, die erotisch-grausame Frau, ist eines der häufigsten Bildthemen in Füsslis Werk. In seinen Illustrationen zum Nibelungenlied, zu historischen Stoffen oder zur Bibel, wählt er oft Szenen aus, die einen Mann zeigen, der von einer Frau gequält oder sogar getötet wird. Darf man Allen glauben, so ist Füssli der erste, der Salome als erotische Bacchantin interpretiert und damit eine neue Bildtradition beginnt, die ihren Höhepunkt in Moreaus berühmtem Gemälde Die Erscheinung findet. Auch Kriemhilt und Brunhild stellt Füssli als Femmes Fatales dar. Er ist der einzige Illustrator des Nibelungenlieds, der sich den gefesselten, von der Decke hängenden Gunther als Sujet wählt. Auffallend ist der Kontrast zwischen einem nackten Mann, der völlig hilflos einer gutgekleideten Frau ausgeliefert ist (Abb. 13). In Hrdlickas Variation ist es Füssli selbst, der als Gunther an der Decke hängt und von einer riesigen Brunhilde gezüchtigt wird (Abb. 14). Damit unterstellt Hrdlicka eine Identifikation von Füssli mit den gequälten Männern in seinem Werk, was durchaus wahrscheinlich ist, wie wir am Beispiel von Ezzelin gesehen haben. Auch Füsslis Gemälde Dalila besucht Samson im Gefängnis zu Gaza (Abb. 15) kontrastiert einen nackten Samson mit geschorenem Schädel mit einer bekleideten, höhnisch blickenden Dalila, die ihre Haare exzentrisch frisiert hat.

In Füsslis inoffizieller Produktion erscheinen die Frauen noch grausamer und vor allem besteht ein starker Zusammenhang zwischen der Grausamkeit der Frau und der Lust des Mannes, die in den offiziellen Gemälden so nicht sichtbar ist. Eine seiner Zeichnungen aus der römischen Zeit (Herrin und Sklave, Abb. 16) zeigt einen ithyphallischen, nackten Mann, hinter dem eine gekleidete Kurtisane mit hochgetürmtem Haar steht, die ihm den Kopf durch Druck auf seinen Kehlkopf weit nach hinten beugt. Wie auch bei den in Kapitel 6.1. betrachteten Bildern ist der zurückgebogene Kopf eine Geste des Ausgeliefertseins. Der Mann scheint diese Qual jedoch zu genießen. Auffällig ist das aufgetürmte Haar der Kurtisane, das sie noch mächtiger und eindrucksvoller erscheinen läßt.

Im Laufe seines Lebens bekommen Füsslis Kurtisanen immer exzentrischere Frisuren. Locken ähneln Weinlaub, was die Frauen in die Nähe von Mänaden rückt. Oft steckt eine spitze Haarnadel im Haar. Gert Schiff sieht in Füsslis Haarfetischismus im Sinne der Psychologie nach Freud einen "ungelösten Konflikt zwischen Unterwerfungsverlangen und Agression". Dies zeigt sich deutlich an der Zeichnung Weibliche Grausamkeit (Abb. 17). In der unteren Hälfte ist ein Brunnen dargestellt, aus dem sich eine Männerhand hilfesuchend nach oben streckt. Eine Frau hält dem Mann spielerisch-grausam ihren sehr langen Zopf hin, seinen Fetisch, ohne daß er ihn ergreifen kann. Dreht man das Blatt jedoch um, so erscheint eine späte Variante des Ezzelin-Meduna-Themas. Diesmal ist der Mann der grausame Töter, dem die Frau hilfesuchend die Hand entgegenstreckt.

Auf einigen Blättern zeichnet Füssli Kurtisanen mit Nadeln oder anderen spitzen Gegenständen. Was sie eigentlich tun, kann man nie genau erkennen (Abb. 18). Schiff deutet diese Szenen als Kastrationsszenen. Für diese Deutung spricht, daß Füssli selbst in seinem Aphorismus 226 den Zusammenhang zwischen starken Frauen und Kastration anspricht. "In an age of luxury women have taste, decide and dictate; for in an age of luxury woman aspires to the functions of man, and man slides into the offices of woman. The epoch of eunuchs was ever the epoch of viragoes."

Die Zeichnung Frau mit exzentrischer Frisur zeigt eine Kurtisane, die eine Haarnadel im Mund hat (Abb. 19). Der Kinderkörper, den sie im Arm hält, ist kaum erkennbar. Doch Füssli hat sie in griechischer Schrift als Knabenmörderin gekennzeichnet, ein in der Literatur der Medea verliehener Name. Die Frauen auf Füsslis Zeichnungen quälen also den Mann, verstümmeln oder töten ihn.

Außer seinen offiziellen Bildern, auf denen Femmes Fatales auftauchen, und den privaten Kurtisanenbildern, sind vor allem noch Füsslis Portrais seiner Frau interessant. In den ersten Ehejahren zeichnet der fünfzigjährige Füssli seine um vieles jüngere Frau sehr oft. Dabei legt er vor allem Wert auf die genaue Wiedergabe ihrer Frisuren, die sie sich immer mit der Mode gehend machen ließ. Zeichnet er sie am Anfang noch als junges, schwärmerisches Wesen, so bekommt sie im Laufe der Ehe immer dominierendere Züge. Immer selbstbewußter und herausfordernder wird ihr Blick. Auf einer Zeichnung stellt Füssli sie vor einem Kamin sitzend dar. Über dem Kamin thront ein Relief der Medusa, die eindeutig Sophia Fuselis Züge trägt (Abb. 20).

Noch weiter geht Füssli in einer Zeichnung von 1798 (Abb. 21). Edward Lucie-Smith hat diese Zeichnung ausgewählt, um Füsslis "obsession with female dominance" zu zeigen. Die eindrucksvolle Gestalt ist sich ihrer sexuellen Ausstrahlung wohlbewußt und geizt nicht mit ihren Reizen. Die beiden Dienerinnen, die ihr zu Füßen sitzen, sind unnatürlich klein und, ganz gute Hausfrau, bereit, jeden Wunsch zu erfüllen. Sowohl die dominierende Hausfrau als auch die kleine Dienerin, die ihr Gesicht dem Betrachter zuwendet, ist eine Verkörperung von Füsslis Gattin. In diesem Bild zeigt sich somit Füsslis ambivalente Haltung seiner Frau gegenüber, die er sich einmal als gehorsames Hausmütterchen wünscht, die ihn aber auch als selbstbewußte Virago fasziniert und erschreckt. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß einige der späteren Kurtisanenbilder eindeutig Frau Fuselis Züge haben. Zum Abschluß dieses Kapitels wollen wir noch ein frühes Werk Füsslis betrachten, in dem er sogar die Allegorie der Malerei als eine, ihn grausam quälende, Frau darstellt (Abb. 22). Dem zusammengekauerten Künstler wird von einer kräftigen Frau mit entblößter Brust der Schädel aufgemeißelt. Die Frau ist durch die Mundbinde eindeutig als Pictura gekennzeichnet, die stumme Poesie im Sinne Simonides'. Neben der allegorischen Deutung dieser Szene, die Schiff gibt (S.459), wirft diese Zeichnung auch Licht auf das Verhältnis Füsslis zur Malerei. Wie von den Frauen in seinem Leben, in seinem Werk wird er von ihr gequält, sein Innerstes in seiner Kunst preiszugeben, in Schmerz und in Lust.

Zusammenfassung

Nun, da wir Füsslis theoretisches Konzept und sein Werk unter verschiedenen Aspekten beleuchtet haben, fällt auf, daß sich zwei Arten von Widersprüchen ergeben. Einmal die große Diskrepanz zwischen Theorie und Werk, und zum zweiten die Brüche innerhalb seines Theoriesystems.

Füsslis Kunsttheorie wird im Laufe seines Lebens immer konservativer. In seiner Jugend fordert er die Loslösung der Künste von Religion und Moral; im Alter dagegen will er die Kunst in den Dienst der Religion stellen. Die Künstler sollen in ihren Werken das Leben und die Taten Christi verherrlichen und dadurch den Glauben der Gemeinde stärken. Dies fordert ein Mann, der in seiner Kunst kaum je Sujets aus der Bibel wählte, ja, der die Darstellung Christi, wenn möglich vermeidet und stattdessen, Byron und Shelley vorwegnehmend, Satan zum Helden seiner Milton Gallery macht. Seine Kunst wird im Alter eher noch grausamer und unmoralischer, vor allem in seiner inoffiziellen Produktion, von der jedoch seine Frau nach seinem Tod viel vernichtet hat. Dadurch vertieft sich die Spaltung zwischen Theorie und Werk noch mehr. Am Ende seines Lebens stürzt er sogar sein großes Vorbild Michelangelo, von dem sein Werk unverkennbar beeinflußt ist und den er in seiner zweiten Ode an die Kunst Gott gleichsetzt, zu Gunsten einer radikalen Verherrlichung der Antike. Aus der großen Diskrepanz zwischen Theorie und Werk ergeben sich wohl auch die Brüche innerhalb von Füsslis Theoriesystem. Der auffälligste ist sein Beharren auf dem Vorrang des Ausdrucks vor der Schönheit. Dies entspricht seiner eigenen Kunst, steht aber in großem Widerspruch zur klassizistischen Konzeption seiner Vorlesungen.

Wie kann man den klassizistischen Charakter seiner Vorlesungen erklären und damit die Diskrepanz zum Werk Füsslis?

Schon vor Antritt seines Amtes als Professor of Painting meinte Füssli zu Farington, wer erwarte, er werde die Studenten im Sinne seiner eigenen Kunst unterrichten, werde enttäuscht werden. (Vgl. Schiff, S.245) Dies hat sicherlich auch politische Gründe. Füssli hatte das Akademiewesen in seiner Jugend strikt abgelehnt, doch nun war er verheiratet, hatte einen eigenen Hausstand gegründet und brauchte dringend Geld, da ihn der Mißerfolg der Milton Gallery an den Rand des finanziellen Ruins gebracht hatte. Vielleicht liebäugelte er auch damals schon mit der Stelle als Keeper, die er 1804 auch bekam. All das mag ihn bewogen haben, sich in vielem seinem Vorgänger Reynolds anzuschließen.

Es ist auffällig, daß er gerade über die Künstler und Stilrichtungen wettert, die ihn, nach Meinung seiner Zeitgenossen, aber auch der heutigen Kunstgeschichte am meisten beeinflußt haben, zum Beispiel der italienische Manierismus und Künstler wie Salvator Rosa. Wollte er die Originalität seines Stils nicht in Zweifel ziehen lassen? Oder wehrte er sich unbewußt gegen jede Art von Vorbild?

Vielleicht waren es auch pädagogische Erwägungen, wie Schiff meint (S.245), die ihn veranlaßten, seine Neigung für das Bizarre und Düstere zu unterdrücken, und die Studenten dazu anzuhalten, nur den höchsten Werten nachzueifern. Wollte er seinen Studenten die Kämpfe, die er innerlich focht, ersparen?

Einer der wichtigsten Gründe für den klassizistischen Charakter seiner Vorlesungen ist wohl die unbewußte Abwehr seiner erotischen Zerrissenheit zwischen Agression und Unterwerfung, die sich in seiner Kunst zeigt. Kommt er in seinen Vorlesungen zu einer Äußerung, die an dieses Unbewußte rührt, so fängt er an zu schimpfen oder äußert heftige Gefühle, zum Beispiel in der vehementen Ablehnung der Martyrien und ihrer Mischung aus Lust und Schmerz.

Füssli war in seiner Kunst radikal modern, da er vielleicht der erste war, der eine bildliche Darstellung von Alpträumen und anderen Äußerungen des Unbewußten versucht hat. Dazu sagt er in Aphorismus 231: "One of the most unexplored regions of art are dreams, and what may be called the personification of sentiment."

In seiner Theorie vollzieht Füssli eine bewußte Wendung vom Stürmer und Dränger zum Konservativen, doch in seinem Werk ist er sich immer treu geblieben. Ihm gelang es, seine innere

Zerrissenheit in seinem Werk darzustellen und dadurch große, weil durch und durch ehrliche, Kunst zu schaffen. Und mag er auch in seiner psychologischen Disposition ein pathologischer Fall gewesen sein, so war es ihm wohl gerade dadurch möglich, ein genialer Künstler zu sein. Ist es da nicht egal, wie seine psychische Veranlagung war, ob er latent homosexuell war, wie Ganz meint oder gefühlskalt wegen des frühen Todes seiner Mutter, der im übrigen gar nicht so früh war, wie Schiff meint? (Vgl. Schiff, S.219)

"Ask not - Where is fancy bred? in the heart? in the head? how begot? how nourished?" (Aphorismus 49)

[1996]

Literatur
Allen, Virginia M. The Femme Fatale: Erotic Icon. New York, 1983.
Antal, Frederick. Füssli Studien. Dresden, 1973.
Ganz, Paul. Die Zeichnungen Hans Heinrich Füsslis. Bern-Olten, 1947.
Gorsen, Peter. "Blake, Füßli, Hrdlicka: ein Diskurs zwischen Kunst und Sexualität. In: Alfred Hrdlicka. "Blake und Füßli". 47 Zeichnungen. 2. September -31. Oktober 1983, Frankfurt. Hrsg. von Peter Gorsen. Frankfurt, 1983. S.5-11.
Hofmann, Werner. "Ein Gefangener". In: Johann Heinrich Füssli: Kunst um 1800. Hamburger Kunsthalle, 4. Dezember 1974 -19.Januar 1975. Hrsg. von Werner Hofmann. München, 1974. S. 41-54.
Knowles, John. The Life and Writings of Henry Fuseli. The former written, and the latter edited by John Knowles. 3 Bde. New York u.a., 1982. (Nachdruck von 1831).
Lessing, Gotthold Ephraim. "Laokoon oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie". In: Sämtliche Schriften. Bd. 9. Stuttgart, 1968. (Nachdruck von 1898).
Lucie-Smith, Edward. Sexuality in Western Art. London, 1991.
Schiff, Gert. "Füssli, Luzifer und die Medusa". In: Johann Heinrich Füssli: Kunst um 1800. Hamburger Kunsthalle, 4. Dezember 1974 - 19. Januar 1975. Hrsg. von Werner Hofmann. München, 1974. S.9-22.
Schiff, Gert. Johann Heinrich Füssli: 1741-1825. 2 Bde. Zürich, 1973.
Schmidt, Jochen. Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd 1. Darmstadt, 1988.


Hinweise
Bettina Sorge: Die Stimme bei Joseph Conrad, dargestellt am Beispiel von "The Nigger of the Narcissus", "Heart of Darkness" und "Typhoon"
Bettina Sorge: Tod Trauer Ritual